Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich eine Explosion vor, einen Anschlag mitten in Europa: Ohrenbetäubender Lärm, aufgewirbelter Staub und Trümmer überall ... umher irrende Verletzte schreien verzweifelt um ihre Leben, viele Menschen sterben.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit dafür: Wer, denken Sie, könnte dahinter stecken? Stellen Sie sich einen Täter vor - Wie glauben Sie, sieht er aus? Welche Kleider trägt er und welche Hautfarbe hat er? Woran glaubt er?¹

Stellen Sie sich weiter vor: Eine junge Frau - gute Rhetorikerin, Akademikerin und Feministin. Sie kämpft um die Rechte von Frauen in Österreich. Darum, gläserne Decken am Arbeitsmarkt zu überwinden. Darum, nicht aufgrund ihres Geschlechts Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden und darum, sich so kleiden zu können, wie sie will.

Wie, glauben Sie, könnte sie aussehen? Welche Kleider trägt diese Frau? Ist sie religiös? Woher stammt sie?

Ein letztes Experiment: Denken Sie an einen herrischen Mann, der seine Frau schlägt, seinen Töchtern verbietet modische Klamotten zu tragen und seiner Familie das Leben schwer macht. Er glaubt das Recht zu haben, mit jeder Frau umzugehen, wie er will - ohne Rücksicht auf ihre Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse.

Wie könnte dieser Mann wiederum aussehen? Wo wurde ergeboren und wo lebt er? Welcher Religion gehört er an?³

¹Der rechtsextreme Terrorist A. Breivik tötete im Jahr 2011 in Oslo und Utoya (Norwegen) über 70 Menschen.

² Die junge Österreicherin hat türkische Wurzeln, trägt Kopftuch und ist eine selbstbewusste Muslima aus Wien.

³ Der gebürtige Kärnter Heinz W. wohnt in einer niederösterreichischen Gemeinde und ist überzeugter Christ.

Szenenwechsel zur Panikschrift

Es war einmal ein Buch. In diesem Buch aus dem Jahr 1996 beschrieb der Autor die Weltpolitik, wie sie uns seiner Meinung nach bevorstünde: Nämlich als erbitterter "Kampf der Kulturen". Der sogenannte Westen, verlautbarte er, solle sich rechtzeitig wappnen und sich nun, da der Kalte Krieg vorüber wäre, auf die neuen Feinde gefasst machen. Warum? Weil der islamische und konfuzianische "Kulturraum" um die Macht auf der Welt ringen würden und alsbald "den" Westen in die Knie zwänge - fände keine Intervention statt. So weit, so panisch. Der scheinbar so verschreckte Autor hieß jedenfalls Samuel Huntington und sein Einkommen bezog der ehemalige Regierungsberater u.a. auch vom Außenministerium der USA.

Huntington versuchte sich nach dem Kalten Krieg in seinem Buch an einem neuen Schema der Welt (siehe unteres Bild): Er teilte geographische Regionen in "Kulturräume" auf, definierte manche davon religiös (z.B. islamisch), andere wiederum kontinental (z.B. lateinamerikanisch).  Unklar umrissen, verkürzt und teils abwertend, stilisierte er scheinbar voneinander isolierte "Kulturen" zu sich feindlich gegenüberstehenden, neuen Blöcken der Macht. Huntington warnte die Weltgesellschaft vor einem imaginierten Kampf – und das zwischen Gegner*innen, die es als solche eigentlich (noch) gar nicht gab. Seine Behauptungen stützten sich hauptsächlich auf mediale Darstellungen gesellschaftlicher Problemlagen und sind bis heute in der wissenschaftlichen Welt sehr umstritten. Bei vielen anerkannten Forscher*innen gilt Huntingtons Werk als demagogisches und rein spekulatives Gedankenspiel, ohne empirische Nachweise. Die wichtigste Frage hier lautet daher: Wem und wozu eigentlich nützt dieses Buch?

Die Macht des geschriebenen Wortes

Betrachtet man die Geschichte seit Publikation des Buches, kommt man nicht um den Eindruck einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung umhin. Die militärischen Aktivitäten der US-Regierung in islamischen Ländern, insbesondere nach dem Einsturz des World Trade Centers, wurden immer stärker mit Kulturkampf-Rhetoriken gerechtfertigt. Kurz nach dem 11. September 2001 war Huntington berühmter als je zuvor, wurde zig-fach interviewt und als Konflikttheoretiker der Stunde bejubelt – denn, so verlautbarten Viele, wäre er derjenige gewesen, der "uns" doch längst gewarnt hatte: "Die Islamische Welt = die neue Gefahr im Osten!"

Wie vielen solcher "Gefahren aus dem Osten" standen wir eigentlich schon gegenüber? Da war doch mal die "Ottomane Gefahr", ja auch die "Gelbe Gefahr", dann kam irgendwann die "Kommunistische Gefahr" und im Kleineren die Gefahr durch die "Ost-Banden", die Türkei bringt die EU in Gefahr und Russland gefährdet sowieso Alles und Jede*n ... So viele Bedrohungen haben die westlichen Gesellschaften im Laufe der Zeit heimgesucht, es scheint fast als wäre der ominöse Osten das buchstäbliche Tor zur Hölle.

Diese "östlichen Gefahren" haben als entpersonalisierte Antithesen der "westlichen Welt" unzählige Male ihre Gewänder gewechselt. Ein Umstand, der in aktuellen Diskussionen nur wenig Beachtung findet. Ebenso wie jener, dass im Nachhinein solcher "Gefährdungen" meist zum Vorschein trat, wie diese angeblichen Gefahren von herrschenden Eliten zu politischen und ökonomischen Zwecken übertrieben, teilweise oder gänzlich herbei-konstruiert und in allen Fällen gezielt missbraucht wurden. Eine daraus folgende gesellschaftliche Atmosphäre der Angst, scheint bis heute machtpolitisch nützlich zu sein. Viele Menschen tendieren in diesem Klima offenbar dazu, den Finger auf jemanden zu richten und zu sagen: "Du bist es. Du bist der Anfang und das Ende all meiner Probleme!". Divide et Impera - Teile und Herrsche: Je mehr Menschen sich spalten lassen und in diesen durch politische und mediale Inszenierungen hervorgerufenen Sündenbock-Kanon einstimmen, umso freier die Bahn für menschenrechtswidrige Machtpolitik.

Nach 2001 machten sich besorgniserregende und bis heute anhaltende Entwicklungen bemerkbar: Die muslimische Diaspora und die Muslim*innen der Welt wurden zu einer angeblich klar definierbaren und in sich un-unterscheidbaren Masse zusammen gestutzt, die ihr zugeschriebenen Menschen verteufelt und an den Pranger für beliebige gesellschaftliche Probleme gestellt. Damit begann es tatsächlich brenzlig zu werden. "Der" Islam und "die" Muslim*innen waren nunmehr die gefährlichsten Widersacher "des" Westens. US-amerikanische militärische Interventionen im Mittleren Osten häuften sich zusehends, womit die Einwohner*innen betroffener Länder "den Westen" mehr und mehr als zerstörerischen Feind erlebten. In den jeweiligen Regionen beförderten die permanenten Erfahrungen von Kriegen, Armut und Unsicherheit viele Ängste, die ebenfalls Tür und Tor für Hass-Ideologien öffneten.

Viele nordamerikanische und europäische Medien, wie auch manche Politiker*innen, spulten die immer gleichen Schreckensbilder "des" Islam auf und ab. Immer mehr Nicht-Muslim*innen in westlichen Gesellschaften, begannen den Schock des 11. Septembers in eine aggressive Haltung gegen Menschen zu richten, die sie für Muslim*innen hielten - schon "so" auszusehen, reichte meist, um einem Generalverdacht augesetzt zu sein.

Medienpropaganda und ihre Konsequenzen

Brian Whitaker, Redakteur für den Mittleren Osten der britischen Zeitung Guardian, untersuchte diesen Tumult, indem er nachspürte, wie im Anschluss an 9/11 Muslim*innen medial zum Staatsfeind Nr. 1 ausgeschlachtet wurden. Er entdeckte, dass im Jahr nach den Flugzeug-Attentaten muslimische Menschen um bis zu 658% öfter in den britischen Medien Erwähnung fanden, als zuvor ... um bis zu 658 Prozent!

Erinnern wir uns auch an die letzte große Story in diesem Zusammenhang, an eine nicht lange zurückliegende Tragödie in Frankreich: Das Verbrechen in der Redaktion von Charlie Hebdo.Ad hoc haben im Jänner Profil und viele andere renommierte europäische Magazine wie Zeitungen mahnende Botschaften ausgesendet. Und wieder waren es "die Muslim*innen" - die als riesige Gruppe von Menschen in einen bedrohlich brodelnden Topf geworfen wurden. Abermals wurde eine, in sich unendlich vielfältige, religiöse Gruppe verallgemeinert, dämonisiert und diskriminiert. Seit dem 11. September ist auch rechtlich eine bedenkliche Schieflage entstanden: In Frankreich konnte 2004 das Tragen des Kopftuchs in öffentlichen Schulen verboten werden, nicht aber das Tragen eines Kreuzes. Die Schweiz verbot den Bau von Minaretten und das Tragen von Niqabs. Belgien tat es der Schweiz nach und setzte noch eins drauf, indem bei Zuwiderhandlung gegen das Niqab-Verbot, der Frau eine Strafe von bis zu sieben Tagen Haft droht.

Hierzulande leben Muslim*innen, die in Österreich geboren und aufgewachsen sind, aber auch unzählige andere, z.B. solche aus Bangladesh, aus Kanada, aus Somalia oder aus Russland. Sie glauben an unterschiedlichste Ausprägungen des Islam und kommen teilweise aus Ländern mit den verschiedensten geschichtlichen Backgrounds. Oftmals hat eine Muslima aus Indien mit einer Muslima aus der Türkei kaum etwas gemeinsam. So wie der irakische Muslim mit seinem evangelischen Nachbar aus Salzburg besser kann, als mit vorgeblich "Seinesgleichen". Kopftuch spielt nicht für alle eine Rolle, aber für manche durchaus. Im Islam ist wichtig, was die einzelnen praktizierenden Muslim*innen für wichtig befinden wollen - wie in jeder anderen Religion auch. Es gibt auch muslimische Migrant*innen in Österreich, die im Herkunftsland niemals daran gedacht hätten, ein Kopftuch zu tragen. Nach ihrer Migration hatten sie dann aber damit begonnen, weil sie der systematischen Diskriminierung einer Religion nicht tatenlos zusehen wollten. Sie beteiligten sich damit an der Ermächtigung muslimischer Frauen in unserer Gesellschaft, und dazu gehört die Entscheidungsfreiheit zu tragen, was immer sie wollen.

All diese Menschen aufgrund der formellen oder eingebildeten Zugehörigkeit zum Islam gleichzusetzen, als gefährlich einzustufen, sie als "unsere Werte" verweigernd zu dämonisieren oder kopftuchtragende Muslimas zu "Unterdrückten" zu stilisieren, die durch "uns Westler*innen" gerettet werden müssten, ist die eigentliche Mittelalterlichkeit im Denken. Selbstverständlich ist dabei nicht von der Hand zu weisen, dass es Frauenfeindlichkeiten in den Reihen Praktizierender des Islam gibt. Aber die gibt es nunmal auch in den Reihen der Katholik*innen, Buddhist*innen oder in den Reihen der Atheist*innen. Menschenverachtung, Gewalt und Ausbeutung sind reale und dringliche Probleme, die wir unter allen Umständen systemisch untersuchen müssen und nicht durch Hetze lösen können. Gesellschaftlich, globalpolitisch und wirtschaftlich bedingte Probleme an einer bestimmten Religion, einer bestimmten Kultur oder an einer bestimmten Herkunft fest zu machen, erschafft zermürbende Scheinkämpfe. Und die entfachen bloß noch mehr Menschenverachtung, Gewalt und Ausbeutung.

(Symbolische) Brandstiftung

Verallgemeinern und Verteufeln wir dennoch entlang oberflächlicher Kriterien, dann muss uns klar sein, dass wir damit rassistisch argumentieren. Der Grundmechanismus von Rassismus ist nämlich immer dann erfüllt, wenn wir eine Gruppe X skizzieren, deren vermeintliche Mitglieder alle gleich setzen und postulieren, dass von diesen immer bestimmte Eigenschaften zu erwarten wären. Denken in Rassekategorien kann so aussehen: Schwarze sind "wilde N*, haben riesige Geschlechtsteile und verdingen sich meist als Drogendealer (usw.)". Aber Denken in Rassekategorien geht eben auch so: Muslime sind "gewalttätig, fundamentalistisch und terroristisch", oder Muslimas sind "immer unterdrückt, integrationsunwillig und ungebildet".

Seit dem 11. September hat sich für muslimische Menschen in westlichen Ländern einiges zum Schlechten verändert. Sie sind einem medialen wie politischen Hyper-Bashing ausgeliefert, öfter von Racial Profiling betroffen, erleben fundamentale Entrechtungen bei ihrer freien Religionsausübung, müssen mit Diskriminierung am Arbeits- und Wohnungsmarkt fertig werden, sind häufiger Opfer von Gewalt und täglich Beschimpfungen und Beleidigungen auf der Straße ausgesetzt. Der damals noch eingebildete „Kampf der Kulturen“ eines gut verdienenden, ehemaligen US-Regierungsberaters, hat es über ein einziges Buch, die Medien und die nordamerikanische Außenpolitik, bis hinein in unsere Köpfe und dadurch auch in die europäischen Rechts- und Sozialstrukturen, geschafft.

Währenddessen wurden Länder im Nahen und Mittleren Osten vielfach angegriffen, die Lebensbedingungen der betroffenen Menschen katastrophal destabilisiert, radikale Gruppierungen dadurch gefördert, weitere Waffenlieferungen sorgten gleichzeitig für ein Aufrüsten derselben und nicht zuletzt stehen Guantanamo sowie andere Folterlager in westlichen Ländern für eine Stufe der Grausamkeit, die "wir" eigentlich schon längst überwunden haben sollten. Dass sich vor diesem Hintergrund viele Menschen immer noch wundern, welches Milieu bloß zu Organisationen wie dem IS beigetragen haben könnte, ist ein alarmierendes Zeichen totaler Desinformation. Gefährliches Halbwissen: Man weiß zwar, dass es den IS gibt, kaum eine*r ist sich jedoch über relevante geopolitische und globale Zusammenhänge im Klaren - die in nachweisbarer Wechselwirkung mit dem Handeln Europas und Nordamerikas stehen.

Anstatt also das 100.000ste Mal "den bösen Islam" durch die Flimmerkisten und Schlagzeilen zu hämmern, täten Medien- und Politikschaffende gut daran, sich 100.000en tiefgründigen Diskussionen mit lösungsorientiertem Blick zu widmen. Konstruktive, authentische Informationen und ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein sind notwendig, um die vielen genannten Probleme beseitigen zu können. Hymnenartige Mantras über "die muslimischen Bösewichte" jedoch schaden uns allen. Denn dieser kulturebezogene Rassismus trägt jene Gewalt in sich, vor der er sich vorgeblich zu schützen sucht - und wenn dieser Funke oft genug gezündet wird, löst er letztendlich einen Flächenbrand aus.

von Elisa Ludwig

↓ Bild im Text von Kyle Cronan, via Wikimedia Commons: Samuel Huntington - Clash of Civilizations

Der Beitrag erschien zuerst auf "Políticas - Die linke Perspektive" unter www.politicas.at und www.facebook.com/politicasblog.

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