„Wie geht es dir?“ - „Gut.“

Du fragst mich, wie es mir geht. Willst du es denn wirklich wissen? Ist es Höflichkeit, die dich zu dieser Frage bewegt oder Interesse? Interesse an Smalltalk oder daran, was das Gegenüber gerade empfindet.

Und worauf zielt diese Frage ab - den momentanen Zustand, der sich von Minute zu Minute ändern kann. Einen Mittelwert der vergangenen Tage, pauschal gerechnet? Werden Krisen berücksichtigt? Was sage ich, wenn ich gerade aus dem Arbeitsstress komme, jedoch einen im Allgemeinen erfolgreichen Tag hinter mir habe und mich auf den verdienten Feierabend mit Freunden freue? Und - was bedeutet "gut" eigentlich? Wieviel muss an einem Tag "gut" verlaufen, um in der Gesamtwertung als ebensolches genannt zu werden? Habe ich Stress in der Arbeit, aber eine Geste der Aufmerksamkeit von meinem Partner erhalten - welchen Etiketts darf ich mich sodann bedienen?

Ich denke nach. Über deine Frage. Zögere mit der Antwort. Du bemerkst mein Zögern, verwundert. Überlegst vielliecht selbst, wie es dir gerade geht. Gut.

Nimm deine Frage zurück und denke einen Moment darüber nach, bevor die Worte deinen Mund verlassen und sich ihren Weg bahnen um sich Gehör zu verschaffen. Bist du daran interessiert, wie dein Gegenüber sich gerade fühlt? Ich meine, wirklich interessiert?

Ich könnte dir erzählen, wieso es mir gerade so gut geht. Von all meinem Luxus, meinem Glück berichten, es dir im Detail erläutern. Freudestrahlend würde ich dich teilhaben lassen. All das Gute, das mir in der letzten Zeit wiederfahren ist – einfach so. Ich bin mit mir im Reinen. Habe ein liebendes Umfeld, auf das ich mich verlassen kann. Strahlend. Hindernisse sind überwindbar mit all der Unterstützung, die ich erfahre. Dazwischen könnte ich kurz innehalten um mich zu fragen, wieso gerade ich im Moment auf der sonnigen Seite der Straße spazieren gehe. Kein Schatten droht mich einzuholen, keine Wolken sind zu sehen. Das könnte ich tun. Aber willst du das? Es könnte dich eifersüchtig machen. Oder gar neidisch. Am Ende unterstellst du mir vielleicht, dass ich das mit Absicht mache? Ich will nicht angeberisch wirken! Möglicherweise überdenkst du dein Leben, deine derzeitige Situation und stellst fest, dass du selbst nicht so zufrieden bist mit dem aktuellen Lauf der Dinge. Sagen würdest du das nicht, aber vergiss nicht, wie sensibel ich bin, ich könnte es an deinem Gesicht ablesen und mich schuldig fühlen. Denn – wärst du ohne mich auf jene Gedanken gekommen? Vermutlich nicht... Und nur weil du mich netterweise fragst, wie es mir geht, brauchst du nicht nachdenklich zu werden!

Ich könnte dir aber auch sagen, dass es mir gerade schlecht geht. Ich habe so viel zu tun, dass ich kaum noch Freizeit habe, meine Familie vernachlässige und es Probleme in meiner Partnerschaft gibt. Die Situation ist belastend. Selbstzweifel beherrschen mein Denken und wollen nicht verschwinden, was ich auch tue. Ich frage mich, wann das Leben endlich wieder Gutes für mich eingeplant hat? Wann ich wieder lachen darf? Ich suche nach dem Sinn, irre planlos umher und bin einfach gänzlich unzufrieden.

Aber dann könntest du dich verpflichtet fühlen, mir Trost zu spenden. Oder mir Mitleid – echtes oder auch nicht- entgegenzubringen. Ich brauche dein Mitleid nicht, heb es dir auf, wenn du es selbst brauchst – für dich. Da ist es besser aufgehoben! Du könntest denken, all das sei mein eigenes Verschulden, mich für unfähig erklären und über mich lachen. Das will ich nicht. Allerdings könntest du Vergleiche anstellen und zu dem Schluss kommen, dass du mit deinem Leben zufrieden sein kannst, auch wenn es nicht perfekt verläuft. Meine miese Situation hätte somit einen Sinn erhalten. Dann könntest du dich zufrieden lächelnd zurücklehnen und beginnen, mir mit abgedroschenen Phrasen gönnerhaft Trost zu spenden. Um dein Gewissen zu beruhigen. Dich in einem guten Licht erstrahlen zu lassen. Allerdings - willst du mir wirklcih helfen?

Bedenke all das, wenn du dich das nächste Mal nach meinem Befinden erkundigst, denn hinter dieser Frage steckt soviel mehr, als man vermutet - für beide Seiten.

„Wie geht es dir?“ - „Gut.“

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Ibrahim

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Iris123

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