Der Tiger von Eschnapur

...ist kein Film, den nicht zu kennen man sich schämen müsste. Gäbe es nicht Arte, wäre er schon jetzt von der Bildfläche verschwunden. Gleichwohl ist er ein Stück Film- und Fernsehgeschichte. Schon wegen Fritz Lang, der den Film gleich zwei Mal machte. 1921 schrieb er für die Hollywood-Fassung das Drehbuch; 1958 durfte er für den Produzenten Artur Brauner eine deutsche Fassung in europäischer Gemeinschaftsproduktion auch als Regisseur drehen.

Dass der Film erst 1970 ins Fernsehen kam und für ein paar Jahre neben bzw. als Nachfolger von Sissy zusammen mit dem zweiten Teil "Das indische Grabmal" das Fernsehprogramm zu Weihnachten beherrschte, legt Zeugnis darüber ab, wie lange es damals noch dauerte, ehe ein Kinofilm ins Fernsehen kam. Heute sind die Filmemacher ja froh, wenn ihre Film nicht vor der Premiere schon auf den PCs laufen.

Der Tiger von Eschnapur war der klassische Familienfilm: Die Kinder mochten die Elefanten, den Tiger, das märchenhafte Drumherum von glänzenden Stoffen, riesigen Edelsteinen und die geheimnisvoll-schönen Häuser mit allerlei Schnickschnack. Die Frauen (darunter meine Mutter, die sich nicht genug damit tun konnte) liebten Paul Hubschmid, die tollen Klamotten und die Tatsache, dass eine Frau von zwei Männern umkämpft wird. Und die Männer nahmen Paul Hubschmid in Kauf, mochten aber in Wahrheit René Deltgen, der zwar diesmal den Bösen spielte, sich aber ein paar Jahre vorher als Hexer hervorgetan hatte. Und nie im Leben hätten sie zugegeben, dass sie den Film, nachdem sie das Ende aus dem letzten Jahr schon kannten, nur deswegen noch einmal ansahen, um noch einmal den Tanz der Tänzerin vor der Göttin zu sehen. Dieser Tanz hatte schon sehr etwas Heißes. Man darf annehmen, dass der Choreograph einige Anleihen in gewissen Etablissements genommen hatte, die sich der Normalverbraucher in jener Zeit wohl eher nicht leisten konnte. So blieb der Tanz, was er wohl sein sollte: ein Lobpreis der Göttin.

Aber schauen wir uns Paul Hubschmid, den Hauptdarsteller, an, der - was ich betonen möchte - ja nur tat, was ihm das Drehbuch vorschrieb.

Vom Maharadscha aus Europa geholt, sollte er, Architekt, den er spielte, in Indien Häuser bauen. Zufällig rettet er die Tänzerin vor dem titelgebenden Tiger, was ihm noch mehr Herrschergunst einbringt, denn der Maharadscha liebt die Tänzerin. Trotzdem hat Hubschmid nichts Besseres zu tun, als sich in die Tänzerin zu verlieben, die ihm durchaus auch zugetan ist. Klar, er hat sie gerettet. Und sowieso ist die Liebe eine Himmelsmacht.

Dass Hubschmid, wenig respektvoll, uneingeladen in den Herrschertempel eindringt, nebenbei beinahe ein paar Leprakranke (die schon etwas von Zombies haben, aber das Genre war damals noch nicht so beliebt) freilässt, die Tänzerin heimlich im Palast besucht ... Nunja, die Tänzerin sagt es ihm selbst, nachdem sie sich einen Moment lang wohlig in seinen Armen gewunden hat: "Das ist Indien. Du verstehst dieses Land nicht.", was H. keineswegs aus der Fassung bringt, sondern ihn sagen lässt, dass sie ja doch zur Hälfte (oder so) auch Europäerin sei.

Aha.

Ihre teilweise europäische Herkunft rechtfertigt was?

Sich im Gastland zu benehmen wie jemand, der nichts versteht und deswegen alles nach eigenen Maßstäben misst?

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Jaja, natürlich kann so etwas nur von mir kommen.

Natürlich relativiere und entschuldige ich alles.

Was ja nicht wirklich stimmt. Ich gebe lediglich zu bedenken, dass der Mensch als solches, selbst wenn er halbwegs intelligent und kultiviert ist, nicht viel Gespür für das Fremde hat. Und dazu neigt, die eigene Art des Denkens, die eigene Kultur für das einzig Richtige zu halten.

Natürlich muss man die Dinge aus dem Kontext ihrer Zeit wahrnehmen. Hinterher zu urteilen, ist vermutlich blöd, weil ... danach ist man immer klüger. Wenn man Glück hat.

Ich nehme weder Lang, noch Hubschmid, noch meinen Eltern es übel, dass sie diesen kurzen Wortwechsel als etwas betrachteten, das man damals so sah und deswegen getrost als gegeben überhören konnte. Damals, als der Mensch der westlichen Welt wahrscheinlich wirklich kultivierter und gebildeter war als der Rest. Damals, als es noch die letzten Kolonien gab. Damals, als sich in den ersten "befreiten" Ländern zeigte, dass sie ohne die Herrscher aus der westlichen Welt auch nicht besser, sondern eher schlechter klar kamen.

Ich frage mich nur, warum nicht bereits damals irgendwer einen Gedanken daran verschwendet hat, warum das so war und vielfach auch heute noch ist.

Aber noch mehr frage ich mich, warum Menschen aus der Folge- und deren Folgegeneration nicht langsam anfangen nachzudenken.

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Sophia M.

Sophia M. bewertete diesen Eintrag 03.11.2017 11:43:41

robby

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