Hätte es mehr Menschen gegeben, die an der Zersetzung der Wehrkraft gearbeitet hätten oder arbeiten würden, so gäbe es weniger Gewalt, Krieg, Bürgerkrieg, Unterdrückung und Diktatur. Diese Erkenntnis ist so trivial, dass man sich kaum traut, sie aufzuschreiben. Merkwürdigerweise gibt es aber immer noch und immer wieder Menschen, die das Wort im nationalsozialistischen Sinn verwenden, von der AfD bis zur katholischen Kirche in einer sogenannten Morgendandacht [NDR kultur 5.September 2016, 8.50 Uhr].

Sprache verändert sich, Sprache ist selten authentisch. Mit der Zunahme kommunikativer Mittel scheint die Deckungsgleichheit von Sprache und Zeitgeist zuzunehmen. Der Raum für individuelle Sprache ist, obwohl immer mehr Menschen schreiben, reden und chatten, fast nur noch professionellen Schreibern vorbehalten. Aber vielleicht war das schon immer so und wird oder wirkt nur jetzt verstärkt? Auch formal ändert sich die Sprache innerhalb eines Menschenlebens. In den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gab es in der geschriebenen Sprache noch das Dativ-e, ältere Menschen sprachen es auch noch mit, aber vielleicht nur in Zitaten. Heute weiß kein Mensch mehr, was das ist. Und es ist auch nichts anderes, als eine verzichtbare grammatische Tradition, genauso wie der Genitiv, der gerade verschwindet. Und es sind keineswegs Migranten, die solche Sätze sagen oder schreiben: ‚wir gedenken den Opfern‘, ‚aus allen Herren Länder‘. Anglismen werden eingedeutscht oder unverdeutsch übernommen, wie seinerzeit Franzismen oder Latinismen, auch war es einst Mode zu gräzisieren: Melanchton nannte sich da ein Herr Schwarzerdt. Das alles sollte uns nicht beunruhigen.

Wie aber kommt es, dass sich völlig unsinnige Wörter und idiomatische Ausdrücke aus der Nazizeit halten? Nur wenige Menschen glauben inzwischen an ‚Rasse‘ und ‚Rassenunterschiede‘. Qualitative Unterschiede zwischen geografischen Menschengruppen konnte man nur Menschen vermitteln, die nicht nur in ihrem Nationalstaat eingesperrt waren, sondern in ihrer Mehrheit nicht über die Kreisgrenzen hinauskommen konnten. Globalisierung und weltweite Migration stoßen nicht nur an die Staatsgrenzen, sondern auch an die Grenzen der Engstirnígkeit. Man hat Menschen nicht ‚aus rassischen Gründen ermordet‘, sondern man hat Menschen ermordet. Dafür gibt es keine Gründe.

Es gibt auch keine Rassen. Wir nehmen einmal einen legalen Fall. Ein Mensch wird nach geltendem Recht zum Tode verurteilt. Der Staatsanwalt, der Richter und sein Henker sind Christen. Wer hat ihnen erlaubt, einem staatlichen Gebot zu folgen, das einem christlichen Verbot zuwiderlief? Natürlich ist es unproduktiv, über die Menschen der Vergangenheit zu urteilen. Es geht auch nicht um die Vergangenheit und die Verurteilung, sondern darum, dass wir uns begrifflich und sprachlich nicht von der Vergangenheit lösen können.

Wir sprechen weiter von ‚Rassenwahn‘, ‚Rassismus’, ‚rassischen Gründen‘ und ‚Wehrkraftzersetzung‘, obwohl wir wissen oder wissen könnten, dass mit all diesen Worten tausende und abertausende Menschen umgebracht wurden. Vielleicht sterben diese Worte einfach aus, wenn die Menschen von der Erde gehen, die sie noch benutzen und verstehen? Obwohl wir die Lösung des Problems nicht wissen, erscheint uns der die Vorstellung, dass es eine reine Generationenfrage ist, zu einfach.

Es scheint vielmehr mit diesen Worten wie mit den Waffen zu sein. Wir können sie nicht aus der Hand legen. Wir glauben sie nicht aus der Hand legen zu können, weil dann die Welt zusammenbricht. Es könnte sein, dass an den Worten doch mehr ist, als die jetzige Modernität uns glauben machen will. Es könne sein, dass wir ohne diese Waffen und Worte hilflos dastehen. Sicher gibt es noch mehr Möglichkeiten, die Welt auf den empirischen Kopf zu stellen. Selten wird das Umgekehrte überprüft: Waffen und Worte können nicht nur töten, sondern haben schon millionenfach getötet. Der Mensch, wenn er glaubt, dass sein Gedanke, sein Glaube, sein Führer, sein Wort richtig ist, nimmt die Waffe und tötet seinen Bruder und seine Schwester. Der Brudermord ist eine der ältesten Parabeln. Die Sprachverwirrung als Strafe für Hybris, nationalen Wahn, übrigens auch Bauwahn, ist vergessen. Wenn aber der Google-Übersetzer die Antwort des modernen Menschen auf den Babel-Mythos sein sollte, dann stünde es schlecht um uns. Nein, die Antwort auf Babel sind die unzähligen Erzählungen, die sich weltweit verbreiten und die weltweit verstanden werden.

Allerdings spielt die Hälfte von ihnen immer noch mit den Waffen und Worten der Vergangenheit. Dass die Matrix der Erde doch die Liebe sein könnte, lässt sich in den Geschichten der Gegenwart nur erahnen. Da hat sich nicht alles so radikal geändert, wie man es sich wünschen würde. Allerdings wird das schnelle Zusammenwachsen der Menschheit, die Überwindung der Aliteralität, die weitere Zunahme und Erhöhung der Geschwindigkeit der Kommunikation dazu beitragen, dass die aggressiven Züge menschlichen Miteinanders abnehmen. Der gegenwärtige Focus der medialen Berichterstattung verzerrt das Bild der tatsächlichen Verhältnisse. Die berechtigte Empörung über die Verletzung zunehmend akzeptierter pazifistischer Sichtweisen lässt die Verletzung selbst als vergößert und sogar zunehmend erscheinen. Gleiches gilt übrigens auch für den Hunger: während er abnimmt, erhöht sich die Empörung über die verbleibenden Opfer. Dadurch, dass wir alles wissen können, können wir uns über so vieles empören. Tun wir das ein paar Jahre lang, so erscheint uns die Welt als wirklich schlecht und immer schlechter. Viele dieser Empörungen fangen so an: ‚in Zeiten wie diesen‘, was nichts weiter als eine nichtssagende Tautologie ist, oder mit dem berüchtigten ‚heutzutage‘, was erstens den Vergleich mit gestern heraufbescwört, also eine gewisse empirische Weisheit, andererseits aber auch wieder unterstellt, dass alles schlechter wird. Trotz der Allgegenwart und Beinahe-Omnipotenz der Kirche gab es früher, bis zum und vor dem neunzehnten Jahrhundert, Verbrechen gegen das Eigentum, die körperliche Unversehrtheit und das Leben. Der Staat selbst beteiligte sich munter an der Verstümmelung seiner Untertanen und glaubte wohl wirklich an das Bett des Prokrustes. Die Priester sahen grinsend zu und freuten sich an der Durchsetzung einer, wie sie meinten, göttlichen Ordnung von Mord und Totschlag, Krieg und Gewalt.

Die Waffen aus der Hand zu legen scheint, wie man dieser Tage im Sicherheitsrat der UNO sehen kann, schwerer als schwer zu sein. Die Macht hält sie mit blutiger Hand fest. Aber Worte sollten leichter wegzuwerfen sein, wenn sie ihre Untauglichkeit mehr als erwiesen haben. Sie schaden, wenn man sie weiter benutzt, der Verständigung. Sie machen glauben, dass die Welt sich nicht aus dem unseligen Dreigestirn, das bei dem Propheten Jeremia zum erstenmal steht, Hunger, Krieg und Pest, befreien und emporwinden kann. Aber lies weiter:

Wie murren denn die Leute im Leben also? Ein jeglicher murre wider seine Sünde! Klagelieder Jeremias 3,39

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