Der sechsjährigen Germaine Zenhäusern ist die Situation ein wenig unheimlich. Eigentlich sollte sie zur Grossmutter an diesem 3. März 1957. Doch im beschaulichen Walliser Bergdorf Unterbäch, 1200 Meter über Meer, herrscht reger Betrieb: Reporter aus dem In- und Ausland sind angereist, sogar ein Korrespondent der New York Times ist zugegen - der laut der Legende trotz guter Deutschkenntnisse kein Wort “Wallisertiitsch“ verstand.

Den Anlass dazu gab ein Beschluss, der global betrachtet zwar nichts Neues, in der Schweiz aber geradezu revolutionär war: Das Frauenstimmrecht. Katharina Zenhäusern, Germaine Zenhäuserns verstorbene Mutter, ist die erste Frau, die jemals ihren Stimmzettel in eine schweizerische Abstimmungsurne legte. Insgesamt nahmen an diesem Tag 33 der 84 berechtigten Frauen teil an der Abstimmung über die Einführung einer Zivilschutzpflicht für Frauen. „Ihre Stimmkarten wurden allerdings in einer separaten Urne gesammelt, damit die der Männer gültig blieben“, erzählt Germaine Zenhäusern fast 60 Jahre später. So war es dann keine politische Beteiligung, sondern viel mehr eine symbolische – allerdings eine sehr gewichtige. Eine juristische Grundlage für das Frauenstimmrecht existiere damals noch nicht und der Walliser Staatsrat sprach sich ausdrücklich dagegen aus.

Germaine Zenhäusern ist eine rüstige, direkte Frau, spricht mit Leidenschaft und breitem Walliser Akzent. Von ihrer Wohnung direkt neben der Seilbahnstation fällt der Blick auf die Stadel und Holzhäuser im Dorfkern, die weisse Skipiste und die Berge auf der anderen Seite des Tales, eine wuchtige und durchgehende Kette, soweit das Auge reicht. Wie kam es, dass in diesem abgelegenen Walliser Örtchen das erste Zeichen für die politische Gleichberechtigung der Frauen gesetzt wurde? In Zenhäuserns blauen Augen blitzt die Kämpferbereitschaft auf – und vielleicht auch ein wenig Stolz. „Mein Vater war damals Gemeindepräsident und Grossrat. Ein sehr guter Freund von ihm, Peter von Roten, war Nationalrat und verheiratet mit der Frauenrechtlerin Iris von Roten.“

Peter von Roten und Paul Zenhäusern setzten es durch, in Unterbäch die Frauen zur Abstimmung zuzulassen. Dies sorgte auch innerhalb der Dorfgemeinschaft für einigen Wirbel. „Es gab viele, die dafür waren, aber auch viele, die dagegen waren – Männer wie Frauen.“ Die Befürworter waren dann aber doch in der Überzahl, was sich spätestens herausstellte, als die Unterbächer Frauen im Herbst desselben Jahres das kommunale Wahl- und Stimmrecht erhielten. „Deshalb wird Unterbäch auch das Rütli der Schweizer Frau genannt.“

Zenhäusern spricht offensichtlich gern über diese vergangene Zeit und ihr Heimatdörfchen. Sie wird nicht müde, die Vorzüge ihres Geburtsorts zu betonen. Ruhig und schön gelegen, aber dank des ausgebauten Verkehrssystems gut erreichbar. „In weniger als zwei Stunden kannst du in Bern sein.“ Dort arbeitet sie, obwohl sie bereits pensioniert wäre, drei Tage die Woche im Museum für Kommunikation. Sie schwärmt für Hemigways Geschichten und die Länder Südostasiens. Indien hat sie bei ihren Besuchen stark in seinen Bann gezogen, aber zuletzt verzichtete Zenhäusern auf eine Reise dorthin. „Ihr Umgang mit Frauen...“, sagt sie, mit bedauerndem Ton in der rauen Stimme, „...das ist nicht in Ordnung.“ Ganz wie ihre Familie ist Zenhäusern immer politisch und kämpferisch gewesen - letzteres wohl sogar noch mehr. „Mein Vater und ich haben auch gelegentlich Streit geführt über unsere politischen Ansichten.“ Ihr Verhältnis habe das nicht belastet. „Wir haben immer miteinander geredet und den anderen respektiert. Das sollte ja in der Familie auch so sein.“ Gemeinsam ist Vater und Tochter das Engagement für die Frauen. Katharina Zenhäusern sagte einmal über ihre Tochter, in dieser Hinsicht sei sie „ganz de Bape.“

Nur einige Meter von Germaine Zenhäusers Wohnung entfernt liegt das Frauenstimmrecht-Denkmal sowie die letzte Etappe des Frauen-Zitate-Weges, die 2011 mit einer grossen Feier eingeweiht wurde. Als Ehrengast dabei war die damalige Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey, die gleich auch das Zitat lieferte: „Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Demokratie können Frauen und Männer nur gemeinsam verwirklichen.“

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Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 29.03.2017 09:14:23

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