Alles neu macht der Mai — Eine andere Zukunft des Kulturbetriebs ist möglich

Ein Symposiumsbericht von Michael Wimmer

Bereits zum zehnten Mal fand in diesem Mai an der Wiener Universität für angewandte Kunst ein Symposium zu aktuellen Fragen der Kulturpolitik statt. In den letzten Jahren haben die Teilnehmer*innen immer wieder den Versuch unternommen, dem, was Kulturpolitik in einer Zeit ausmacht, in der die Grundlagen unseres Zusammenlebens neu verhandelt werden, einen zeitgemäßen Inhalt zu geben. Themen waren das Verhältnis von Zentrum und Peripherie, der Aufstieg des autoritären Rechtspopulismus, die Auswirkungen wachsender sozialer Ungleichheit, Tendenzen der Entspezialisierung von Spezialist*innen oder der Übergang von der Repräsentation zur Kooperation.

Spätestens nach der Pandemie ist allen Akteursgruppen klar geworden, dass es nicht mehr möglich ist, einfach zur Tagesordnung der Prä-Corona-Zeit zurückzukehren. Stattdessen spricht fast alles dafür, die Weichen neu zu stellen, soll sich der Kulturbetrieb inmitten der wachsenden Krisenerscheinungen nicht schon bald irgendwo am Rande der Gesellschaft verlieren.

Als Ausgangspunkt diente den Organisator*innen des Symposiums der Umstand, dass auch in Österreich Gebietskörperschaften zuletzt verstärkt versucht haben, ihre Kulturpolitik strategischer auszurichten, um so nachvollziehbare Handlungsleitlinien zu erarbeiten. Diese – und das kann als Fortschritt gesehen werden – können freilich nicht mehr einseitig von oben verordnet werden, sondern bedürfen sorgfältig vorbereiteter und moderierter Aushandlungsprozesse mit allen Mitwirkenden am kulturellen Geschehen inklusive derer, für die die kulturellen Angebote erstellt werden. Beispielhaft wurde dies zuletzt im Rahmen der Entwicklung einer Kulturstrategie des Landes Steiermark versucht. Bereits zu Beginn hat die Kulturpolitikforscherin Anke Schad anhand des jüngsten Forschungsprojekts „AGONART“ darauf hingewiesen, dass das nicht ohne Konflikte abgehen kann, ganz im Gegenteil, dass unterschiedliche Positionen die Voraussetzung für das Aufbrechen erstarrter Strukturen inklusive der ihnen innewohnenden Ungleichheiten sind.

Dem trugen auch eine Reihe von „Streitverkündigungen“ Rechnung. Dazu waren Kolleg*innen mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen innerhalb des Kulturbetriebs eingeladen, in kurzen pointierten Statements ihre subjektiven Erfahrungen mit Kulturpolitik für die gemeinsame Diskussion aufzubereiten. Sie reichten von ganz persönlichen Berichten der Antragstellung bei Förderungen über Einschätzungen von anhaltend autoritären Führungsstrukturen, ethnisch-religiöse Diskriminierungserfahrungen aus feministischer Sicht bis hin zur Nutzbarmachung gesellschaftlicher Widersprüche für die eigene künstlerische Arbeit. Viele der Fäden konnten in der darauffolgenden Fish-Bowl-Diskussion aufgegriffen werden, die zum Ziel hatte, möglichst viele Teilnehmer*innen zu Wort kommen zu lassen, um deren Expertisen in das Gespräch berücksichtigen zu können.

Wenn in diesem Symposium viel von Strategie die Rede war, so warnte Björn Johannsen vor einer allzu oberflächlichen Verwendung des Begriffs, der ohne klare Zielsetzung, wohin die strategische Reise gehen soll, rasch ins Leere zu laufen droht. Das bestätigte die Frankfurter Kulturamtsleiterin Sybille Linke, die ihre Erfahrungen im aktuellen Kulturentwicklungsprozess in der Stadt, in der eine „Neue Kulturpolitik“ in den 1970er Jahren einen ihrer Ausgangspunkte genommen hat, einbrachte. Johannsen empfahl, Strategie nicht als eine Handlungsvorschrift, sondern als eine Fähigkeit zu denken, über die möglichst alle Teilnehmer*innen an diesen Entwicklungsprozessen verfügen sollten. Dabei setzte er ein neues Verb „strategieren“ in die Welt als eine Kompetenz, über die im Versuch, überkommende Hierarchisierungen zu überwinden möglichst alle Mitwirkenden am kulturellen Geschehen verfügen sollten.

In den nachmittäglichen Arbeitsgruppen rankten sich die Gespräche vor allem um Fragen der Relevanz, der Macht, der gewünschten Beteiligungsformen und der erhofften Wirkungen von Strategieprozessen. Auch wenn die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen keinerlei Repräsentativität für den österreichischen Kulturbetrieb beanspruchen konnte, so fiel doch auf, dass sich der kulturpolitische Diskurs nachhaltig geändert hat. Da waren kaum mehr Stimmen zu hören, die sich in Selbstdarstellung erschöpften und diese mit der Erwartung verknüpften, der Staat solle sich besser um sie kümmern. Stattdessen überwogen die Versuche, aus den bestehenden Closed-Shops auszubrechen, Grenzen zwischen den Genres und darüber hinaus zu überwinden, einander besser kennen zu lernen, um – darauf aufbauend – gemeinsame Zukunftsszenarien zu entwickeln sowie die dafür notwendigen Kooperationsformen auszuhandeln. Anschaulich deutlich wurde so ein Emanzipationsprozess, der als Ausdruck der Selbstermächtigung nicht darauf warten möchte, was „von oben“ kommt, sondern für sich beansprucht, selbst als kulturpolitischer Akteur aufzutreten.

Wesentlich mitgeholfen hat dabei die Initiative Vorlaut als ein junges journalistisches Kollektiv, namens VORLAUT. VORLAUT ist ein junges journalistisches Kollektiv aus Wien mit intersektional-feministischer Perspektive. VORLAUT ist auf Youtube, Instagram und Facebook aktiv und setzt auf direkten Austausch mit dem Publikum. VORLAUT lässt Betroffene zu Wort kommen. Dabei werden diverse Meinungen und Lebensrealitäten entlang der Schwerpunkte Soziale Ungleichheit, Antirassismus, psychische und physische Gesundheit und Feminismus behandelt. Dieses hat mit ihren prägnanten Einwürfen bei den Teilnehmer*innen die Hoffnung gestärkt, auch eine junge Generation wäre für Fragen der Kulturpolitik ansprechbar, würden deren Inhalte nur in eine zeitgemäße Sprache und Form gebracht.

In der abschließenden Podiumsdiskussion, an der der Generaldirektor der Bundestheater Christian Kircher, die Kulturamtsleiterin der Stadt Frankfurt Sybille Linke, die Geschäftsführerin der IG Kultur Yvonne Gimpel und der Kulturstadtrat der Stadt Graz Günter Riegler teilgenommen haben, wurden die einzelnen Gesprächsfäden noch einmal zusammengeführt. Nach den Berichten aus den Arbeitsgruppen gab es wenig Anlass gab, die anstehenden Probleme kleinzureden: Sehr offensichtlich wurde der enorme ökonomische Druck, der sich die großen Kulturtanker gerade ausgesetzt sehen. Diese würde es ihnen verunmöglichen, etwa in Kooperation mit der Freien Szene neue Experimentierräume zu eröffnen. Auffallend war auch die defensive Haltung, in die der Freie Bereich in den letzten Jahren gedrängt wurde und die es ihm verunmöglicht, weitreichende Forderungen nach einem umfassenden Transformationsprozess zu stellen. Das Bespiel Frankfurt hat den Teilnehmer*innen noch einmal vor Augen geführt, dass punktuelle Initiativen zugunsten von Fair Pay oder Nachhaltigkeit zwar wichtig sind, aber also solche noch keinen strategisch gelenkten Neuanfang signalisieren. Erst eine solche Zusammenschau würde eine Neupositionierung des Kulturbetriebes in einer Gesellschaft, in der gerade alle Selbstverständnisse über Bord geworfen werden, erlauben. Wenn der Grazer Kulturstadtrat darauf hingewiesen hat, dass er es für seine vordringlichste Aufgabe sieht, ein neues, bislang vernachlässigtes Publikum zu berücksichtigen, dann hat er nicht hinzugefügt, dass diese kulturpolitische Priorität seit mehr als 50 Jahre existiert und die jüngste SORA-Studie zur kulturellen Teilhabe dennoch ergeben hat, dass die Besucher*innenzahlen insbesondere in den staatlich priorisierten Kultureinrichtungen immer mehr zurückgehen. Ob er dagegen eine Strategie parat hätte? Diese Frage musste er unbeantwortet lassen, um damit noch einmal in aller Dringlichkeit das Problem aufzuwerfen, wie es gelingen kann, all diejenigen, die nicht beruflich am Kulturbetrieb gebunden sind, als (potentielle) Nutzer*innen seines Angebotes ins kulturpolitische Gespräch einzubeziehen.

Ob der Mai wirklich alles neu macht, das konnte das Symposium nicht hinlänglich klären. Deutlich aber wurde, dass sich der Kulturbetrieb bereit jetzt vehement unter Druck und damit in Veränderung befindet und die Teilnehmer*innen immer weniger bereit sind, davor die Augen zu verschließen. Die besondere Qualität der Veranstaltung bestand darin, im öffentlichen Untergangsdiskurs nicht noch ein weiteres apokalyptisches Szenario hinzuzufügen. Sondern sich als eine kooperierende Kraft auf die eigenen Stärken zu besinnen, um in gemeinsamer Anstrengung an Gegenentwürfen zu arbeiten, die die Relevanz des Kulturbetriebs in einer Zeit des Umbruchs ebenso sinnlich wie sinnstiftend zum Ausdruck bringen.

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