Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über unser Bildungssystem geätzt wird. Faule Lehrer*innen, dumme Schüler*innen, aggressive Eltern, ignorante Politiker*innen – alle meinen zu wissen, wer angeblich Schuld daran ist (die Anderen!), dass Lernen weniger Freude macht als es könnte und sollte und unser Bildungssystem zwar weltweit eines der teuersten (↓), nicht aber der wirkungsvollsten ist. Kurz: Bildung regt auf, jede*r will eine Veränderung, die wenigsten nehmen eine solche wahr. Und das seit Jahrzehnten, manche meinen sogar seit Anbeginn der Schulpflicht. Die Schuldbildung in der Schulbildung – ein systemimmanentes Problem?

Manche suchen die Schuld bei den Lehrenden, problematisieren ihre Wochenarbeitszeit oder ihren Jahresurlaubsanspruch. Aber abgesehen davon, dass die tatsächliche Arbeitszeit weit mehr als den Unterricht in der Klasse umfasst – sollten wir diejenigen, die unseren Nachwuchs bilden, die Menschen also, welche primäre Bezugspersonen in entscheidenden Phasen unserer Entwicklung sind, nicht bestmöglich unterstützen anstatt als Projektionsflächen unserer eigenen (vielfach woanders generierten) Unzufriedenheit zu mißbrauchen? Und: welchen Effekt hat es wohl, wenn wir noch mehr Druck aufbauen bei Personen die eigentlich möglichst entspannt und konzentriert ihre wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllen sollten?

Unterstützend wirken in der Schuldsuche auch Tests und Rankings, welche europäisch oder international die Leistung der Lernenden bewerten und vergleichen. Und damit eine Konkurrenzsituation von Klein auf schaffen und unterstützen, welche Menschen gegeneinander ausspielt. Das geht von der Volksschule bis zur Hochschule so, kaum jemand entkommt der Nummerisierung seines Schaffens. Dabei wissen fortschrittliche Denker*innen längst, dass Noten überholt sind und dass es bei Bildung nicht um Leistung im quantifizierbaren Sinne gehen kann sondern um bestmögliche individuelle Umsetzungsmöglichkeiten von erlerntem Wissen und Erfahrungen. Wozu lernen wir überhaupt, wenn nicht um ein selbstbestimmtes Leben entlang unserer Neigungen und Talente führen zu können?

Eltern sind oftmals gleichzeitig die Erzeuger*innen und Betroffenen der ungeheuren Frustration im Bildungsdiskurs – sie erleben die unglücklichen jungen Menschen, die im schulischen System nicht den erwarteten und erhofften Erfolg erzielen und dadurch auch oftmals Angst haben in die Schule zu gehen. Aus Mitgefühl mit ihren Kindern und einer gefühlten Ohnmacht – denn wer kann sich schon die Zeit nehmen seine Schützlinge zu unterstützen, wenn man ständig arbeiten muss um sich die Miete zu leisten? – suchen sie dort die Schuld, wo ihr Steuergeld investiert wird: bei den Lehrenden. Und ihr Ärger richtet sich auch gegen diejenigen, die ebendieses Steuergeld verwalten, damit Strukturen schaffen und Abläufe definieren, in die sich ihre Kinder einfügen sollen: die Politiker*innen. Eine sich selbst perpetuierende Spirale der Frustration?

Ebendiese Politiker*innen fungieren als Mediator*innen unterschiedlicher Erwartungshaltungen. Auf der einen Seite: Einige versteinerte, ewig gestrige Gewerkschaftsfunktionär*innen (Vorsitzende verkörpern nicht die gesamte Gemeinschaft), die in einem immerwährenden Abwehrkampf nur vorgeblich die Interessen der Lehrenden vertreten und in Wirklichkeit keine Systemänderung möchten, weil sie sonst ihre in dieser Form fragwürdige Existenzberechtigung verlieren würden. Auf der anderen Seite: die Eltern, die ja nicht nur für sich sondern auch ihre Kinder sprechen (sollten) und auch ihre eigenen, unverarbeiteten Bildungstraumatisierungen in die Debatte einbringen. Und verstärkend: vorgeblich omnipotente Expert*innen, die über Medien und in immer neuen Publikationen zusätzlichen Druck erzeugen endlich irgendwas zu verändern – in unterschiedliche Richtungen: hundert Expert*innen, hundert Vorschläge, vielfach absolut gegenläufiger Konzepte. Ein unmöglicher Job, den man nur falsch machen kann?

Wider die Verwertungslogik

Es gibt einen roten Faden, der sich im Hintergrund als Auslöser durch die Debatte zieht: die Verwertungslogik und das dahinterstehende neoliberale Modell vom Menschen als Ressource. In dieser Logik muss alles messbar, alles vergleichbar, alles kontrollier- und beeinflussbar sein. Bildung funktioniert in dieser Logik wie eine Fabrik: Ressourcen rein, Ressourcen raus. Nur dass hier der „Abfall“ dieser Produktionsweise nicht entsorgt werden kann, weil das letztlich wir alle als eigenständig und kritisch denkende Wesen sind. Was dabei rauskommt, wenn wir uns nicht mehr als Lernende sondern nur noch als (negativ) Beurteilte empfinden, kann man an der rückläufigen Beteiligung an demokratischen Prozessen erkennen. Und am mangelnden Mitgefühl, das sich u.a. darin bemerkbar macht, dass wir uns weniger für andere verantwortlich fühlen, als auf unseren persönlichen Vorteil bedacht zu sein. Um diesem demokratiegefährdenden Kreislauf der systematischen Verdummung zu entkommen, müssen einige Wahrheiten in Erinnerung gerufen werden.

Zunächst: Noten sind ein Konstrukt, sie bilden weder das Verständnis noch die Anwendbarkeit von Wissen in geeigneter Form ab. Kennzahlen eignen sich vielleicht für die Bewertung von technischer Leistung, aber Lernende sind keine Batterien die man beliebig auf- und entladen kann, von daher sollte man sie auch nicht in die erdrückende Situation bringen sich für ihre „Performance“ rechtfertigen zu müssen.

Lehrende sind nicht einfach nur Fachkräfte, sie sind vor allem auch wichtige Orientierungspersonen in einer Zeit, wo man sich selbst und seine Umwelt kennenlernt und versucht seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Wo Identitätskonzepte entwickelt, ausgetestet und manifestiert werden, die schließlich in Haltungen münden – auch (a)politischen. Lernende sind eben nicht gleichgeschaltete Empfänger*innen, sie sind eigenständige Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Sichtweisen, sie brauchen also auch Menschen, die Zeit und Kraft haben auf ebendiese einzugehen, sie bei ihrer Entwicklung zu fördern und dabei zu begleiten, ihren persönlichen Weg im Leben zu finden und zugehen.

Die Aufgabe der Politik muss es sein mutig zu handeln – in jedem Bereich, aber gerade auch bei der Bildung. Zukunftskonzepte zu gestalten anstatt veraltete Strukturen zu verwalten. Sie muss sich in erster Linie an den „Stimmlosen“ orientieren, den Kindern und jungen Menschen. Die haben nämlich zwar sehr wohl eine (oftmals entlarvend ehrliche und stets authentische) Meinung, nur wird diese viel zu selten eingeholt oder berücksichtigt. Dazu braucht es Menschen in verantwortlichen Positionen, die selbst Bildung im besten Sinne sinnvoll erlebt und angewandt haben – denn die subjektive Perspektive ist, in der Politik wie überall anders, mitentscheidend. Und die sich in ihren Entscheidungen in erster Linie am Wohl der Gemeinschaft und nicht an den Interessen von Lobbys oder Einzelmeinungen besonders Lauter orientieren.

Nicht zuletzt ist es die Verantwortung der Medien über eine ausgewogene und faire Berichterstattung die Debatte in eine potenzialorientierte Richtung zu lenken. Wenn wir ständig nur vom Unmut lesen, andauernd persönliche Untergriffe gegen Akteur*innen kommuniziert werden, dann wird sich unser Bildungssystem nicht verändern können. Weil uns die Kraft und die Lust fehlt uns zu engagieren. Und darunter werden wir zwangsläufig alle zu leiden haben. Weil wir keine Welt wollen, in der Menschen maximal dazu in der Lage sind, den Schund des Boulevards aufnehmen zu können und als Rädchen in der Maschinerie der Verwertung zu „funktionieren“. Bildung geht uns alle an, trauen wir uns, sie ernsthaft zu diskutieren. Fernab von Schuldzuweisungen – als eine zentrale gemeinsame Aufgabe der Gesellschaft.

von Sebastián Bohrn Mena

Dieser Beitrag ist zuerst auf "Políticas - Die linke Perspektive" unter www.politicas.at und www.facebook.com/politicasblog erschienen.

6
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Mindwave

Mindwave bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Bernhard Juranek

Bernhard Juranek bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Herbert Erregger

Herbert Erregger bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

mr_mir@live.de

mr_mir@live.de bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:07

3 Kommentare

Mehr von Políticas