Während Verschwörungstheorien die Kehrseite der Diktatur, die selbst eine Verschwörung ist, sind, ist die Zugehörigkeit zur vermeintlich richtigen Gruppe die Kehrseite der Angst, ja die Angst selbst. Richtig sein zu wollen ist nichts weiter als die Angst vor dem falsch sein müssen.

Parteiungen beginnen in der Familie und halten selbst dort ein Leben lang vor. Auf Klassentreffen reden wir noch nach einem halben Jahrhundert exakt mit den gleichen Leuten wie in unserer Jugend. Dagegen kann und soll man nichts tun. Aber dieser scheinbar natürliche Hang zur Apartheid führt uns leider auch in den Irrglauben, dass die eine Gruppe von Menschen falsch, die andere aber richtig sei. Das dichotomische Weltbild, die Ansicht also, dass alles zwei Seiten habe, stimmt ja schon bei der vielzitierten Münze nicht.

Jede Gruppe pervertiert, jede Meinung, die zur Institution wird, erstarrt in Rechthaberei. Obwohl jeder weiß, wie zufällig Grenzen sind, wie zufällig Geburt und Genetik und Geschick sind, halten wir selbst Ort, Zeit und Tatsache unserer Geburt für richtig. Selbst das Anwachsen der Menschheit auf unvorstellbar große Mengen schreckt uns nicht ab, an die Richtigkeit unserer Existenz zu glauben. Das ist eine Überlebensstrategie, gewiss, aber dieselbe hat mein Nachbar auch. Unsere Zugehörigkeiten zu Gruppen lassen uns gerade nicht an diese Pluralität, sondern an unsere Exklusivität glauben. Zwar zweifeln wir auch an uns selbst, aber nur, um immer wieder in den Schoß einer, der richtigen Gruppe zurückzufallen.

Die großen Ideen, Religionen und Revolutionen haben bis jetzt leider nicht den Gedanken der Gleichheit durchsetzen können, befördert worden ist er jedoch schon. Ihr Ideal ist auch nicht die Freiheit, sondern die Zugehörigkeit. Nicht nur Durchsetzungskraft und Aggressivität der Megagruppen sind dabei schädlich und zerstörerisch, sondern auch ihre jeweiligen Selbstinszenierungen als Märtyrer und Opfer der anderen. Jedes Phänomen ist sozusagen sein eigener Spiegel. Die goldene Regel, auf die sich jeder gern beruft, ist leider auch umkehrbar: Du musst immer behaupten, dass das, was du anderen antust, auch dir angetan wurde. In gereimter Form wird es nicht besser: Das, was ich selber denk und tu, das sprech ich auch den andern zu. Und jeder, der sich als Märtyrer inszenieren kann, hofft darauf, dass sein Leiden als sein Rechthaben wahrgenommen wird. Im Laufe der langen Menschheitsgeschichte gibt es Fortschritte in Technologie und Technik, sogar in Moral und Empathie, aber auch in der Rechtfertigung, und das ist ein wahrer Rückschritt.

Obwohl alle großen Propheten und Philosophen davor warnten und weiter warnen, neigen wir außer zu Ausreden und Rechtfertigungen auch zu deren Spiegelung, den Schuldzuweisungen. Weitverbreitet ist die Ansicht, dass durch Rache oder wenigstens Strafe Gerechtigkeit hergestellt würde. Obwohl es offensichtlich ist, dass Freiheit und Wohlstand viel bessere Wege zur Gerechtigkeit sind, glauben viele an die Kraft der Strafe statt an die Kraft der Liebe.

Viele Menschen haben Angst, dass jenseits der Sortierungen und Strafen eine große Leere oder Bedeutungslosigkeit oder Beliebigkeit folgen könnte. Welche Leere und Beliebigkeit war je größer als nach großen Sortierungs- und Strafaktionen? Der zweite Weltkrieg hat all diese schädlichen Gedanken ad absurdum geführt. Es gibt keine Sorten Menschen. Jede Strafe ist gleich schädlich. Vielleicht wird der Raum eng für die Kopfabschläger. Immer mehr Menschen werden taub für die Hassprediger.

Die Frage ist nur, ob die Rückzugsgefechte uns wütender erscheinen als die großen dreißigjährigen Kriege oder ob der Focus, der durch unsere flächendeckende Nachrichtenversorgung entsteht, gleichzeitig als Mikro- und Teleskop und Speicher des Bösen wirkt. Man kann es aushalten, man kann sich ändern oder anpassen, als Märtyrer sterben oder Auswandern.

Wandern ist immer mutig. Die Hutterer (siehe dort) sind vor den Rechthabern solange geflohen bis sie, und das klingt beinahe biblisch, an einen Ort kamen, an dem sie in Frieden so leben können, wie sie es für richtig halten und auch wollen. Der eine flieht vor Verfolgung, der andere flieht zum leichteren Brot, wie zum Beispiel die Siebenbürger Sachsen schon zum zweiten Mal. Niemand sollte darüber richten.

Man kann sich Nachbarn nicht aussuchen. Man kann sich Menschen nicht aussuchen, aber man muss nicht alle aushalten.

Man kann seine Angst aushalten. Man kann sich mit anderen zusammentun und eine Gruppe gründen, aber sie wird in Rechthaberei enden, besonders dann, wenn man oft recht hat. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. Ein Mann, vor wenigen Tagen in Ägypten, hatte Angst, dass sein Kamel weglaufen könnte, hat es mit gefesselten Beinen bei 43° C in der Sonne stehen lassen. Fünfundzwanzig Dorfbewohner haben vergeblich versucht, das aufgebrachte Tier zu beruhigen. Es biss seinem nichtswürdigen Besitzer den Kopf ab. Das ist verständlich, und wir sind sogar auf der Seite der gequälten Kreatur, aber richtig ist Rache nicht. Wir müssen weiter denken. Es genauso unrichtig eine Gruppe zu gründen, um eine andere auszuschließen. Man kann sich da auch nicht auf die innere Perspektive zurückziehen, der Blick von außen muss genauso möglich bleiben.

Es wäre leicht zu denken, dass sich ein Hauptbahnhof und ein Dom ausschließen, der eine ist ein Ort den Kontemplation, der meditativen Einkehr, des Gebets und des stillen Hilferufs, vielleicht auch der transzendenten Bewunderung; der andere dagegen die Quintessenz von Kommunikation, Aufklärung, Freiheit und sogar Gleichheit. Und doch stehen sie in Köln direkt nebeneinander, auf sie beide führt die Hohenzollernbrücke über den Rhein hin. Sichtbar und nachdrücklich hat die Kirche ihren Alleinvertretungsanspruch, ihre Richtlinienkompetenz und ihre Deutungshoheit verloren. Aber das ist auch gut so. Sie muss sich diese vergangenen Ansprüche nicht nur mit dem Bahnhof, sondern auch mit dem Museum für moderne Kunst, dem archäologischen Museum und der Philharmonie teilen. Die Philharmonie ist ein umgekehrter Turmbau zu Babel und leidet ihrerseits unter einer schwingenden Decke. Die Bahn ächzt unter der Konkurrenz von vielleicht hundert Fernbusunternehmen. In manchen Städten dürfen sie nicht bis ins Zentrum fahren. Im Dom dagegen dürfen auch Muslime beten, was die ultrarechten Christen und die Salafisten stört. Aber im Dom predigt auch ein Mann von gestern: er sagt, dass es so ist, weil es so ist, und will das, was er glaubt, auch gern beweisen, nur kann er es nicht. Indessen schwingt und swingt der Riesendom, die größte gotische Kirche Europas, unter den Klängen einer Megaorgel und widerspricht auf die schönste Weise aller verkündeten Demut. Auf der Treppe vor dem Dom, die konstruktiv ein Wahrzeichen der betonverstärkten Domplatte ist, sitzen Menschen aus allen Ländern und mit jedem Glauben und Aberglauben, auch Ungläubige und Widersinnige, die man früher verbrannt hätte und hat. Die Bettler spielen ihre professionelle Rolle kontinuierlich seit dem Mittelalter. Prozessionen prozessieren gegen Prozesse. Und eine Ameise zittert und zitiert aus der Bibel, die sie im Mülleimer fand: Gehe zur Ameise, du Fauler, und lerne...

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