Meine Schwester hat bei mir übernachtet. Chaos, Spaß und viel Wein. Der Wecker klingelt, ich hab Kopfweh und ich weiß wieder, warum ich Montage so hasse. Nach einem schnellen Kaffee im Stehen machen wir uns auf den Weg zum Bahnhof. Meine Schwester hat ein Vorstellungsgespräch, Architektin ist sie. Hätte sie mal was Ordentliches gelernt, dann müsste sie sich nicht immer noch mit Studentenjobs quälen. Aktuell arbeitet sie in einem kleinen Kino, dass sich aus mir unerklärlichen Gründen noch über Wasser hält. Sie spielen dort keine guten Filme, sie haben keine Popcorn und schon gar keine angenehmen Sitzgelegenheiten. Mir egal. Heute hat meine Schwester wieder die Chance auf ein neues Leben, endlich Geld, endlich beruflich Zeichnen, endlich kreativ sein müssen, endlich zahlt sich das Studium aus.

Am Bahnsteig treffen wir meine üblichen Öffi-Kollegen die sich wie wir daran erinnern, wie schön das Wochenende war und wie unangenehm Montage sind! Meine Schwester kommt mich nicht oft besuchen, aber wenn sie in meine kleine Wohnung kommt, dann meist für mehrere Tage. Sie mag keine öffentlichen Verkehrsmittel, manchmal habe ich sogar das Gefühl, sie mag keine Menschen. Wir setzen uns zu einer jungen Schülergruppe ins Abteil, mit der Hoffnung hier von großen Diskussionen verschont zu bleiben. Mein Kopfweh ist schon etwas besser und ich freue mich über die entspannte Zugfahrt. Meine Schwester sitzt neben mir und lernt für ihr Bewerbungsgespräch: Daten und Fakten über das Unternehmen, ihre eigenen Stärken sowie Schwächen.

Die Jugendlichen unterhalten sich über das vergangene Wochenenede und was sie nicht alles erlebt haben. Sie reden von wilden Partys, schönen Menschen und viel Spaß. Ich genieße es, die Unterhaltung zu belauschen. Die Schüler sind so unbekümmert, fröhlich und unbelastet. Sie lästern über Lehrer, Mitschüler, Eltern. Plötzlich erzählt ein Schüler über einen Streit seiner Eltern, einen heftigen Streit. Gewalt wäre in seiner Familie verpönt, trotzdem spricht er ganz offen mit seinen Freunden über die Diskussionen und lauten Gespräche seiner Erziehungsberechtigten, er gibt seinen Tränen keine Chance und unterdrückt seine Wut + Angst. Der Schüler ist sich unsicher, ob sein Vater seine Mutter schlägt oder umgekehrt. Aber beide hätten in letzter Zeit auffällig viele blaue Flecken. Es ist erkennbar, dass das seine größte Belastung ist - er will dass niemand leidet, er will dass alles so bleibt wie es ist und er will dass seine kleine Schwester nichts vom Streit mitbekommt. Seine Mutter hat die Nacht von gestern auf heute gar nicht mehr im Familienhaus verbracht, sie hat anscheinend bei der Großmutter übernachtet. Ob das stimmt, will ein Freund wissen. Der Junge ist sich unsicher, er habe am Wochenende die Aussagen seiner Eltern von den letzten Tagen noch einmal überdacht - er gehe davon aus, dass seine Familie nur noch eine reine Lüge sei. Die anderen Schüler trösten ihn mit lieben Worten und einem "hey, das wird schon wieder, mach dir nicht zu viele Sorgen." Da erkenne ich wie stark die Jugendlichen bereits sind, wie wichtig sie für einander sind und wie oft Freundschaften Familien bereichern bzw. vielleicht sogar ersetzen können.

Ich denke an meine Familie, meine Schwester sitzt neben mir, sie studiert immer noch ihre Unterlagen. Unsere Eltern sind bereits seit 30 Jahren verheiratet, ob sie immer miteinander glücklich waren bezweifle ich stark. Aber sie haben stets zusammengehalten. Nicht in jeder Hinsicht sind meine Eltern ein Vorbild, aber wenn es um ihre eigene Beziehung geht schon. Sie haben mir und meinen Geschwistern glücklich vorgelebt was es heißt sich für einander zu entscheiden.

Der Junge hat den Kampf gegen seine Tränen verloren, er weint. Die anderen sprechen ihm immer noch gut zu. Da erzählt ein Mädchen der Gruppe davon, dass sich ihre Eltern bereits vor fünf Jahren scheiden haben lassen. Es sei eine harte Zeit, sagt sie. Aber es geht. Irgendwann akzeptiert man, dass sich die Eltern nicht mehr mögen, nicht mehr miteinander leben wollen. Auch wenn es als Kind nicht nachvollziehbar ist und man alles dafür tun will - dass die Familie unverändert bleibt, ist es doch leichter eine Niederlage zu verkraften, als sich ständig in einem aussichtslosen Kampf zu befinden.

Der Zug fährt in den Bahnhof ein, meine Schwester und ich steigen aus. Ich erzähle ihr vom Gespräch der Jugendlichen und wie tapfer ich die Schüler finde, wie toll, dass sie sich so gut zureden können. Meine Schwester lächelt mich an und erzählt mir, dass sie kein einziges Wort in ihren Bewerbungsunterlagen gelesen hat - denn sie war mit Kopf und Herz bei den jungen Menschen. Mit dem Gedanken bei unseren Eltern verabschiedenen wir uns voneinander. Auf dem Weg ins Büro wünsche ich ihr noch viel Glück beim Gespräch - sie hat den Job [...] !!

4
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

siba2806

siba2806 bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:54

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:54

Naladin

Naladin bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:54

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:54

4 Kommentare

Mehr von MarieGrün