Versprechen eines Neustarts...

Weil gerade Sonntag ist und etwas Zeit für eine Kurzgeschichte bleibt:

Greta Haningberg betrat ein Zimmer im Altersheim. Das Fenster stand offen. Eine Windböe riss ihr die Tür aus der Hand und schlug sie zu. Vom Wind getragen, flog ein Briefkuvert, welches am Boden lag, mit der Leichtigkeit eines Lindenblattes, vor ihre Füße.

Noch benommen vom Donnerschlag der Tür beugte sie sich hinunter und hob ihn auf. Er trug keine Adresse. Auf der hinteren Seite stand der Name Holger. Auf der vorderen nur ein Wort „Neustart“

Sie fragte sich, von welchem Holger der wohl sei. Sie haben einige Rentner hier in den Zimmern, oder war es jener, den sie vorhin zum Lift begleitete? Sie schloss das Fenster, öffnete den Brief und fing zu lesen an.

*

Mein Versprechen eines Neustarts, oder was von ihm übrigblieb. Was bedeutet schon Neustart, wenn jene Person, die du über alles liebst, nicht mehr da ist? Was fängst du mit dir an, wenn dir deine größte Liebe für immer adieu gesagt hat?

Ich denke an Neustart und denke automatisch an Herta. Wie schaffst du einen Neustart, wenn du sie nicht aus deinem Kopf bekommst? Herta war definitiv anders. Wie anders, erkannte ich umso mehr, als sie verstarb. Nicht einmal sterben konnte sie so, wie der Rest unserer Gesellschaft. Meine Herta nicht – suchte immer das Besondere.

Die meisten unserer Freunde gingen vor uns. Brauchten sich um einen Neustart, wie ich heute, nicht den Kopf zu zerbrechen. Zuletzt auch Berta, Heino, Julia und Horst. Sie waren glückliche Menschen, und sie hinterließen niemanden mit diesem Problem des Neustarts. Sie gingen lachend und schreiend vor Freude, als wüssten sie, was sie erwartet.

Herta organisierte eine Party im Altersheim. Sie sagte noch, ich soll sie loslassen. Ich musste ihr Versprechen neu anzufangen. Vielleicht verreisen und jemanden kennenlernen. Sie sagte, ich soll mir keine Sorgen machen, sie wird von oben aufpassen, damit ich keinen Unfug mache. Wie denn? Ich weiss nicht weiter. Wie soll ich da noch an Unfug denken.

Sie ließ noch ihr Bett an die Decke hängen. Sagte, sie wolle sich in den Himmel schaukeln. Ja sie liebte das Schaukeln. Eine Begeisterung aus ihrer Kindheit. Als wir noch durch die Welt reisten, ließ sie sich auf jeder Schaukel in einer Stadt fotografieren. Unsere gesamte Wohnzimmerwand war voll von ihren Bildern - wie sie glücklich in die Kamera strahlte.

Ich erfüllte ihr diesen letzten Wunsch. Manchmal frage ich mich, wenn ich es nicht getan hätte – würde sie noch leben? Berta kletterte noch zu ihr ins Bett. Horst tauchte sie an, sie kicherten wie kleine Mädchen. Niemand rechnete damit, dass die Ketten reißen werden. Herta war im schwachen Zustand, der Unterleibskrebs hat schon viel Substanz von ihrem Körper verzerrt. Horst wollte noch helfen, aber er war auch schon an die Achtzig. Das Gewicht des Bettes zog ihn mit. Und Julia hätte nicht so dicht beim Fenster stehen dürfen. Wir alle haben an diesem Tag viel getrunken. Sogar unser Zimmer versperrt. Es kam so unerwartet.

Wir haben noch gelacht, als das Bett abriss. Doch als es samt Julia, Berta, Herta und Horst, der mit seinen Fingern noch dranhing, aus dem Fenster flog, verstummten wir. Heino und ich besannen uns langsam, dass Hertas Zimmer und wir uns im achten Stockwerk des Altersheimes befanden. Heino erlebte nicht mehr ihren Aufprall. Er schaffte es nicht einmal bis zum Fenster. Er hatte ein schwaches Herz.

Und ich, mein Herz war schon immer stark und auch treu, aber dafür sitze ich hier in der schmalen Zelle und warte auf meine morgige Freilassung. Was warf man damals schon einem achtundachtzigjährigen Mann vor? Die Ketten habe ich montiert Herr Richter – zugegeben, aber nicht allein. Die restlichen Mitwirkenden verstarben mit ihrem Montagewerk acht Stockwerke tiefer. Ob das Material der Ketten fehlerhaft war, wollte damals niemand mehr wissen.

Gut, Berta hatte knappe 92 Kilo, aber wir brachten auch sechs Kettenlängen an. Wir umwickelten Blumen um diese. Herta liebte Blumen. Die Vorbereitung hat den ganzen Tag gedauert. Die Ketten hätten sie aushalten sollen. Aber wie sagen die Knastbrüder hier - den Letzten fressen die Ratten. Und das weltliche Gericht nannte es einfach und banal - fahrlässige Tötung.

Die Gefängniswärter lächelten, als sie mich empfingen. So wie die meisten Inhaftierten auch. Hatten sie nur Mitleid mit einem alten Mann, der womöglich hier, in der Zelle neben ihnen, das Zeitliche segnen wird? Manche waren Schwerverbrecher, mehrfache Mörder, Diebe, Zuhälter und Räuber, aber sie ließen mich in Ruh. Eines Tages forderte ein junger Glatzkopf beim Essen meinen Teller mit Schweinebraten. Ich sagte noch, ich teile mit ihm, aber ganz geht nicht. Er schlug mir ins Gesicht, ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Betonboden. Er brüllte auf mich ein. Alles drehte sich. Jeder Knochen in mir schmerzte. Das Aufstehen war noch schmerzvoller.

Er baute sich vor mir auf und ich wusste, jetzt fange ich noch eine. Plötzlich fiel mir ein Scherz von Herta ein. Diesen machte sie immer, wenn ich mich zu sehr ärgerte. Sie zeigte in die Luft, so als würde da ein Vogel fliegen. Als ich hinaufsah, trat sie gegen mein Schienbein. Was soll´s, danke Liebste, ich habe auch nichts mehr zu verlieren.

Der Glatzkopf, kannte offenbar den Schmäh noch nicht. Als er hinaufblickte, trat ich ihm, in den Schritt. Der Essensraum verstummte. Alle Blicke auf uns gerichtet. Der Glatzkopf öffnete den Mund, als wolle er eine Arie anstimmen, doch er blieb stumm. Ging ein paar Schritte auf mich zu. Ich wich zurück, dann fiel er mir vor die Füße und rollte sich ein.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll. Das Monster wird auch wieder aufstehen. In einigen Gesichtern der Häftlinge sah ich ein freundliches Lächeln. Die Wärter brachten ihn weg. Sagten mir, ich soll mich hinsetzten und weiteressen. In der darauffolgenden Nacht konnte ich nicht einschlafen. Herta hat Wort gehalten, passte von da oben tatsächlich auf mich auf. Nur der Ratschlag mit dem Vogelschmäh war nicht ihr bester. Was werde ich erst am nächsten Tag von ihm erleiden.

In der Frühe kamen die Rettungseinsatzkräfte, zum Glück nicht in meine Zelle. Nein gleich mit zwei Ärzten liefen sie in die Zelle dieses Glatzkopfes. Danach sahen wir, wie er auf einer Bahre rausgetragen wurde. Manche Insassen sprachen von Selbstmord, andere fragten, woher er den Gürtel hatte, mit dem er sich erhängte. Ich für meinen Teil, war erschüttert. Ich glaubte nicht an Selbstmord, fühlte mich sogar schuldig an seinen Tod.

In den Tagen danach machte man mir Platz beim Essen, nannten mich sogar Don. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. Wahrscheinlich hatten sie nur vor meinen 90 Jahren Respekt. Egal, morgen geht es raus hier. Morgen beginnt mein versprochener Neustart in ein Leben, welches trostloser und einsamer nicht sein kann. Da draußen gibt es absolut niemanden mehr, den ich kenne, oder der auf mich wartet. Und jene die uns nur von Ferne kannten, werden den Teufel tun, einem Knastbruder näher zu kommen, oder gar ihn bei sich aufzunehmen.

Gut, die Zeit hier wurde mir verkürzt. Was bedeutet schon gute Führung, wenn sie dir das nicht vorher anrechnen, bevor sie dich hier reinstecken. Nach zwei Jahren war auch unsere Mietwohnung weg. Wohin unsere Sachen gebracht wurden, muss ich noch beim Anwalt erfragen. Genauso wo ich verbleiben kann.

Neustart sagt sich´s leicht. Herta hatte diese Leichtigkeit. Wenn ich mich vor die Straßenbahn werfe, hätte ich gute Chancen, Herta kurz zu besuchen, bevor mich der Herrgott in die Hölle wirft. Oder im schlimmsten Fall, im Spital auf freie Kost übernachten zu können. Ich könnte auch einen Bankraub starten. Wird sicherlich nicht gelingen, weil auch nicht gewollt. Könnte damit ein paar Jahre überbrücken, das würde schon reichen. Dann bin ich 95, ich denk, das war´s dann schon.

Verrückt, ich denke darüber nach, wie ich mir die Zeit totschlagen kann, bis ich Tod bin. Warum keine Abkürzung nehmen? Auch das ist Unfug. Herta hatte recht, ich soll nicht an Unfug denken. Mein Gott, hat sie all das bereits gewusst? Ihre letzten Worte an mich, gehen mir durch den Kopf. Hat sie gewusst, was mir heute durch den Kopf gehen wird? Doch ohne sie ein Neuanfang starten – erscheint mir unmöglich.

Wenn du zu sehr liebst, lebst du mehr im anderen, den du liebest, als in dir selbst. Jetzt stehe ich da, völlig unbenützt von mir selbst. Ich kenne weder Kanten noch Ecken in mir. Unverbraucht seit dem Tag, als ich Herta begegnet bin. Sie kannte alle meine Fehler, blieb trotzdem bei mir. Ihr Lächeln nahm mir jeden Schmerz, jede Bedrücktheit und brachte mich sogar dazu, über meine eigene Dummheit zu lachen.

Das Hupen eines roten Polos brachte mich wieder auf die Straße zurück. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Als ich aufblickte, erkannte ich das Gebäude des Altersheims auf der gegenüberliegenden Straßenseite. In Gedanken verloren, kam ich hierher. An den Ort, wo meine Liebe, auch wenn auf einer sonderbaren Art, adieu sagte.

Die Leiterin Grete erkannte mich. Sie fand es ganz schrecklich, wie sie sagte. Ich nickte, fragte nicht nach, ob sie das tödliche Ereignis, oder mein Gefängnisaufenthalt meinte. Sie sagte so etwas wie Neuanfang, was sie danach sagte, hörte ich nicht mehr. Das Thema hatte ich durch.

Ich sagte ihr, ich möchte noch gern auf einen Sprung rauf. Abschied nehmen. Sie lächelte, begleitete mich zum Lift. Ich wusste, sie hat mich nicht verstanden, war gut so.

Ich drückte ihr den Blumenstrauß in die Hand. Die eine rote Rose behielt ich. Sie gab mir einen sanften Kuss auf die Wange. Ich umarmte sie. Sie war immer gut zu uns.

Das Zimmer war leer. Die Fenster, die bis zum Boden reichten, wieder gerichtet. Selbst auf der Decke erkannte ich keine Bohrlöcher mehr. Saubere Arbeit, als wäre hier nichts geschehen. Grete sagte noch, sie kommt in einer Stunde rauf. Gutes Mädchen, das wird reichen, diesen Brief fertig zu schreiben.

Ich öffnete das Fenster, es war ein sonniger Herbsttag. Eine frische Brise wehte von Osten herauf, hinterließ eine Kühle auf meine Wangen. Die Luft roch nach Schnee. Herta liebte den Herbst. Sie sagte, im Herbst atmet die Erde aus und trägt die Frische übers Land. Perfekt. Meine Augen fühlten sich mit Tränen. Herta meine Liebe du fehlst mir so sehr.

Ich sah hinab und bekam Angst von der Höhe. Verdammt, geht es hier hinunter. Die Vorstellung, wie Herta, Julia, Berta und Horst hier runterfielen, zerriss mir das Herz. Hoffentlich spürten sie nichts. Ich kletterte hoch und wusste gleich, ich habe nicht die Kraft, mich hier lange festzuhalten. War gut so.

Ein Neustart ohne Liebe, hat keine Bedeutung. Nichts beginnt neu, wenn es nicht von Liebe getragen wird. Und alles endet dort – wo die Liebe aufhört – verzeih mir Herta…

*

… Gretes Augen füllten sich mit Tränen. Sie riss das Fenster auf und sah hinunter. Neben dem Rettungswagen, am Gehweg erkannte sie Holger, dort liegen. Schluchzend sagte sie „Ich hätte dich gern bei mir aufgenommen.“

Ich hoffe, es hat euch gefallen...

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