Wie mich die herrschenden Verhältnisse unversehens zur Partei machten

Nachdenken über den Krieg in der Ukraine

Selten ist es mir so schwergefallen, einen Text zu beginnen, wie diesmal. Im Versuch einzuschätzen, was da gerade in der Ukraine passiert und was das für mich, meine Umgebung, vor allem aber die Menschen in den umkämpften Gebieten bedeutet, wurde mir bewusst, dass ich mich diesmal nicht in die Position des scheinbar unbeteiligten Beobachters zurückziehen kann. Dieser Krieg betrifft auch mich unmittelbar. Ich kann mich nicht entziehen, ich bin Partei und fühle mich also zur Parteinahme verpflichtet.

Zugleich war es noch nie so schwer wie in diesen Zeiten einer umfassenden Propaganda-Politik auf allen Seiten noch zu schlüssigen Einschätzungen kommen. Die Lage zu interpretieren oder gar mehr als von der Angst getriebene Schlüsse zu ziehen, was da noch alles kommen würde, scheint weitgehend illusorisch.

Zurecht hat also der Falter Herausgeber Armin Thurnher die Frage verhandelt, „wie sich über diesen Krieg überhaupt reden lassen“ würde. Er zitiert dabei Hannah Arendts Auftrag, zu einem „reflektierten Urteil“ zu kommen und damit den Anspruch einzulösen, auch in noch so verunsicherten Zeiten „das Richtige vom Falschen, das Schöne vom Hässlichen zu unterscheiden“, in der Hoffnung, damit beizutragen, das Äußerste zu verhindern. Weil das Äußerste wieder möglich, ja sogar wahrscheinlich geworden ist, in der Ukraine, in Europa, in der ganzen Welt.

Das Undenkbare ist Realität geworden – Die Kriegsangst geht um in Europa

Zuletzt sind jede Menge an klugen Kommentaren erschienen, die allesamt auf die Einschätzung hinauslaufen, beim Kriegsgeschehen in der Ukraine handele es sich nicht nur um ein lokales Ereignis, sondern um einen Anlassfall, die bestehende Weltordnung noch einmal ganz grundsätzlich zu überdenken (Soweit ich mich erinnere, sehr zum Unterschied zu den Kriegshandlungen im auseinanderfallenden Jugoslawien, das noch als ein lokales Ereignis abgetan werden konnte. Selbst dann noch, als sich mehrfache Genozide wie der Massaker in Srebrenica oder im Zuge der mehrjährigen Einkesselung Sarajevos abzeichneten). Vorab ist allen der Befund gemeinsam, dass es sich bei den aktuellen Kampfhandlungen um einen aggressiven Akt Russlands gegenüber seinem souveränen Nachbarland Ukraine handelt und damit um einen eklatanten Bruch des Völkerrechts zu Lasten der Zivilgesellschaft, die zu Millionen aus dem Land flüchtet, um seiner massenhaften Ermordung zu entgehen. Dabei beschränkt sich das ukrainische Militär bis dato ausschließlich auf Verteidigungshandlungen; ukrainische Invasionskräfte in russischem Hoheitsgebiet sind bislang nicht gesichtet worden.

Die internationale Staatengemeinschaft verurteilt den Angriff mit ganz wenigen Ausnahmen. Trotzdem halten sich NATO und andere für die Ukraine Partei ergreifende Länder zurück und beschränken ihre Unterstützung auf Wirtschaftssanktionen, darüber hinaus auf Waffenlieferungen (in der Regel aus alten beständen), den Einsatz privater Söldner und wohl auch verdeckter (Beratungs-)Dienstleistungen. Während die NATO 1999 noch aktiv in Serbien interveniert hat wird – jedenfalls bislang die Gefahr als zu groß eingeschätzt, im Fall einer direkten militärischen Involvierung eine unbeherrschbare Ausweitung der Kriegshandlungen auszulösen.

Über die russischen Kriegsziele kursieren vielfältige Mutmaßungen. Nachdem es der russischen Armee nach dem 24. Februar nicht gelungen ist, einen Blitzsieg zu erzielen und die Ukraine handstreichartig zu übernehmen, überwiegen jetzt die Vermutungen, dass sich das russische Regime zumindest mittelfristig mit einer umfassenden Entmilitarisierung und Teilung des Landes samt unmittelbarer Einflussnahme Russlands auf den Osten und Süden des Landes zufrieden geben könnte. Erste diplomatische Verhandlungen unter der Führung der Türkei laufen. Ebenso möglich aber erscheint ein dauerhafter Stellungskrieg, der bestenfalls auf eine Zermürbung der militärischen Kräfte und den verbliebenen Teilen der zivilen Bevölkerung samt ihren Unterstützer*innen hinauslaufen soll.

Die fatale Weigerung, sich mit Option eines Krieges auseinander zu setzen

Das Kriegsgeschehen ist Mitteleuropa seit dem Auseinanderfall Jugoslawiens nicht mehr so nahe gerückt (Bundeskanzler Nehammer weist gerne darauf hin, dass der Westen der Ukraine Wien näher liegt als Bregenz. Eine diffuse Angst breitet sich aus. Da ist zum einen die schiere Tatsache seiner scheinbaren Unvorhersehbarkeit. Als bereits 120 000 Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze zusammengezogen waren, wollte man sich mit dem erwartbaren Kriegsszenario nicht auseinandersetzen. Von weit links bis weit rechts stimmte man darin überein, dass Russland bloß bluffen würde und kein Interesse an einem Krieg hätte, um sich nochmals beruhigt zurückzulehnen. Es wären ausschließlich die Amerikaner*innen, die einen Angriff herbeireden würden (In der Tat waren es am Ende die US-amerikanischen Geheimdienste, die den Ausbruch der Aggressionshandlungen fast auf den Tag genau vorauszusagen vermochten).

Wir hätten es besser wissen können – Die Analysen verstaubten in den Bücherregalen

Darüber hinaus können wir jetzt einen riesigen blinden Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung feststellen. Ja, wir haben 2015 von der Besetzung der Krim erfahren. Und auch von den verdeckten, von Russland geschürten Kriegshandlungen in Teilen des Donbass. Um dann nur zu schnell wieder zur Tagesordnung zurückzukehren, auf der die Ukraine trotz seiner Größe, die uns erst jetzt bewusst wird, weiterhin bestenfalls einen Randplatz eingenommen hat. Und doch fallen mir jetzt Lektüren in die Hände, die allesamt Klartext darüber reden, wohin die Entwicklung in der Region spätestens seit 2015 hingesteuert hat.

So hat die ARD Moskau Korrespondentin Golineh Atai in ihrem Band „Die Wahrheit ist der Feind“ bereits 2019 eine Analyse der russischen Politik vorgenommen, die geradlinig auf das Szenario vom 24. Februar 2022 hinausläuft. Und auch der Historiker Karl Schlögel hat mit seinen ukrainischen Städteportraits „Entscheidung in Kiew – Ukrainische Lektionen“ bereits 2015 die Gefahren einer Eskalation der Aggressionen vor allem im Osten und im Süden der Ukraine benannt. Ähnliches lässt sich zum Reisebericht des Tagesspiegel-Journalisten Jens Mühling mit dem Titel „Schwarze Erde“. Neben den Gefahren des Wiedererstarkens eines russischen Dominanzanspruchs über eine der wichtigsten ehemaligen Sowjetrepubliken wurde mir bei diesen Lektüren vor allem das unermessliche Leiden der Ukraine bei der Durchsetzung eines Anspruchs auf nationale Eigenständigkeit bewusst. Zum Vorschein kam ein auf immer neue Weise fremdbestimmtes Territorium im Osten Europas, das von mannigfachen Besetzungen, Teilungen, vor allem massenhafter Diskriminierung und Ermordung der in diesem Territorium Lebenden geprägt ist. Und dessen Bewohner*innen zudem versagt worden ist, über eine eigene Geschichte zu verfügen, die über den Charakter eine selbstverschuldeten Leidensbewegung hinausweist. Zeitgleich mit dem Ausbruch der Kriegshandlungen widmeten sich die „Blätter für deutsche und internationale Politik“ einem Ukraine-Schwerpunkt, der aus ganz unterschiedlichen geostrategischen, politischen, ökonomischen aber auch kulturellen Blickwinkel den Konflikt einzuschätzen versucht.

Die Wiederauferstehung des russischen imperialen Anspruchs

Über Wladimir Putins imperiale Absichten, in die sich die Ukraine vorbehaltlos einfügen soll, ist zuletzt viel nachgedacht worden. Ganz offenbar tritt hier noch einmal ein autoritärer Führer auf, der für sich beansprucht, auf der politischen Bühne ernst genommen zu werden. Für selbst gut informierte Beobachter*innen kam dieser, nunmehr mit kriegerischen Mitteln erneuerte Anspruch insofern überraschend, als sich in uns seit 1990 der Eindruck festgesetzt hat, mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums könne der Ost-West-Konflikt ein für alle Mal ad acta gelegt werden. Während Francis Fukuyama erfolgreich den dümmsten Satz der polit-ökonomischen Rhetorik über das „Ende der Gesichte“ in die Welt setzen konnte, stellte sich der Westen darauf ein, den ehemaligen Osten in das System der globalen Arbeitsteilung als Teil seiner Peripherie zu integrieren und damit dauerhaft zu befrieden. Dass in dieser Zeit mannigfache Konflikte im russischen Einflussbereich aufflammten (Sergej Lebedew gibt in seinem Beitrag „Nostalgie und Autoritarismus: Das toxische Erbe der Sowjetunion“ einen detaillierten Überblick: die gewaltsamen Konflikte reichen von Georgien, Tadschikistan, Armenien und Aserbeidschan, Tschetschenien, Südossetien und Inguschetien, Transnistrien bis zur Ukraine), blieb im Rahmen der Wiederauflage des Konzepts von „Wandel durch Handel“ eine mediale Randnotiz. Dabei wollte man offensichtlich schon aus wirtschaftlichem Interessen (Stichworte: Billige Rohstoffe aus Russland, wachsender Käufermarkt) das Aufkommen eines neuen russischen Autoritarismus so richtig ernst nehmen, der immer weniger Berührungsängste mit zaristischen und stalinistischen Vorbildern zeigen sollte (Ärgerlich genug, sich mit den Autoritarismus im eigenen Einflussbereich, von Donald Trump, Viktor Orbán, Marine Le Pen bis zu Hans Christian Strache reichend, beschäftigen zu müssen).

Und plötzlich stehen einander wieder zwei Imperien unversöhnlich gegenüber

Spätestens aber mit dem Ausbruch der staunend zur Kenntnis genommenen Aggression Russlands gegen sein westliches Nachbarland kommen wir um den Befund nicht mehr herum, dass hier zwei imperiale Ansprüche aufeinandertreffen, die sich in den letzten Jahren ideologisch mächtig aufmunitioniert haben. Aus den Nebeln des global-politischen Ränkespiels tauchen die Umrisse eines eurasischen Imperiums auf, das seine Identität aus dem Anspruch eines unbedingten kollektiven Zusammenhalts – religiös gestützt durch Spiritualität und Autoritarismus – schöpft. Und uns wird gewärtig, dass wir auf der anderen Seite stehen, damit Teil eines entgegengesetzt wirkenden imperialen Konzepts sind, das für sich beansprucht, die Welt mit Demokratie, Marktwirtschaft, Menschenrechten und Individualismus überziehen zu wollen. Aus nur zu verständlichen Gründen wird dieser Gegensatz von der gegenwärtigen ukrainischen Führung geschürt, wenn sie von sich behauptet, nicht nur das eigene Territorium, sondern die Werte des freien Westens zu verteidigen, um auf diese Weise die EU oder die NATO zum Eintritt in den Krieg zu bewegen (Dabei können all die autoritären Tendenzen, von denen auch die Ukraine nicht frei ist, unter den Teppich gekehrt werden. Nutznießer ist auch hier das russische Regime, das lustvoll auf dieses Versteckspiel hinzuweisen vermag).

Geopolitisch hat sich dazu zuletzt der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck sehr pointiert geäußert. Er misst den offensiv expansiven Bestrebungen des Westens (samt der in Aussichtstellung einer Teilnahme an gemeinsamen Verteidigungs- und Wirtschaftsbündnissen) eine beträchtlich Mitschuld an der Zuspitzung dieses neuen imperialen Konfliktes zu. Auch in seiner jüngst herausgebrachten Studie „Zwischen Globalismus und Demokratie“ analysiert Streeck die verhängnisvollen Wirkungen einer universalistischen Logik des Westens, der für sich mit Hilfe einer globalen Vermarktwirtschaftlichung beansprucht, früher oder später die Weltherrschaft zu erringen. Und doch spätestens mit diesem Krieg zuerkennen muss, dass es gerade dieser hegemoniale Anspruch ist, der Gegenkräfte freisetzt, die sich für eine Alternative stark machen (Dabei hätten ihre Apologet*innen schon anlässlich des Auftretens des IS erkennen können, dass dieses Dominanzverhalten nicht widerspruchslos hingenommen werden wird).

Ganz offensichtlich hat ein sich als Sieger des Kalten Krieges wähnender Westen Russland als verlässlicher Energielieferant nicht wirklich ernst genommen. Diverse Charmeoffensiven, die vor allem in Österreich auf fruchtbaren Boden fielen, taten ein Übriges, um in einem weitgehend mit sich selbst beschäftigten Russland keine allzu große Gefahr zu erkennen. Das gilt auch und ganz besonders für Österreich: Neben einer Reihe von prominenten Ex-Politiker*innen (Kathrin Kneissl, Wolfgang Schüssel, Christian Kern,….) waren es vor allem die Rechtspopulisten, die neue Allianzen anstrebten und sich damit (Stichwort: russische Kredite an politische Parteien) eine Stärkung ihres zerstörerischen Einflusses auf demokratisch verfasste Gesellschaften erhofften. Aber auch Äußerungen von führenden Vertreter*innen des politischen Establishments wie Wirtschafskammer-Präsident Christoph Leitl und Bundespräsident Heinz Fischer, die Wladimir Putin während eines Österreich-Besuchs mit lächelnder Miene die Führung einer „guten Diktatur“ konzedierten, haben nicht gerade zur Herausbildung eines kollektiv kritischen Bewusstseins beigetragen. Spätestens die Aussagen Donald Trumps als wichtigstem Vertreter des Freien Westens, der 2019 in Putin einen politischen Wahlverwandten und damit einen „Freund fürs Leben“ sah, hätte uns zu denken geben können.

Putin ist nicht verrückt, er ist ein Stratege, der ohne Skrupel seine Interessen durchsetzt

Das schleichend um sich greifende Gefühl, dass wir spätestens mit Kriegsausbruch Teil einer imperialen Inszenierung und damit Partei sind, wird auch nicht dadurch relativiert, dass Wladimir Putin zunehmend als geistesgestörter einsamer Führer vorgestellt wird, der sich eine Parallelwelt geschaffen hat, in dem ihm niemand mehr dreinzureden vermag. Was, wenn – wie jeden Tag deutlicher wird – der Präsident der Russischen Föderation einem gut durchdachten Drehbuch folgt, das er in den letzten Jahren mit seinen Getreuen sorgfältig entwickelt hat, um es ab dem 24. Februar ins Feld zu tragen? Und wir zugeben müssen, nicht gut genug hingesehen zu haben, welch weltpolitischer Konflikt sich hier sukzessive aufgebaut hat, ohne uns zumindest hellhörig zu machen?

Aus der Geschichte wissen wir, dass Kultur – einmal gegeneinander gerichtet – tödliche Wirkung entfaltet

Notgedrungen kommen mir an dieser Stelle Assoziationen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Thomas Mann veröffentlichte 1914 den Beitrag „Gedanken zum Kriege“, in dem er den Krieg als Befreiung beschreibt. Darin sah er Deutschland als das Land der Kultur schlechthin und damit als eine quasi naturgegebene hegemoniale Macht, die sich im Kampf gegen die westliche Zivilisation zu behaupten habe: „Politik…ist eine Sache der Vernunft, der Demokratie und der Zivilisation – und damit eine undeutsche Sache, weil das deutsche Volk eines der Metaphysik, der Pädagogik und der Musik sei.“ Mit diesen Zuschreibungen, die sich nur allzu leicht auf das gegenwärtige imperiale Selbstverständnis des offiziellen Russlands übertragen lassen, wird die Notwendigkeit einer „Entkulturalisierung“ des Krieges unabweisbar. Es ist die Kultur, die den Kampf um Macht und Einfluss zu einem quasi natürlichen, von Menschen unbeeinflussbaren Gegensatz macht und ihm die Schärfe der prinzipiellen Unversöhnlichkeit gibt. Allzu leicht vergessen werden dabei all die liberal-demokratischen Kräfte in Russland, die gegen den autoritären Herrschaftsanspruch ankämpfen. Aber auch die autoritären Kräfte, die in den letzten Jahren die liberal-demokratischen Verfassungen im Freien Westen zu unterwandern versuchen (und gerade in Ungarn wieder einen politischen Sieg errungen haben).

Warum wir jetzt besonders der Versuchung unterliegen, uns die Wertvorstellungen des Aggressors zu eigen zu machen

Angesichts der grassierenden Versuchung, sich in das oktroyierte Lagerdenken einzufinden, sehe ich eine besondere Gefahr, sich die Wertvorstellungen des Aggressors zu eigen zu machen und damit die Substanz dessen, was die Qualitäten liberaler Gesellschaften ausmacht, zu verraten. Immerhin gibt es in unseren „freien“ Gesellschaften kein größeres Gut als das der freien Meinungsäußerung, ungeachtet der Herkunft, Zugehörigkeit und Haltung. Gerade die Meinung des

Andersdenkenden müssen wir – sofern sie nicht strafrechtlich sanktioniert ist – aushalten, wenn wir selbst auch in Zukunft frei sein wollen. Russ*innen, die zur Zeit auf Grund ihrer sprachlichen und/oder ethnischen Zugehörigkeit pauschal diskriminiert werden, egal wie sie zu den Kriegshandlungen ihrer Regierung stehen, mutieren so rasch zum Lackmustest für den

Stand der „Verputinisierung“ der eigenen nationalen Gesellschaften.

Die Unterstützer*innen einer freien Ukraine konzentrieren sich zurzeit auf die Verhängung von Wirtschafts-Sanktionen. Die Grenzen zeigen sich spätestens mit dem Eingeständnis der weitgehenden Abhängigkeit des Westens von russischen fossilen Brennstoffen (die kurzfristig gar nicht und mittelfristig nur mit Hilfe anderer autoritärer Regime kompensiert werden können). Immer deutlicher zeichnen sich die Umrisse eines umfassenden Wirtschaftskrieges ab, bei dem sich Russland wesentlich besser als erwartet gerüstet zeigt. Mit der Hand am Gashahn ist die kriegsauslösende Partei jederzeit in der Lage, ihre Widerparts nachhaltig in eine wirtschaftliche Bredouille zu bringen und damit gesellschaftliche Verwerfungen in ungeahntem Ausmaß herbei zuführen (Zusammenbruch weiter Teile der energieabhängigen Wirtschaft, unbeherrschbare Preisanstiege, mehrstellige Inflationsraten, Verschärfung sozialer Ungleichheit, Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungstendenzen, Infrastellung der Leistungsfähigkeit parlamentarischer Demokratien….). Verschärft werden diese Unsicherheiten durch die Gefahr, dass der europäische Wirtschaftsraum mit diesem Konflikt zunehmend in die Mühlen der Auseinandersetzungen zwischen den USA und China geraten könnte, um seine Stellung als (noch) global wichtigste Wirtschaftsmacht samt damit verbundener dauerhafter Wohlstandseinbußen verlustig zu gehen. Das kollektive Gefühl wachsender Verunsicherung erhält jeden Tag neue Nahrung, wir stünden erst am Anfang einer Abwärtsspirale.

Die Kriegsereignisse in der Ukraine haben zu einer Massenflucht der Zivilbevölkerung geführt. Expert*innen erwarten mehr als 10 Millionen Geflüchteter und damit rund ein Viertel der Bevölkerung, das Schutz in den Nachbarländern suchen wird. Einige Millionen haben sich bereits auf die gefährliche Reise gemacht und werden auf der anderen Seite der Grenze (noch) herzlich willkommen geheißen. Umfangreiche Unterstützungsprogramme sind angelaufen, bürokratische Verfahren zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen bzw. zur Erwerbstätigkeit werden – wenn auch manchmal schleppend – vereinfacht.

Liegt die Bevorzugung Geflüchteter aus der Ukraine darin, dass man ihnen in besonderer Weise zutraut, „Europa gegen Nicht-Europa“ zu verteidigen?

Bei dieser kollektiven Hilfsbereitschaft tut sich immer wieder die Frage auf, was die Ukrainer*innen so kategorial von in Not geratenen Menschen aus anderen Weltgegenden unterscheidet. Bundeskanzler Nehammer hat sich sogar dazu entschlossen, nicht mehr von „Geflüchteten“, sondern von „Vertriebenen“ zu sprechen, um so die besondere Nähe zur österreichischen Bevölkerung zu betonen. Slavoj Žižek hat in einem Standard-Kommentar die Frage aufgeworfen. „Was es bedeuten würde, Europa zu verteidigen?“ Geht es nach ihm, dann wird hier ein weiterer imperialer Aspekt des Freien Westens deutlich, wonach es darum ginge, „Europa gegen Nicht-Europa“ zu verteidigen. Während offenbar politischer Konsens darüber herrscht, dass die ukrainischen Notleidenden in das eigene imperiale Konzept integriert werden können, bleiben Afghan*innen und Syrer*innen als „die anderen“ weiterhin außen vor. Ihnen bleibt die Freiheit, ohne effiziente Hilfeleistung im Mittelmeer zu ertrinken. Auch hier zeigt sich ungeschönt der Verrat von vorgeblich handlungsleitenden Wertvorstellungen des eigenen imperialen Handlungskonzeptes, dessen Bürokratien umstandslos zwischen Schützenswerten aus dem einen Land und Nicht-Schützenswerten aus einem anderen zu unterscheiden wissen. Und damit dem Fortbestand eines Neokolonialismus Tür und Tor öffnet, der sich bestenfalls alibihaft als humanitäre Hilfe verkleidet, jedenfalls solange es den eigenen imperialen Interessen dienlich erscheint.

Hurra, wir rüsten auf! – Erinnert irgendwie an das Hochgefühl von „Serbien muss sterbien!“

Zuletzt hat die Frage der Wehrhaftigkeit des ukrainischen Widerstands samt den dadurch verursachten Opfern besondere mediale Aufmerksamkeit erregt. Der Autor Franzobel hat sich in seinem Text „Lob der Feigheit“ aus der Deckung gewagt und bei aller Anerkennung des heroischen Mutes der ukrainischen Bevölkerung für eine Deeskalisierung des (von keiner Seite gewinnbaren) militärischen Konfliktes plädiert. Der Autor und Osteuropakenner Martin Pollack hat ihm dafür postwendend Schändlichkeit und Dummheit vorgeworfen und damit die Diskussion um eine Remilitarisierung der europäischen Gesellschaften eröffnet. Immerhin zeigt sich die Dramatik des von diesem Krieg verursachten Paradigmenwechsel u.a. dadurch, dass selbst Länder wie Deutschland von einem Tag auf den anderen eine massive Aufrüstung vorsehen und auch Österreich nicht nachstehen möchte. Da mag man sich schon die Augen reiben, wenn die Nachkommen sozialer Gruppen, die einst gegen jede Form der Militarisierung angetreten sind und das massenhafte Blutvergießen in Vietnam durch die USA angeprangert haben, sich jetzt für umfassende Aufrüstungsmaßnahmen aussprechen, wissend, dass diese Waffen irgendeinmal gegen sie selbst eingesetzt werden können.

Spätestens hier – ich muss es zugeben – endet meine Bereitschaft zur Parteinahme: Aus der eigenen (noch) sicheren Position anderen zu empfehlen, zur Waffe zu greifen, halte ich für menschenverachtend. Mehr noch, für unvernünftig, zumal sich die Friedensforschung immer wieder deutlich macht, dass mehr Waffen zu mehr Leid führen und nicht zur gewünschten Eindämmung von Gewalt. Dass die hochgerüstetste Armee der Welt in den letzten 20 Jahren von einer Niederlage in die nächste getaumelt ist, sollte uns sicher machen. Dass am Ende nicht die Waffen, sondern das (diplomatische Verhandlungsgeschick) über Sieg und Niederlage entscheiden, darauf hat zuletzt noch einmal Alexander Kluge mit seinem Beitrag „Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt“ hingewiesen.

Und doch gibt es vielleicht keinen überzeugenderen Beleg für die erneuerte imperiale Unterwanderung des Freien Westens, wenn seine Bevölkerung das Überhandnehmen seines noch vor wenigen Jahren heftig bekämpften „militärisch-industriellen Komplexes“ nicht mehr beeinsprucht und sich ausgerechnet von ihm noch einmal die Sicherheit verspricht, die zuletzt verloren gegangen ist. Da wird offensichtlich eine neue Phase einer globalen Weltordnung einläutet, in dem die Idee eines umfassenden Pluralismus an sein Ende kommt und unsere Loyalitäten auf Gedeih und Verderb gefordert sind. In der Ukraine verbliebene Künstler-Kolleg*innen, denen österreichische Kunstuniversitäten zuletzt Unterstützung angeboten haben, meinten dazu lapidar, das wäre jetzt keine Zeit für künstlerische Arbeit. Das einzige, was sie jetzt brauchen würden, wären Waffen, um in den Krieg zu ziehen.

Dazu mehr im nächsten Blog, der sich mit der Frage der Konsequenzen des Krieges auf den Kunstbereich beschäftigen wird.

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