Der Punkt liegt auf der Strecke zwischen Wien und Villach, nichts Besonderes ist dort, ein Bahnhof mit Bogen und Gegenbogen, nur er kennt den Punkt.

Er fährt mit der Routine hunderter Fahrten, Handgriffe erledigen sich, alles stimmt und es sind nur noch zehn Kilometer bis zum Dienstende.

Der Rechtsbogen ist nicht zu überblicken, Gebüsch und eine Stützmauer beschränken die Sicht, auch das ist für ihn alltäglich. Dann sieht er sie, drei Gleisarbeiter die aufschauen, ihr Werkzeug fallen lassen und er bremst, er pfeift, er spürt wie sein Blutdruck steigt, sein Puls abhebt, er weiß dass er nicht mehr machen kann, als das was er schon getan hat und er wartet auf den ersten Aufprall. Ein dumpfer Knall, noch ein Knall und dann das Brechen der Knochen, es dauert fünf Sekunden nicht mehr und er fällt in den Sessel, fingert nach einer Zigarette und wartet bis der Zug steht.

Er greift zum Hörer, ruft den Disponenten an, sagt ihm was geschehen ist, legt auf, er will nichts hören, nur an seiner Zigarette ziehen, den Schreck in ihm abklingen lassen. Auch da weiß er was nun folgt, nicht aus eigener Erfahrung, aus den Erzählungen der Kollegen. Er steigt nicht vom Führerstand, zu weich sind seine Knie, er räumt seine Tasche ein, diesen Zug wird er nicht bis zum Endbahnhof fahren.

Die ersten Blaulichter sind zu sehen, Menschen auf dem Bahnsteig, sie wollen die Leichenteile sehen, Fleischfetzen, sind so gierig auf das Grauen. Ein Polizist mit Schreibblock kommt auf den Führerstand, eine erste Einvernahme. In kurzen deutlichen Sätzen sagte er was geschehen ist, unterschreibt das Vorprotokoll, die Haupteinvernahme, sagt der Polizist, machen die Kollegen bei ihm zuhause. Er sichert noch den Streifen vom Fahrtenschreiber, steckt ihn ein, er wird ihn auf der Heimatdienststelle abgeben, so sieht es die Vorschrift vor.

Mit dem Ersatzzug kommt er nach Villach, meldet sich krank und fährt mit der nächsten Gelegenheit zu seiner Dienststelle. Meldet sich ab. Die erste Nacht schläft er noch gut, die Spannungen fallen ab, er ist unendlich müde als er sich ins Bett legt.

Am Tag darauf schreibt ihn sein Hausarzt für zwei Wochen krank. Die nächste Nacht ist grauenvoll, der Punkt des Aufpralls wird zu einem Kopfkino mit Ton, er sieht die Männer verschwinden, schweißüberströmt steht er auf, setzt sich an den Tisch und raucht.

Eine Vorladung zum Betriebsarzt ist in der Post, er geht hin, redet über die Nächte, über sein latentes Übelkeitsgefühl, dass ihn im Supermarkt die Panik einholt, wenn er rohes Fleisch sieht. Der Arzt verlängert den Krankenstand und schickt ihn zu Therapeuten.

Er redet über die Bilder, die ihn verfolgen, er redet jede Woche, zwei Monate lang, die Bilder bleiben, das Kino im Kopf spielt jede Nacht dasselbe Stück. Ein Bier vergönnt er sich nach der Therapiestunde, daheim noch eines und in kurzer Zeit schafft er es auf acht Flaschen täglich. Im Rausch gibt es kein Kopfkino.

Ein halbes Jahr geht vorbei, ein halbes Jahr Therapie, der Erfolg, er ist wieder trocken. Er muss zum Betriebsarzt und das mit allen Befunden. Nach vierzehn Tagen wird er angerufen, ins Personalbüro soll er kommen. Er geht hin, sieht die Fahrzeuge auf seiner Dienststelle und er wird weich in den Knien, nie mehr wird er auf einen Führerstand steigen, egal wie und wenn er Fensterputzen müsste.

Der Personalbeamte legt ihm drei Schriftstücke vor, frühzeitige Pensionierung auf Grund seiner Krankheit, er unterschreibt und spürt nichts in sich, keine Depression, keinen Frohsinn, keine Freude, wie auch, er fürchtet die kommende Nacht mit ihren Bildern, er fürchtet die Sicht der Erinnerung auf den Punkt, der sein Leben auf den Kopf gestellt hat.

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