Ein bemerkenswerter Aufschrei ging durch den Osten der Alpenrepublik, als sich der Wiener Landtagsabgeordnete Şenol Akkılıç nach dreißigjährigem Grünen-Dasein aus heiterem Himmel der SPÖ anschloss. „Man wird doch wohl noch gscheiter werden dürfen“, könnte man den Erregten in kreiskyhaftem Ton entgegenhalten. Schließlich sei ein Fraktionswechsel ja nicht nur durch das Freie Mandat abgedeckt, sondern in einem funktionierenden parlamentarischen System auch durchaus ab und zu belebend. Doch dass durch just dieses eine Mandat die Sozialdemokraten eine oppositionelle Stimmenmehrheit neutralisieren, wiegt wohl schwere als die launige Erinnerung an den früheren SPÖ-Kanzler. – Dabei sind solche Vorgänge in anderen Parlamenten business-as-usual.

Ob nun tatsächlich dunkle Machenschaften oder bloß ein in Aussicht gestelltes „sicheres“ rotes Mandat hinter der Aktion von Akkılıç stecken, wird möglicherweise die von den NEOS bei der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft hinterlegte Anzeige gegen Akkılıç zeigen. – Doch ist die Motivation für sein Handeln überhaupt von Relevanz? Ist nicht der Vorgang an sich schon unüblich und schwerwiegend genug, um sich Sorgen zu machen?

Zeichen für instabiles politisches System?

Das österreichische parteipolitische System ist über Jahrzehnte hindurch ausgesprochen starr gewesen und lockert sich erst seit kurzem. In knapp siebzig Jahren haben als einzige politische Partei die Grünen (1986) „von außen“ den Einzug in den Nationalrat zustande gebracht. Erst 2013 – also 68 Jahre nach den ersten freien Wahlen der Zweiten Republik – gelang den NEOS ein ebensolches Kunststück.[1] Kein Wunder also, dass jede Bewegung zwischen den Fronten mit besonderer Sorgfalt beobachtet und oft mit entsprechender Häme kommentiert wird.

Im Allgemeinen gelten besonders häufig auftretende Parteiwechsel von Mandataren als ein Zeichen für instabile politische Systeme und zum Teil werden sie auch „südlichen“ Staaten als besonderes Charakteristikum zugeschrieben (siehe z.B. Definition auf Wikipedia [http://de.wikipedia.org/wiki/Parteiwechsel_%28Politik%29]). In diesem Licht mag Österreich als ein Hort der Stabilität erscheinen: Mit bloß einer handvoll Aus- und/oder Übertritten bis zur Gründung des Liberalen Forums (1993) ließe sich das scheinbar recht leicht argumentieren. Auch die freiheitlichen Abspaltungen der Post-Knittelfeld-Ära (einschließlich des stark durch ehemalige BZÖ-Funktionäre geprägten „Team Stronach“) können das jahrzehntelang starre Erscheinungsbild kaum nachhaltig in Frage stellen. Doch ist dem wirklich so? – Wer die Bundesebene für einen Augenblick außer Acht lässt, sieht z. B. in Niederösterreich seit bald dreißig Jahren einen der SPÖ zunehmend schadenden Trend zu Bürgerlisten-Bürgermeistern in ehemals „roten“ Gemeinden. Auch „FRITZ“ und „Vorwärts“ im Tiroler Landtag sind in diesem Zusammenhang wohl bemerkenswerte Sondererscheinungen.

Wenn Mehrheiten wechseln: Fallbeispiel Rumänien

Ein EU-Staat, in dem wechselnde Mehrheiten im Laufe ein und derselben Legislaturperiode geradezu auf der Tagesordnung stehen, ist etwa Rumänien: Gegen Ende der 2013 abgeschlossenen vierjährigen Frist wurde festgestellt, dass unter den rumänischen Abgeordneten[2] im Bukarester Parlament ein Viertel (25%) mindestens (!) einmal die Fraktionszugehörigkeit gewechselt hatte. 2012 hatte durch die Verschiebung der mehrheitlichen Unterstützung von der christdemokratischen PDL hin zur sozialliberalen Allianz auch ein Regierungswechsel stattfinden können. Beide Seiten warfen einander (je nach Konjunktur) vor, bloß auf der Basis der Unterstützung von „traseişti politici“ (rum. Ausdruck für Parteiwechsler, der in einer leicht schlüpfrigen Art und Weise auch „Prostitution“ suggeriert)regieren zu können. Und beide Seiten hatten damit natürlich recht. Eine tragfähige Mehrheit zu bilden, ohne zumindest einen Teil dieser Mandatare hinter sich zu wissen, wäre jedoch quasi unmöglich gewesen. – In diesen Tagen und Wochen wird wieder eifrig an der Bildung einer „neuen Mehrheit“ gearbeitet, um Premierminister Victor Ponta und seine sozialdemokratisch-liberale Koalitionsregierung durch ein christdemokratisches Kabinett ablösen zu können.[3]Über kurz oder lang wird dies mit Sicherheit auch wieder gelingen.

Wie wird in Rumänien damit umgegangen?

Scheinheilig. – Einerseits kritisiert selbstverständlich die jeweilige Opposition die Praxis immer auf das Schärfste, andererseits wendet sie sie ungeniert selbst an, um in die Exekutive wechseln zu können. Trotzdem gibt es eine im Allgemeinen vom politischen Establishment goutierte und von der Bevölkerung offensichtlich verinnerlichte Aufgeschlossenheit gegenüber dem Parteienwechsel: Seit drei Jahren kommt eine Wahlrecht zur Anwendung (votul uninominal), bei dem – ähnlich einem Mehrheitswahlrecht – den Persönlichkeiten der Kandidaten Vorrang gegenüber den Parteien eingeräumt wird. Es gibt bei nationalen Parlamentswahlen keine Listen mehr und die Parteien unterstützen pro Wahlkreis einen einzigen Kandidaten.[4] Dies nimmt allen Initiativen gegen grassierendes „Wandern“ zwischen den Fraktionen den Wind aus den Segeln und fördert natürlich die absolut freie Mandatsausübung durch die Abgeordneten. Dass auch das schimpfende Elektorat dies am Ende als „normal“ empfindet ist an den Wahlresultaten erkennbar: Durch wiederholtes Wechseln der Parteimitgliedschaft macht man sich in Rumänien mitnichten „unwählbar“. – Auf Gemeindeebene wird übrigens diametral anders gearbeitet: Hier wurde eine Art Imperatives Mandat beschlossen, das den Parteien die Möglichkeit gibt, übergetretene Lokalräte (Gemeinderäte) zum Verzicht auf ihr Mandat zu zwingen.

Dies alles ist in Rumänien vor allem deshalb möglich, weil es einen breiten gesellschaftlichen, an ideologischen Grundsätzen orientierten politischen Diskurs kaum in Ansätzen gibt. Dabei handelt es sich nicht um ein „postkommunistisches“ Erbe: Satirische Schriftsteller haben sich schon zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts über die Praxis des konjunkturbedingten Parteienwechsels unter rumänischen Abgeordneten lustig gemacht. Zwar ist es heute nicht mehr die Zugehörigkeit zu verschiedenen Politikerdynastien, denen in der öffentlichen Wahrnehmung der Vorrang gegenüber Parteiprogrammen gegeben wird. Trotzdem ist auch jetzt noch die Personengruppe, mit der ein Mandatar „mitgeht“ viel ausschlaggebender, als die (scheinbare) Richtung, in die gegangen wird.

Akkılıç – Einzelfall oder Symptom?

Die Tradition der Parteiendemokratie ist natürlich in Österreich ungleich tiefer verwurzelt als in Rumänien. Immer noch können sich zumindest Rot und Schwarz auf ein bundesweit wohl zweistelliges Stammwählerpotential verlassen. Gleichzeitig wird der Begriff „Ideologie“ aber auch in Österreich zunehmend als Bobo-Kampfbegriff eingesetzt und mit Leidenschaft in die graue Vergangenheit des Zwanzigsten Jahrhunderts verbannt. Wer sein Image nicht nachhaltig beschädigen möchte verzichtet besser auf ideologische Grundsätze oder verheimlicht seine Überzeugung zumindest. „Ohne ideologische Scheuklappen“, frisch und munter wird entdeckt, dass „der Mensch“ in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung zu stellen ist, weil dieser ja „wichtiger als irgendwelche -ismen“ sei.

Dass der Fraktionswechsel des Landtagsabgeordneten Akkılıç ein doch ziemlich deutliches Murren verursacht hat zeigt einerseits, dass im konkreten Fall offenbar weniger die individuellen Qualitäten des Mandatars, seine Überzeugungen oder ein etwaiger „Verrat“ an der Ideologie im Zentrum stand, sondern eben seine arithmetische Größe, die – wie im rumänischen Parlament – eine neue Mehrheitssituation bewirkt.

Was bleibt ist das Phänomen, dass in Österreich ein bisher bundesweit eher wenig in Erscheinung getretener Wiener Landtagsmandatar durch ein Verhalten an Bekanntheit gewinnt, das ihn in Rumänien wohl nicht mal in die Hauptnachrichten bringen würde. Ob das gut ist oder schlecht, mag jeder Mensch anders beurteilen. Angesichts der zur Tugend erklärten Ideologieferne eines wachsenden Teils der Mandatare sollten die Menschen in Österreich aber langsam beginnen, sich an „traseişti politici“zu gewöhnen.

[1]Die Parlamentarier des Liberalen Forums, des BZÖ und des Team Stronach hatten mehrheitlich in der Gründungsphase der jeweiligen Fraktion bereits eine Parlamentskarriere hinter sich.

[2]Die Abgeordneten der ethnischen Minderheitsparteien sind hier nicht mitgerechnet.

[3]Die Aussicht auf Erfolg ist vor allem deswegen sehr hoch, weil Pontas PSD der liberale Koalitionspartner PNL abhanden gekommen ist: Die PNL hat die PDL geschluckt, versteht sich als „christdemokratisch“ und ist nun Mitglied der EVP. Nur ein harter Kern rund um Senatspräsident Călin Popescu Tăriceanu hat sich als „sozialliberale“ PLR neu formiert und hält dem roten Koalitionspartner die Treue.

[4]Ein klassisches Mehrheitswahlrecht ist es dennoch nicht, weil durch ein aufwendiges Durchrechnungsverfahren auch zweitplacierte und andere zu Mandaten kommen können.

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