1976 erschien Erich Fromms Klassiker Haben oder Sein. Die darin aufgeworfene Grundfrage beschäftigt uns auch 40 Jahre später. Um es mit dem an Hamlet angelehnten englischsprachigen Originaltitel zu sagen: "To have or to be", das ist hier die Frage.

Eins gleich vorweg: Das soll hier kein "Generation XYZ"-Artikel werden, dazu sind die Menschen und unterschiedlichen Gruppierungen dann doch zu heterogen. Eher der Versuch einer teilweisen gesellschaftlichen Bestandsaufnahme. Das "wir" ist insofern stets mit Vorsicht zu genießen.

Die 1970er Jahren waren geprägt von Konsumkritik; neben Fromms Werk erschienen andere Klassiker wie Galbraiths "Affluent Society" oder der berühmte "The Limits to Growth"-Bericht des Club of Rome, in Deutschland dominierte die Frankfurter Schule den Diskurs. Insbesondere die Umweltrechts-Bewegung konnte hier erste Achtungserfolge, allen voran die Stockholm-Konferenz 1972, verbuchen.

Mittlerweile scheint die Hochphase von Konsumismus und Materialismus vorüber, jedenfalls hat sich das Kaufverhalten bei vielen gewandelt. Immer weniger Menschen schaffen sich ein eigenes Auto an, stattdessen gibt es "car sharing" (ältere Herren in Luxus-Sportwagen werden von jüngeren ja eher belächelt). Markenkleidung haftet spätestens seit Naomi Kleins "No Logo" oder dem "Schwarzbuch Markenfirmen" ein fahler Beigeschmack an. Hinzu kommt, dass ehemals prestigeträchtige Konsumgüter heute für viele schlichtweg unleistbar sind oder man sein Geld zumindest anders ausgeben möchte.

Gemeint sind damit Erlebnisgüter: gutes Essen, Wandertouren mit entsprechender Ausrüstung, Laufschuhe für den nächsten Marathon, den man ganz bestimmt mitlaufen wird, Urlaube in fernen Ländern, kulturelle Veranstaltungen aller Art oder ganz einfach nur das, was man als "fortgehen" bezeichnet. Die Ansicht von Facebook, Instagram oder auch Snapchat legt den Schluss nahe, dass wir dem Sein mittlerweile wesentlich näher stehen als dem Haben.

Allein, irgendwas stimmt nicht ganz. Vielleicht trägt das Haben heute auch einfach nur ein anderes Gewand. Denn wieso teilen viele ihre Erlebnisse eigentlich so exzessiv? Was war zuerst da, die vielen Kanäle dafür oder das Bedürfnis, der Welt zu zeigen, was man tut?

Vielleicht zeugen die vielen kleinen Videos und Bildchen aus dem Urlaub, von Konzerten, Festivals, Vernissagen und Restaurantbesuchen – gerne garniert mit Hashtags a la "Foodporn" – auch einfach nur davon, dass es auch heute vordergründig ums Haben geht. Nur will man eben weniger Dinge denn Momente sein eigen nennen – gänzlich ungeachtet dessen, ob sie sich de facto so angefühlt haben, wie so manches gestelltes Grinseselfie es suggerieren mag. Was bleibt, ist das Bild, wenn man darauf glücklich wirkt, wird man es wohl auch gewesen sein. Zumal Erinnerungen ja ohnehin liquide sind und von unseren Gehirnwindungen stets neu kodiert werden; woher soll man da noch so genau wissen, wie sich irgendein Partyabend vor ein paar Jahren wirklich angefühlt hat?

Oft genug gibt es von den schönsten Momenten eben keine oder nur wenige digitale Beweise. Weil man beim gemeinsamen herzhaften Auflachen eben nicht reflexartig die Kamera zückt oder Bergluft sich ebenso wenig fotografieren lässt wie das Gefühl, in einem völlig fremden Land aus dem Flieger zu steigen.

So oszillieren wir nach wie vor zwischen Haben und Sein. Wir wollen Momente beziehungsweise Gefühle bewahren und erhalten. Gleichzeitig denkt man in einem intensiven Augenblick nolens volens nicht an Kameras und Smartphones. Sobald man ihn einfangen will, hat man ihn schon zerstört. Jeder kennt das groteske Bild von Heerscharen an Touristen, die monumentale Wunder der Natur durch die Linse ihres Fotoapparats betrachten.

"Glück kann man verdoppeln indem man es teilt" habe ich früher auf Federpenalen oder Schulbänken gelesen, heute auf so manchem Kitsch-Meme. Dass man damit das eigene Wohlbefinden zumindest steigert, gilt als "wissenschaftlich erwiesen". Insofern nur allzu nachvollziehbar, dass wir anderen gerne zeigen, was wir tun, wo wir sind, was wir erleben. Dennoch: Alles wird dosiert sein. Oft genug trägt das Haben so den finalen Sieg davon und der Moment – Stichwort Achtsamkeit, noch so ein Trend – tritt blass in den Hintergrund. Sharen ist kein Selbstzweck.

Ich glaube nicht, dass Erich Fromm eine hohe Meinung von Social Media hätte. "In Maßen" fände er es wohl ok, aber das gilt ja für so ziemlich alles. Als Seins-Gesellschaft würde er uns wohl gewiss nicht bezeichnen. Vielleicht hat sich im Vergleich zu den 1970ern weniger verändert als man bei oberflächlicher Betrachtung der Dinge meinen mag. Grund genug, Fromm auch heute, 40 Jahre später, zu lesen.

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Margaretha G

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