Wir hoffen nicht nur, dass es besser wird, wir wissen auch, dass kein Zustand, erscheine er nun glück- oder unglückbringend, andauert. Der Grund dafür ist ganz einfach zu verstehen: was für uns statisch – stehend – ist, bewegt sich tatsächlich. Ein Haus oder eine Brücke werden dieser ewigen und permanenten Bewegung abgetrotzt. Aber sie stürzen unweigerlich ein, wenn ihre Erhaltung nicht ausreicht. Anfang Dezember 1984 stürzte die Marienkirche der kleinen und weitgehend unbekannten Stadt Pasewalk in Vorpommern mit ihrem Turm und dem westlichen Teil des Gewölbes ein. Gotische Bauwerke halten sich selbst. Die Kräfte, die über die Gewölbe hinaus wirken, werden von mächtigen Mauern, und wenn diese nicht ausreichen, von noch mächtigeren Stützpfeilern, aufgefangen. An dieser Kirche nun zeigten sich immer wieder Risse und Schäden, die jeweils abgestützt und aufgefangen wurden. Doch die unzähligen Ausgleich- und Ordnungsversuche scheinen sich gegenseitig aufgehoben zu haben. Zuviel Ordnung kann das natürliche Gefüge zerstören. Der Mangel an Freiheit kann eine Todesursache sein.

In diesem Städtchen nun beschloss der kriegsversehrte Gefreite Adolf Hitler, seinem unordentlichen Leben ein Ende zu setzen und ein neues zu beginnen. Vielleicht dadurch, dass es doch immer einige Menschen gab, die seiner unendlichen Reproduktion von Broschüren apokalyptischen Inhalts zuhörten, fühlte er sich ermutigt. Andere wendeten sich entsetzt oder angeekelt von dem platten Antisemitismus und Sozialdarwinismus ab, aber einige hörten gespannt zu. Es war die Zeit vor dem Radio. Aber war er überhaupt kriegsversehrt? War er blind oder simulierte er, um dem für ihn vollkommen erfolglosen Krieg zu entkommen? Immerhin hatte er es geschafft, viereinhalb Jahre als Gefreiter, also ganz unten in der Loserpose, zu verbleiben. Aber vielleicht wollte er auch unten und unerkannt bleiben, weil er einfach Angst hatte? Er war ein notorischer Schulversager und konsequenter Arbeitsverweigerer, warum sollte er sich plötzlich im Krieg hervortun?

Nach dem Krieg aber ermöglichte ihm die Demokratie ein Dasein ohne Ausbildung, Bildung und Arbeit. Was er den Juden und Kapitalisten vorwarf, wollte er selber sein. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: der kleine Wittgenstein, dem er möglicherweise, andere sagen sehr wahrscheinlich, in der Realschule Linz als Schulfreund begegnete, war alles, was er auch sein wollte: reich, intelligent, schwul, musikalisch. Und nun bot sich die Gelegenheit. Aus dem Chaos dieser Nachkriegstage machten seine Gesinnungsgenossen und er die apokalyptische Gefahr des Weltuntergangs durch den Kommunismus: in Russland hatten die Kommunisten gesiegt, in München und Berlin waren sie dem Sieg knapp entgangen. Es gab eine Gefahr, sie musste nur übertrieben werden. Andererseits war gerade die erste deutsche Demokratie geboren worden, an deren Wochenbett die sich immer wieder spaltende Sozialdemokratie Pate stand. Das war die Stunde der Scharlatane.

Selbstverständlich kann es auch eine konservative Utopie geben. Warum soll sich der Konservatismus nicht mit der Demokratie verbinden können? Stauffenberg wäre vielleicht ein solcher konservativer Utopist geworden. Wenn man aber bedenkt, wieviel Schwierigkeiten der konservative Visionär Adenauer mit der Demokratie hatte, dann können Zweifel aufkommen. Er war kein Antidemokrat aus Überzeugung, sondern der vergangene Zeitgeist, der ihn geprägt und erzogen hatte, ließ ihn immer wieder mit dem Polizeistaat liebäugeln. Er ist dann auch über die Spiegelaffäre gestolpert, wie sein politisch begnadeter Parteifreund Strauß.

Ordnung ist aber keine Vision. Ordnung ist eine Voraussetzung, bestenfalls ein Attribut. Insofern ist das oft zitierte Paar Freiheit und Ordnung höchst ungleich, aber trotzdem komplementär. Die eine Seite beschreibt mehr die Form, die andere ist das inhaltliche Ideal. Der Sklave muss, wenn er mit sich in Frieden leben will, sein Ideal aufgeben und mit dem Brotkanten auf der harten Matratze zufrieden sein. Er muss seine Kinder maßregeln, wenn sie von Türen und Fenstern und fernen Ländern reden.

Oft wird die heutige Zeit mit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts verglichen: ein Riss geht durch die Gesellschaft, erbitterte Kämpfe zwischen links und rechts, die sich gegenseitig zum Erzfeind erklären und auszuschließen versuchen. Aber gibt es überhaupt eine linke Vision oder gar Utopie, eine Partei, die die Interessen der einfachen Menschen vertritt? Es gibt den klassischen Arbeiter noch, wenn er auch von seinem Einkommen her eher zum schon oft totgesagten Mittelstand gehört. Ihn zu vertreten bedarf es keiner gesonderten Partei. Aber wer vertritt die Arbeitslosen, Sozialhilfe- und Hartz-IV-Empfänger? Brauchen sie eine eigene Partei? Warum fühlen sich so viele Ostdeutsche durch die Linke Partei allein nicht mehr vertreten? Selbst die Bewegung ‚Aufstehen‘, was ein bisschen nach ‚Deutschland erwache‘ klingt, ist mit einer Unterschriftensammlung im Sande verlaufen. Petitionen sind die neuen Revolutionen.

Was die AfD und ihre noch rechteren Freunde mit ‚links‘ meinen, ist die Demokratie, der mainstream, sind die etablierten Eliten bis weit hinein in den Mittelstand. Viele Ostdeutsche fühlen sich immer noch nicht zugehörig, sie suchen also einen Nebenarm des Hauptflusses, auf dem man auch zur Schleuse gelangt. Der Dauervorwurf an die Politiker, zunächst einmal auch an die vielen Abgeordneten, heißt Geldgier. Man kann ihr Ideal nicht erkennen und vermutet es in den Diäten. Sachlich ist der Vorwurf schnell aus der Welt zu schaffen: die Höhe der Diäten ist wie die der Rente an das Lohnniveau gekoppelt. Damit aber nicht, wie bei der Rente, die Regierung über die Bezüge der Abgeordneten entscheiden muss, tun das, demokratischerweise, die Abgeordneten per Akklamation selbst. Das will aber niemand hören, viel schöner ist es, bei dem Vorwurf zu bleiben. Er trifft immer, glauben seine Rufer. Aber was ist mit den AfD-Abgeordneten? Spenden sie ihre Bezüge den verarmten Rentnern, die sie immer als Menetekel an die Wand projizieren, oder den Obdachlosen, die sie gegen die Flüchtlinge auszuspielen versuchen? Nein, eine ihrer ersten Handlungen im Bundestag war es, belegte Brötchen für 10.000 € zu bestellen und selbst aufzuessen und dem Personalmangel mit überhöhten Gehältern, die sie sich auf Kosten der Steuerzahler nun leisten konnten, entgegenzuwirken.

Um also die formale Seite der Gesellschaft, die Ordnung, das Gesetz, die Polizei und Armee, die Geheimdienste als Vision, als Garantie, als eigentliches Ziel darzustellen und zum Inhalt einer Partei zu machen, bedarf es einer Apokalypse, der Vorstellung also, dass, wenn diese Ordnung nicht errichtet wird, die Welt untergeht. Man braucht dazu einen Feind, der die Welt zum Einsturz bringen wird. Alle Autokratien und Diktaturen machen das so. Aber denken wir an die arme Marienkirche in Pasewalk. Sie ist nicht durch die Atheisten zerstört worden, sondern durch ihre Unterstützer. Diese Art von Konservatismus, die auf einen Pessimismus auf der einen Seite, aber auf den Polizeistaat mit Mauern und Obergrenzen auf der anderen Seite setzt, wird ebensowenig gebraucht wie eine linke Vision, die die Revolution will, die den einzigen Weg zur Gerechtigkeit ausgerechnet in der Enteignung sieht. Optimismus ist also keinesfalls dümmer als Apokalypse. Misstrauen ist nur dann etwas wert, wenn es in Vertrauen gewandelt werden kann, denn es schadet dem Misstrauischen weit mehr als dem Misstrauten.

Die Angst vor dem Untergang kann am besten überwunden werden, wenn man anderen hilft. Der Sinn des Lebens ist nicht seine bloße Erhaltung durch immer wieder neue Stützen, sondern der Neubau oder der Erhalt durch konstruktiven Umbau. Leben ist nicht atmen, sondern tun, schreibt Rousseau im ‚Emile‘. Wenn die Pessimisten sich Realisten nennen, dürfen und müssen die Idealisten Optimisten sein.

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