Warum sitzt die Regierung eigentlich im Parlament?

In Deutschland gibt es bei breiten Bevölkerungsschichten eine fast religiös anmutende Verehrung für unser Grundgesetz. Da wir Deutschen (vor allem im Westen) mit diesem Gesetzestext Jahrzehnte in Frieden und Freiheit verbringen konnten, ist diese hohe Akzeptanz durchaus nachvollziehbar. Aber ist sie auch berechtigt?

Wie viel eine Verfassung wirklich taugt, erweist sich ja nicht in den guten Tagen eines Volkes, also jenen Tagen allgemeiner Zufriedenheit und geringer äußerer Bedrohung, sondern erst in der Krise wird deutlich, was wirklich belastbar ist und was sich dagegen als dekorative Verfassungslyrik entlarvt.

Gewaltenteilung gilt wohl unstrittig als eines der grundlegenden Prinzipien demokratischer Verfassungen. Legislative, Judikative und Exekutive konstituieren sich weitestgehend unabhängig voneinander und kontrollieren sich gegenseitig. Über das Grundrecht der Pressefreiheit legitimiert, sollte die freie Presse als inoffizielle „vierte Gewalt“ die drei anderen Gewalten kontrollieren. Dies tut sie gewissermaßen im Auftrag des Bürgers, der nicht alle Vorgänge selbst nachvollziehen und kontrollieren kann.

Wie steht es also mit dieser Gewaltenteilung in Deutschland? Schon bei einem Blick in unser Parlament, dem Sitz der Legislative, müssten dem aufrichtigen Demokraten erste Zweifel kommen, denn dort sitzt breit und fett die versammelte Exekutive. Sämtliche Minister sowie die Chefin der Exekutive, die Bundeskanzlerin, sind dort versammelt. Und diese sitzen dort nicht etwa als brave Zuhörer, sondern dominieren den Kurs der Debatte und haben zumeist sogar Stimmrecht - in der Legislative! Weniger Gewaltenteilung und mehr Verquickung zwischen Legislative und Exekutive ist eigentlich kaum möglich! Es sei denn man verzichtet ganz auf diese Unterscheidung. Und darüber hinaus bestimmt diese Mischung aus Legislative und Exekutive (Bundesrat und Bundestag) auch noch im Alleingang die Judikative. Sie ernennt also jene Instanz, die sie im Dreieck der Gewaltenteilung final kontrollieren sollte, nämlich die Verfassungsrichter. Glücklich ist, wer sich seine Richter ganz allein aussuchen darf, kann man dazu nur sagen! Und es ist daher kein Zufall, dass sich dort vermehrt Ex-Politiker finden oder zumindest Richter mit Parteibuch. Diese lassen dann gnädigerweise ihre Parteimitgliedschaft für den Zeitraum ihres Richteramtes „ruhen“ - Na wenigstens das! Halleluja! Es verwundert so auch wenig, dass unsere obersten Richter, wenn es um wirklich relevante politische Fragen geht bei denen zudem eine hohe Einigkeit innerhalb der etablierten Parteien besteht, so gut wie nie den Mut oder den Willen aufbringen, dem Gesetzgeber in die Parade zu fahren (siehe „Eurorettungspolitik“, NetzDG, diverse GEZ-Urteile etc.). Aber genau dies wäre die vornehmste Aufgabe dieses Gerichts, nämlich durchgepeitschte Konsensentscheidungen der Legislative zu stoppen. Denn dies Gericht ist nicht als bloße Schlichtungsstelle bei Streitfragen zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition gemeint, sondern es stellt die vor-vor-letzte Verteidigungslinie zwischen einem Rechtsstaat und einem Unrechtsstaat dar. Und diese Verteidigung muss genau dann funktionieren, wenn der Parlamentarismus ausgehebelt wurde. Dass der Parlamentarismus nicht mehr funktioniert, kann man immer schnell daran erkennen, dass im Parlament so gut wie alle einer Meinung sind; man nennt das auch Gleichschaltung. Man muss an dieser Stelle nochmals daran erinnern, dass im aktuellen Bundestag rund 15 Prozent der Wähler(!) ganz „legal“ gar nicht repräsentiert wurden und zwar auf Grund der äußerst fragwürdigen Fünf-Prozent-Klausel. 15 Prozent der Wähler bei der letzten Bundestagswahl wurde also das schlechthin grundlegendste demokratische Wahlprinzip der „Gleichwertigkeit jeder Stimme“ verwehrt. Das ist ein absolut undemokratischer Zustand, an den sich die braven Bundesbürger auf Grund einer sehr zweifelhaften Begründung („Lehre aus der Waimarer-Republik“) leider bereits weitestgehend gewöhnt haben. Ich nenne diese Begründung zweifelhaft, weil die NSDAP bei Reichstagswahlen selbst nie weniger als 18 Prozent erzielt hatte. Um eine neue NSDAP zu verhindern, müsste es also eher eine 19-Prozent-Hürde geben. Dies zeigt schon, wie absurd es ist, die Demokratie dadurch stabilisieren zu wollen, dass man Wählern ihr grundlegendstes Recht auf Stimmengleichheit raubt. Als Konsequenz aus der fatalen Gleichschaltungspolitik der Nazis wurde also letztlich der demokratischen Pluralismus eingeschränkt. Das war im Grunde DIE propagandistische Meisterleistung der Nachkriegszeit. Mit dieser Regelung hat sich das politische Establishment recht lange vor jedweder lästiger Konkurrenz schützen können. Der durch die Kriegs- und Nazigreul traumatisierte Nachkriegsbundesbürger, der sich die Demokratie nicht selbst erkämpft hatte, sondern sie gewissermaßen geschenkt bekam, akzeptiert brav was er als Demokratie vorgesetzt bekam.

Doch nun zur vor-letzten Verteidigungslinie zwischen der demokratischen Verfasstheit eines Staates und einer Willkürherrschaft. Diese vor-letzte Reißleine sollte die schon eingangs erwähnte „vierte Gewalt“ sein: Die freie Presse. Entscheidend ist hier das Adjektiv „frei“, denn so etwas wie eine „Presse“, also Propaganda, Sportnachrichten und Geschwätz, gibt es auch in jedem totalitären System. Ähnlich wie bei der Fünf-Prozent-Hürde wurde auch hier nach dem Krieg der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Die Konsequenz aus dem nationalsozialistischem Staatsradio, dem sogenannten Volksempfänger, war die Etablierung des teuersten und größten staatlichen Rundfunks der Welt! Dieser hat (bis zum heutigen Tag) im Nachrichtensektor das, was man eine marktbeherrschende Position nennt. Was politische Radio- und Fernsehangebote angeht, kann man ohne weiteres von einem Quasi-Monopol reden. Konkurrenz zum staatlichen Angebot in diesen Medienkanälen ist wirtschaftlich nicht finanzierbar und unterbleibt daher weitestgehend. Sollte es doch mal ein Sender wagen inhaltlich relevant abweichend zu berichten oder zu kommentieren, wird auf allen Kanälen umgehend in den Dauerdiffamierungsmodus geschaltet.

Glücklicherweise regt sich Widerstand heutzutage wenigstens im Internet. Dieser Gegenöffentlichkeit wird jedoch, man denke nur an das „NetzwerkDurchsetzungsGesetz“, recht unverhohlen mit klassischen Zensurmaßnahmen begegnet. Wie diese Unverfrorenheit möglich ist, sollte nun klar geworden sein: Wir haben eine veritable Verfassungskrise! Die demokratisch notwendigen Kontrollmechanismen wurden entweder niemals wirklich in unserem Grundgesetz implementiert oder sie wurden mittlerweile de facto außer Kraft gesetzt.

Dass dies alles anders laufen kann, sieht man derzeit in den USA. Dort ist die Gewaltenteilung in der Verfassung viel stärker realisiert als hierzulande. Die „Schwierigkeiten“ auf die Trump bei der Realisierung seiner Agenda stößt, sind die Hürden, die sich aus einer funktionierende Gewaltenteilung zwangsläufig ergeben müssen. Dass unsere Presse diese Schwierigkeiten als Beleg für die Unfähigkeit von Donald Trump interpretiert, zeigt nur wie demokratiefeindlich diese Journalisten im Staatsdienst bereits geworden sind. Denn eine „funktionierende“ Demokratie erkennt man nicht daran, dass es im Gesetzgebungsprozess „flutscht“ (so wie in Deutschland), sondern dass es Widerspruch gibt und dass es „knirscht und kracht“. Ja, Demokratie ist anstrengend! Aber der wirklich mündige Bürger versteht das sehr wohl.

Und da sind wir auch schon bei der allerletzten Verteidigungslinie für die Demokratie angekommen: Das sind wir selbst! Der Souverän, die Bürger dieses Landes, die Wähler. Wir sind es, die letztendlich diese Demokratie verteidigen und stärken müssen. Und wir dürfen nicht stehen bleiben, bei der Bewältigung tagespolitischer Probleme, sondern wir müssen auch Konsequenzen einfordern aus dem aktuellen Versagen wichtiger Verfassungsorgane. Über zu etablierende direktdemokratische Elemente müssen wir auf demokratische Reformen unserer Verfassung hinwirken. Wir müssen die Konstruktionsfehler der Parteiendemokratie, die zu Filz, Pfründewirtschaft und politischer Gleichschaltung führen, sorgfältig analysieren und behutsam beheben. Freiheit und Demokratie, das lehrt die Gegenwart, müssen auch heutzutage täglich neu erkämpft, gepflegt und verteidigt werden. Das ist unsere verdammte demokratische Pflicht.

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