Seit Himmler deutscher Innenminister war und die angestrebte Rassenreinheit des deutschen Volkes verkündete und für seine SS auch anstrebte, gibt es schwarze Deutsche. Seit Hitler Oberbefehlshaber der deutschen Armee war und die Erweiterung des angeblich knappen Lebensraumes versprach, sind Breslau und Stettin polnisch. Trotzdem gibt es immer noch Politiker, die davon schwatzen, dass Deutschland Deutschland bleiben muss. Wenn man nach fünfzig Jahren zum ersten Mal die Stätten seiner Kindheit wieder aufsucht, dann kann man gut verstehen, was es heißt, dass eine Sache gleichzeitig sich treu bleibt und sich verändert. Das Haus, das nicht gepflegt wird, verfällt, das Haus aber, das in einem historischen Zustand konserviert wird, steht im krassen Gegensatz zu seiner Umgebung.

Wenn wir das Schloss Versailles besuchen, versetzen wir uns ins siebzehnte Jahrhundert. Im Spiegelsaal sehen wir in blinden Spiegeln den ersten deutschen Kaiser und alle deutschen Fürsten. Sie haben sich selber vertrieben, indem sie den ersten Weltkrieg – zum Glück – verloren. Wir wollen uns nicht vorstellen, wie sich ein verführtes Volk, das einen solchen Krieg begeistert zu beginnen sich bestimmen ließ, als Sieger aufgeführt hätte. Noch einmal, diesmal aber schon entgeistert, ließen sich unsere Vorfahren bewegen, nicht nur in den Krieg, sondern auch in den Völkermord zu ziehen, ein Wort, das auszusprechen sich so viele scheuen. Es läuft einem auch kalt den Rücken herunter, wenn man es ausspricht.

Wiederholt sagten wir schon: es kommt zum Glück weniger darauf an, wo man herkommt, viel wichtiger ist es, wohin man gehen will und auch tatsächlich geht. Das Europa von 1950 bis 2015 ist die Antwort auf all diese unsinnigen, unmenschlichen und gottlosen Kriege. In diesem Bruch von 2015 zeigte sich, wie unsinnig es ist, wenn man von einem Ende der Geschichte ausgeht, wie es Hegel und Francis Fukuyama wohlmeinend annahmen. Keine Geschichte hat ein Ende, auch die Geschichte nicht. Die Geschichten (stories) gehen weiter, weil sie gelesen werden. Die Leser leben und bringen in dieses Leben ihr Wissen und ihre Gefühle und ihren narrativen Akkumulator ein. Und die Geschichte (history) hat kein Ende, weil die Menschen das Gute und das Böse nicht widerspruchslos annehmen.

Zwar gibt es in jeder Diktatur eine Kommodierung, eine Anbequemung sogar an die offensichtlich falschen Regierungsmethoden. Aber es gibt in jeder Demokratie auch einen Widerstand auch gegen die offensichtlich guten Verhaltensweisen. Die Widerständler können schon nicht mehr ertragen, dass sich ihr Land gerade in einer Hochkonjunktur befindet, keine Inflation, kein Außenhandelsdefizit. Trotzdem muss Merkel weg. Die follower des Autokraten nehmen dagegen jede Schmach und jede Unbequemlichkeit hin. In Istanbul fällt der Strom aus, die Inflation steigt und wird bald die Zehnprozentmarke erreicht haben, auch in dem Punkt scheint Russland Vorbild zu sein, der Bürgerkrieg weitet sich jetzt nach den Kurden auch auf den IS aus, mit dem es vorher eine Art Stillhalteabkommen gegeben zu haben scheint. Trotzdem ist Erdoğan der Stolz der Türken.

Ein Teil des an sich natürlich berechtigten Widerstands, hier unterscheiden sich Demokratie und Diktatur fundamental, kommt aus der Vergangenheit, die selbst dann verklärt wird, wenn sie, statt einfach zu verschwinden, unter brachialem Lärm zusammenbrach. Die Widerständler halten überlang an Prinzipien oder Erscheinungen fest, die offensichtlich in der Gegenwart nicht mehr gebraucht werden. Oder wozu brauchen wir das Gefühl, dass Breslau, das im vorigen Jahr mit großem Erfolg Kulturhauptstadt Europas war, eigentlich eine deutsche Stadt ist?

Heute endet eine Ausstellung der ‚Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen‘ im Kronprinzenpalais, die gefördert wurde vom Bundesinnenministerium, das aber ausdrücklich auf einen Beschluss des Bundestages verweist. Und das ist auch notwendig, denn die Ausstellung ist sowohl technisch absolut gestrig. Wie in den fünziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden Fotos auf Stellwände gezogen, Stellwand nach Stellwand, immer ein altes Foto und ein neues Foto. Aber schlimmer noch ist der Inhalt. Der Titel ist irreführend du führte mich fälschlich in diese Ausstellung, denn er lautet: ‚Verschwunden. Orte, die es nicht mehr gibt‘. Ich hatte also an Orte gedacht, die zum Beispiel durch den Braunkohleabbau verschwunden sind. Aber auch sie sind nicht eigentlich verschwunden, denn sie leben in den Erinnerungen ihrer einstigen Bewohner fort, manchmal wurde die Kirche umgesetzt, der Friedhof. Gemeint sind aber Orte, die heute zu anderen Ländern gehören. Inwiefern zum Beispiel Stettin verschwunden ist, konnte die Ausstellung nicht erklären. Ich kaufe hin und wieder in Stettin ein, habe im vorigen Sommer eine sehr schöne Weiterbildung über den Vergleich der beiden wiederaufgeblühten Städte Greifswald und Stettin gemacht. Meine Kollegen waren begeistert und überrascht. Da ist nichts verschwunden.

Ich vermute, dass so ziemlich jeder Mensch weiß, warum diese Städte, Dörfer und Landschaften heute nicht mehr zu Deutschland gehören. Nicht aber die Ausstellung. Sie gibt folgende ‚Ursachen des Verschwindens‘ an: ‚Entvölkerung, Kriegszerstörungen, Grenzziehungen, Entfernen von Symbolen, Kirchenfeindlichkeit und Atheismus, Preussenhass [originale Falschschreibung] und Klassenkampf, Enteignung und Planwirtschaft, städtebauliche Neuordnungen, selektiver Wiederaufbau‘. Nicht der Krieg war schuld, den Deutschland begonnen hatte, sondern der falsch geschriebene ‚Preussenhass‘? Nicht der Rassenwahn unserer Vorfahren war schuld, sondern der Atheismus der Feinde? Es gibt keine Rassen und was Himmler und Hitler da anstifteten und unsere Vorfahren ausführten, war kein Wahn, sondern leider Wirklichkeit.

Wenn wir aber diese Wörter nicht aus unserem Wortschatz entfernen, wird der unselige Geist weiter, wenn auch nur heimlich und marginal, über uns herrschen. Allerdings darf man den Wortschatz nicht administrativ ändern, dann erscheint den potentiellen Widerständlern die Demokratie als Diktatur und der Autokrat als Problemlöser.

Diese Stiftung, so jedenfalls legt es die Ausstellung nahe, ist immer noch freiwillig und sogar mutwillig und wider besseren Wissens im Gefängnis veralteter Vorstellungen. Der einzige Lichtblick in diesem muffigen Gestern war ein Film über einen in Polen verbliebenen deutschen Bauunternehmer, der in Raciborz das Eichendorffdenkmal ausgegraben hat, in der Ruine des Eichendorffschlosses in Łubowice eine Gedenkstätte betreibt und Eichendorff als Dichter der europäischen Romantik sieht.

Der Mensch verändert sich, man mag das bedauern, unser Haus verändert sich, die Stadt, in der wir leben, ist morgen eine andere als sie heute war. Ein Land verändert sich auch, wenn es keinen Krieg gibt. Veränderungen sind die Ergebnisse des Generationskonflikts, von Einwanderungen und Auswanderungen, Leben und Tod. Das Dorf Wallmow, hier gleich um die Ecke, ist zweimal komplett nach Amerika ausgewandert und dreimal komplett durch Einwanderer ausgetauscht worden, aber nicht durch Politiker, die das wollten und anordneten, sondern durch Wanderung, durch Migration, durch freie Menschen.

Jeder verteidigt seine Idylle. Es gibt keine Idylle.

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