Je demokratischer ein Land ist, desto lauter sind die Undemokraten, ja, schlimmer noch desto mehr Undemokraten gibt es. Aber ist das überhaupt ein Paradox? Tatsächlich ist es eine notwendige Folge, aber da wir meist in Evidenzen denken, erscheint es uns nicht nur als Paradox, sondern auch als grobe Ungerechtigkeit. Demokratie setzt Wohlstand voraus, Bildung und Freiheit als Ideal. Aber nicht jeder empfindet seinen Zustand als Wohlstand, viele mögen sogar erinnerungsmäßig in einem vorhergehenden Zustand verharren. Nicht alle haben die Bildung, die sie haben könnten und haben sollten. Wir dürfen nicht vergessen, dass es eine inzwischen in zwei oder drei Generationen fortgesetzte Folge von Sozialhilfe- und Hartzvierempfängerinnen und -empfängern gibt.

Bildung ist auch nicht das einzige Ideal unserer Gesellschaft, wenn es auch nicht die krasse Intelligenzverachtung wie in den USA gibt. Schließlich empfinden recht viele Menschen die Freiheit nicht als höchst erstrebenswertes Monopol. Vielmehr glauben viele, dass Verbrechen und Unordnung zunehmen und führen selbst die Todesstrafe immer wieder als Argument vor. Das Bauparadox, die Tatsache, dass Großbauten wie der Berliner Flughafen, die Elbphilharmonie Hamburg, der Stuttgarter Bahnhof oder die Oper in Köln neuerdings unter der Last der Normen und Verordnungen zusammenzubrechen drohen, wird der Demokratie angelastet, weil es das früher, als die Demokratie noch nicht so ausgeprägt war, angeblich nicht gegeben hat. Früher gab es auf den Großbaustellen mehr Tote als Verzögerungen.

Vielleicht ist es auch immer wieder schwer, zwischen Systemimmanenz, Politik und Bürokratie zu unterscheiden. Die meisten von uns kommen nicht täglich mit Politik in Kontakt, wohl aber mit Bürokratie. Wer sein Leben nach Strafzetteln und Steuernachzahlungen bemisst, kann auch weder die große Leistung der Bürokratie – im Vergleich zu so vielen chaotischen Ländern – ermessen oder etwa die Richtungsvorgaben der Politik bewerten. Merkwürdigerweise wird von den gegenwärtigen Protestbewegungen und –parteien der angebliche Ordnungsfaktor der chaotischen Länder hervorgehoben. Zum Beispiel wird Saudi-Arabien, ein Land, indem es fast täglich willkürliche Auspeitschungen und Vollstreckungen von Todesurteilen, zudem einen grausamen und dennoch nicht erfolgreichen Krieg gibt, als Vorbild für Grenzkontrollen und Polizeistaatlichkeit erwähnt. Im Iran tobt seit Tagen ein erbitterter Kampf um die wegen der Zahlungsunfähigkeit der Regierung verdoppelten Benzinpreise, schon weit über 100 Tote sind zu beklagen, aber unsere selbst ernannten Realisten sehen darin Stärke und Ordnung.

Andererseits ist es legitim, in einer Demokratie jede Meinung laut und deutlich vorzubringen. In Deutschland sind nur ganz wenige Begriffe und Symbole davon ausgenommen, die man aber auch nicht benötigt, um seine gegenwärtigen Ansichten zu formulieren. Vielmehr gelten Hakenkreuz, Hitlergruß oder Holocaustleugnung als gezielte Provokationen. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus schien ein Optimum an Demokratie und Konsens erreicht. Niemand wollte daran denken, dass es Optima nicht geben kann. Wohl kann man etwas optimieren, aber man wird dabei kein Optimum erreichen, weil jeder Zustand ein Vektor ist. Auf dem Gipfel dieser mehr herbeigesehnten als tatsächlichen vorhandenen Konsensgemeinschaft erschien das schöne Buch DAS ENDE DER GESCHICHTE, ein Hegelsches Konstrukt, geschrieben vom Stabschef des Weißen Hauses, Francis Fukuyama. Hegel meinte mit Ende natürlich nicht den Schluss, sondern den Zustand höchsten Glückes, den die Menschheit dann nicht wieder verlassen muss.

Hegel passt aber trotzdem sehr gut in unsere Zeit, indem er sowohl als gedanklicher Vater des Marxismus (Linkshegelianismus) wie auch als preußischer Staatsphilosoph (Rechtshegelianismus) gilt, was sich an sich [auch ein Hegelianismus] ausschließt, aber durch seine ideale Konstruktion, dass alles, was wirklich auch vernünftig, und alles, was vernünftig auch wirklich sei, doch zusammengeht. Vernunft, oder besser Verstand und Vorstellungskraft, gleichen tatsächlich den Mangel an Wirklichkeit aus. ‚Der Unwissende ist unfrei‘, schreibt Hegel, ‚denn ihm gegenüber steht eine fremde Welt, … von welcher er abhängt, … ohne dass er sie … gemacht hätte.‘*

Das gilt auch für die Demokratie, von der wir alle abhängen, ohne dass wir sie immer wieder gemacht hätten. Politiker sollten mehr zum Dialog mit ihren Wählern übergehen, etwa so, wie im neunzehnten Jahrhundert in den USA die Präsidentschaftswahlkämpfe veranstaltet wurden. Dabei ist es nicht nötig, den Anteil der direkten Demokratie zu erhöhen, weil damit gleichzeitig die Unübersichtlichkeit zunimmt. Außerdem verdeckt die direkte Demokratie, die Abstimmung vieler über alle Fragen, den Mangel an Beteiligung. So werden die neuen Parteivorsitzenden der SPD in Wirklichkeit nur von zehn Prozent der Mitglieder gewollt sein.

Indes ist das Paradox der Demokratie wie unter ein Lupe durch die neuen Medien verstärkt worden.

Die Möglichkeit, alles und jederzeit kommentieren zu können, lässt den eigenen Mangel an Wissen und Denken immer mehr in den Hintergrund treten. Zwar hat es auch im Mittelalter schon den Glauben an Demiurgen und Verschwörungen gegeben, aber sie haben noch lange Zeit gebraucht, um große Wegstrecken zurückzulegen. Vielleicht, aber das ist wirklich nur eine vage Vermutung, bringen immer neue Medien den Glauben an Verschwörungen erneut hervor.

Weltweit, und wir haben es schon oft betont, nimmt, fast möchte man sagen: im Gegensatz zur Monotonie sozialer Medien, die Bildung zu. Fast nirgendwo gibt es Häufungen von gleichermaßen analphabetischen und hungernden Menschen. Diese ungeheure Dynamik des zwanzigsten Jahrhundert, das bekanntlich auch ein Jahrhundert der Zerstörung und des Massenmords war, setzt sich offensichtlich fort, selbst wenn es im Moment beträchtliche Rückschritte durch Autokraten gibt. Repressivmaßnahmen können gegen die Freiheit und gegen die Demokratie eingesetzt werden, nicht aber gegen Bildung. Auch die stärksten Wasserwerfer können einmal gedachte Zusammenhänge nicht mehr aus den Köpfen der Menschen spülen. Die Situation für die Autokraten hat sich enorm verschlechtert, woran sowohl die Bildung als auch die schon sehr weit verbreitete Demokratie schuld sind.

Es klingt immer ein wenig schamanisch oder jedenfalls fatalistisch, wenn man das Leben überhaupt als sinusförmig oder zyklisch erklärt. Der am wenigsten systematische Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts hat gleich das ganze Wort der Ewigkeit mit dem Bade ausgeschüttet: die ewige Wiederkehr des Gleichen, nicht das Aggregat ist ewig, sondern seine Wiederkehr. Nur das individuelle Leben ist endlich, es kennt Wiederholungen, und es lebt in Frieden mit dem Tod, weil es nicht an ihn glaubt.

Jedoch lehnen die Menschen sich nicht zurück und hoffen auf Automatismen, sondern sie gehen auf die Straße oder klappen die Laptops auf:

Je undemokratischer ein Land ist, desto lauter werden die Demokraten.

*Hegel, Ästhetik, Bd. 1, S. 105

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Frank und frei

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