Bemerkungen zu Axel Brüggemanns „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“

Sie treten zuletzt gehäuft auf, die selbsternannten Retter des Klassischen Kulturbetriebs. Dafür schwingen sie sich auf zu einer Fundamentalkritik, die den staatlich (mit-)finanzierten Kulturinstitutionen den Hort ausmachen, in dem sich all das zusammenbraut, was die Zeichen der Zeit nicht erkennen will: Entlang voyeurhaft-genüßlich ausgebreiteter Fallbeispiele wird erzählt von überkommenen undemokratischen Hierarchien, wo ungebrochen Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit dominieren, wo man sich standhaft der technologischen Errungenschaften verweigert und wo man bestenfalls alibihaft den krisenhaften Zustand der Welt antizipiert und damit den Schein einer vergangenen Epoche aufrecht zu erhalten sucht, die uns heute nichts mehr zu sagen hat.

Auf der Grundlage solch vernichtender Einschätzungen werden am Ende gerne Forderungskataloge und Handlungsanleitungen hinzugefügt, mit deren Befolgung es gelingen sollte, den (staatlich finanzierten) Kulturbetrieb noch einmal ins Zentrum gesellschaftlicher Dynamiken zu rücken. So sollten sie Auslassungen des Kulturmanagers Fabian Burstein gelesen werden, der vor einem Jahr den Kulturbetrieb mit seiner „Eroberung des Elfenbeinturms – Streitschrift für eine bessere Kultur“ aufzurütteln versucht hat. Und in diesem Geist agiert wohl auch der Kulturjournalist und Kulturberater Axel Brüggemann, der mit seiner Kritik „Die Zwei-Klassik-Gesellschaft“ angetreten ist, das Ruder noch einmal herumzureißen.

Als theoretisches Unterfutter dient ihm der Gegensatz zwischen einer „sterbenden“ und einer „letzten“ Generation. Während erstere alles dran setzt, den Kulturbetrieb genau so beizubehalten wie er angeblich immer schon war, seien zweitere in einer Wirklichkeit angekommen, die in ihrer umfassenden Krisenhaftigkeit selbst so dramatisch geworden sei, dass sie einer künstlerischen Überhöhung nicht mehr bedürfe. Allenfalls könnten Versatzstücke noch dafür genutzt werden, um kurzfristig Aufmerksamkeit zu erregen. Aber insgesamt vermag der Kulturbetrieb – so Brüggemanns These in seiner aktuellen Verfassung - nichts mehr zur Lösung der anstehenden Problemlagen beizutragen.

Und so entsteht das Bild einer überkommenen, zunehmenden Betrieblichkeit, die in ihrer sturen Interessensverfolgung nicht wahrhaben möchte, dass sich die Welt weitergedreht hat. Und mir drängt sich beim Lesen eine Assoziation aus der Wirtschaft auf. Immerhin stand auch die Autoindustrie mit ihrem zentralen Produkt des Verbrennungsmotors für lange Zeit als Garant für Prosperität. Diese Zuschreibung galt es, um jeden Preis zu verteidigen, gegen alle Unkenrufe von Umweltschützer*innen, selbst zu einem Zeitpunkt, als alternative Antriebsformen längst marktreif waren, ihr Einsatz aber zu fundamentalen Veränderungen in der Produktion (und wohl auch der Konsumption) geführt hätte. Zu groß der Wunsch, die Produktionsgewinne, die sich aus den alten Technologien ziehen ließen, bis zum bitteren Ende auszukosten.

Und genau so verhält sich heute ein Kulturbetrieb, der bis heute seine Existenzberechtigung aus einer Repräsentationslogik eines an die Macht drängenden Bürgertums am Ausgang des 19. Jahrhunderts bezieht und nicht zur Kenntnis nehmen will, dass sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse spätestens in den letzten 30 Jahren soweit verändert haben, dass eine Fortschreibung des Suprematieanspruchs einer kleinen selbsternannten Elite zur Karikatur zu verkommen droht.

Bei der Einschätzung diesbezüglicher Machtverschiebungen hilft mir immer wieder ein Blick in Panajotis Kondylis‘ „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform - Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne“. Nicht nur ihm zufolge befänden sich die westlichen Industriestaaten spätestens mit der neoliberalen Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens in einem umfassenden Transformationsprozess. Das den universellen Marktkräften geschuldete Ende ständischer Zugehörigkeiten bedeutete auch das Ende klar zuschreibbarer kultureller Wertvorstellungen. Ehedem klar definierte Hierarchien wurden von einer – heute würde man hinzufügen „diversen“ – Konsumgesellschaft abgelöst. Ihre Mitglieder hätten in ihrer großen Mehrheit entlang der vielfältigen technologischen Innovationen ein neues kulturelles Verhalten eingeübt, das sich weitgehend inkompatibel gegenüber der Logik des klassischen Kulturbetriebs erweisen würde ((da mögen rechtspopulistische Demagog*innen noch so sehr zum Kampf des kleinen Mannes gegen eine abgehobene Elite aufrufen. Kulturelle Differenzen lassen sich darauf keine mehr ziehen; diese werden einem zunehmend aggressiven Publikum stattdessen entlang ethnischer oder religiöser Grenzziehungen festgemacht).

Spätestens mit dieser Gesellschaftsanalyse wird klar, dass der Kulturbetrieb als Inbegriff der Repräsentation der bürgerlichen Gesellschaft sein Existenzrecht verloren hat. Versuche wie die von Oliver Scheytt, der vor ein paar Jahren mit einer Programmschrift „Der Kulturstaat – Plädoyer für einen aktivierenden Kulturstaat“ versucht hat, gegen das Ende des „Kulturbürgers“ anzukämpfen, lassen sich allenfalls mit dem temporären Angebot eines „Hybrid-Motors“ vergleichen, das doch nur allzu deutlich macht, dass sich solch fundamentale Transformationsprozesse – jedenfalls im Rahmen marktwirtschaftlicher Verfasstheit – bestenfalls verzögern aber nicht aufhalten lassen, um schon bald zu einer umfassenden Elektrifizierung des Individualverkehrs zu führen.

Und noch eine Assoziation in Sachen Epochenbruch drängt sich auf: Ja, eine Reihe von mittelalterlichen Kathedralen stehen heute noch. Und sie werden von Menschen auch heute noch besucht. Und doch hat sich das Besucher*innen-Verhalten fundamental geändert; den wenigsten sind noch die liturgischen Verkehrsformen vertraut; sie sind nicht mehr in der Lage, dem Programm zu folgen, sie bestaunen eine äußere Hülle, deren Inhalt sich ihnen nicht mehr erschließt.

Genau diese Entleerung – so meine Vermutung – findet gerade im Nachfolgeunternehmen der einst dominanten religiösen Infrastruktur, der kulturellen Infrastruktur statt. Deswegen gehen alle noch so gut gemeinten Vorschläge von Brüggemann und Co., doch zu versuchen, sich entlang der neuen Gegebenheiten zu transformieren, zeitgemäße Unternehmensstrukturen zu etablieren, die herrschenden Entwicklungskriterien wie Wirtschaftlichkeit, Diversität, Nachhaltigkeit oder Digitalisierung zu antizipieren, konkret, noch einmal „politischer“ zu werden und damit die gesellschaftliche Wirklichkeit in die Häuser zu holen, weitgehend in die Irre.

Weil sie die Frage ausklammern, warum es dazu gekommen ist, dass sich der klassische Kulturbetrieb immer wieder von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt hat, zumal man dieses „An-den-Rand-Geraten“ nicht einfach auf das Fehlverhalten einiger narzisstischer Entscheidungsträger*innen reduzieren kann, sondern als ein Resultat struktureller Veränderungen, mit der „Kultur“ immer weniger in den Kulturtempeln des 19. Jahrhunderts verhandelt wird, sondern dort – worauf ein breiter Kulturbegriff bereits in den 1970er Jahren hingewiesen hat – wo die Menschen leben und arbeiten. Und heute würde man hinzufügen, wo sie in einer Mischung von real und digital kommunizieren.

Dass für den klassischen Kulturbetrieb real Gefahr besteht, das kann man an den vehementen Kritiken auf Brüggemanns Streitschrift erkennen. Eine geharnischte Kritik eines „Opernfreunds“ spricht für sich. Sie meinen in Brüggemann einen Verräter zu erkennen, der ihre Talfahrt weiter beschleunigt, wo es doch gerade darum geht, in einer Phase der Gefahr alle Kräfte zur Verteidigung eines aus sich selbst gültigen kulturellen Wertes zu bündeln. Und dann ist da noch der umjubelte Dirigent des Neujahrskonzertes Christian Thielemann, der es sich leisten kann, darauf zu bestehen, das C-Dur C-Dur ist und bleibt, in welchen gesellschaftlichen Umständen die von ihm reproduzierte Musik erklingt.

Spätestens im Kapitel zur Musikausbildung wird deutlich, dass auch der Reformer Brüggemann auf verlorenem Posten argumentiert. Anstatt Interesse zu zeigen für die Veränderungen des musikalischen Verhaltens, das u.a. dazu geführt hat, dass sich junge Menschen wohl noch nie so intensiv mit der ganzen Vielfalt musikalischer Ausdrucksformen beschäftigt haben, beschränkt sich der Autor auf Ermahnungen, die Schule solle nochmals – wie einst die Gymnasien des 19. Jahrhunderts – die Funktion eines Zubringers erfüllen, um dem Kulturbetrieb auch in Zukunft ein kundiges Publikum zuzuführen, um dessen Bestand zu garantieren.

Umgekehrt hat Brüggemann einen Punkt, wenn er die noch herrschenden kulturellen Verkehrsformen, die ungebrochen auf einem tiefen, unüberschreitbaren Graben zwischen Produzent*innen und Rezipient*innen beruhen, zur Dispositionen stellt und einen Kulturbegriff anbietet, der auf Kommunikation, gegenseitigen Austausch und Kooperation beruht. Ob seine abschließende Liste an Vorschlägen die kulturpolitischen Entscheidungsträger*innen dazu bringen wird, sowohl die Gestalt als auch den Inhalt des Kulturbetriebs an die Erfordernisse einer postbürgerlichen, auf Vielfalt gerichteten Gesellschaft anzupassen – vor allem, wie das passieren könnte – das wage ich zu bezweifeln. Immerhin kann Brüggemann ab sofort herumlaufen mit der Selbsteinschätzung: Ich weiß, was passieren muss, aber leider….

Vor ein paar Tagen habe ich aus Zufall eine Radiosendung über den Beruf des Streamers gehört. Und mir wurde schlagartig bewusst, wie anders mittlerweile „Kultur“ in weiten Teilen der jungen Generation verhandelt wird. Und wie wenig wir, die wir kulturell im Bezugsrahmen klassischer Kulturbetrieb sozialisiert worden sind, davon wissen. Allen, vor allem den Älteren, die es jetzt noch immer nicht glauben, empfehle ich einen Blick in Jean Amérys Essay über das Altern, der mit der Zunahme der Lebensjahre über den Verlust des Anschlusses an die aktuelle kulturelle Wirklichkeit erzählt.

Améry beschreibt darin, wie er sich als in die Jahre gekommen zwingt, auf dem neuesten Stand zu bleiben, literarisch, philosophisch, wie er die neuen Bücher liest, sich die neuen Filme anschaut und wie er dabei deutlich spürt, dass ihm das meiste fremd und falsch erscheint, als Abweichung jedenfalls von jenen Regeln, die er seit seiner Jugend für verbindlich hält. Und dann liest er die Werke seiner Jugend wieder und erkennt, dass das, was er für die ewigen Werte oder zumindest für die verbindlichen Maßstäbe hielt, dass das alles nur die Mode seiner Jugend war, nicht falscher und nicht richtiger als jene Moden, denen er jetzt so schwer folgen kann. Und so grausam diese Erkenntnis ist, den Abendlandsrettern und Gralshütern unter den Zeitgenossen täte es womöglich ganz gut, zu begreifen, dass das, „wonach sie sich zu sehnen glauben in den Stunden des Verdrusses über dumme junge Autoren, Musiker, Theaterleute, dass all das, wenn es wirklich wiederkäme, sie zu Tode langweilen würde.“

Also müssen wir wohl zur Kenntnis nehmen, dass eine Zusammenschau der Welt von heute in einem Kulturbetrieb von gestern nicht mehr möglich ist. Die Wirklichkeit, in die wir hineingeworfen sind, ist auch kulturell eine andere geworden. Um das zu erkennen, braucht es keiner Manifestation von Vertreter*innen der letzten Generation im Museum. Und wohl auch nicht gutgemeinter Ratschläge von Insidern in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe den Kulturbetrieb noch einmal zu alter Größe aufrichten zu können.

Was wir aber brauchen, das ist schlicht ein neugieriger Blick auf das, was uns umgibt. Dorthin, wo heute „Kultur“ stattfindet. Und wir würden erkennen, dass Brüggemanns Aufrüttelungsversuch zwar gut gemeint sein mag, seine Rettungsversuche aber den kulturpolitischen Blick auf eine geänderte Wirklichkeit mehr verstellen als erhellen.

Bild: Die zwei Klassik Gesellschaft/Axel Brüggemann©/Michael Wimmer

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