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Gerade entbrennt die Diskussion über die Frage, ob Frau Merkel noch einmal für das Amt der Bundeskanzlerin antreten wird. Neben der Problematik, ob eine Demokratie 16 Jahre währende Regentschaften überhaupt verträgt und ob diese, wie schon zu Zeiten Kohls, nicht einfach nur ein weiteres Zeichen dafür sind, dass die Fähigkeiten zur demokratischen Selbsterneuerung innerhalb der Parteistrukturen ins Stocken geraten, ist es selbstverständlich auch die Uneinigkeit über die Rolle Merkels in der Flüchtlingsfrage, die die Gemüter umtreibt.

Ein Kabarettist sagte über Bundeskanzlerin Merkel einmal, es sei wahre Kunst, wenn die Leute einen mit der eigenen Politik gar nicht mehr in Verbindung brächten.

Wie richtig er damals, noch vor der berühmt-berüchtigten Aussage „Wir schaffen das“ lag, zeigen die Reaktionen von links und rechts auf diese rhetorische Seifenblase.

Wer erinnert sich nicht an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Da konnte sich das Volk vortrefflich streiten über die Muster und Farben der nicht vorhandenen Kleidung. Da überschlugen sie sich förmlich, die neue Mode zu loben.

Im Falle Merkels teilt sich Volkes Stimme in Abscheu und Begeisterung, je nachdem, welchem Lager die Meinung gerade entspringt. Und wie im Märchen verpassen sie die Chance, die Kaiserin zu sehen wie sie ist:

Nackt.

Doch es wagt niemand, diese Feststellung zu äußern. Aus der Aussage „Wir schaffen das“ ist ein Glaubenskrieg erwachsen, der sich nicht mehr um politische Realitäten oder Inhalte schert. Weder von links noch rechts wird ein sachlicher Diskurs bemüht und die Stimmen der Mitte, die gerade innerhalb der Regierungskoalition jetzt so wichtig wären, wichtig um leise aber sachliche Kritik zu äußern und damit einen notwendigen Erneuerungsprozess von innen anzustoßen, sie fehlen schmerzlich. Der Teil der CDU, der sich nicht zu populistischem Geplärre und Gepoltere hat hinreißen lassen, schweigt sich aus. Angst vor Kritik, Angst vor Machtverlust, Angst vor Illoyalität, die der eigenen Karriereplanung im Weg sein könnte, dürften die Hauptgründe für dieses Versagen sein. Hinter der früheren Popularität der Kanzlerin ließ sich, ebenfalls fern der Inhalte, schließlich lange Zeit gut leben und regieren. Auch gilt dieser Tage: Wer im linken Lager, respektive unter denen, die eine Willkommenskultur pflegen, Kritik an der vermeintlichen Politik der Nächstenliebe wagt, wird als „Rechter“ diffamiert, egal wie ruhig und richtig der Einwurf auch ausfallen mag. Da wird gelobt, bejubelt, geselfiet und gefeiert was das Zeug hält, je lauter desto besser. Auch damit lässt sich die Inhaltsleere und Nacktheit der Ursprungsaussage übertönen. Und beweisen, dass das linke Lager für Populismus und Polemik ebenso empfänglich ist, wie das rechte.

Doch wer braucht eine Linke, die über Fluchtursachen, Gründe für Fluchtrückstau, über Frontex und Massenlager, über beharren auf Dublin-Abkommen und langfristige Problemabwälzung, über Austerität und damit forcierte Instabilität Europas hinwegsehen kann, solange dann letztendlich die Rhetorik im eigenen Sinne ist? Die Diskrepanz zwischen dem rhetorischen Konstrukt „Wir schaffen das“ und vorangegangener, begleitender und anschließender Politik ist so groß wie der Graben zwischen den ideologisch gefärbten Fronten, die nicht einmal mehr merken, dass sie sich um nichts streiten.

Für ein tieferes Verständnis für meine Einlassungen bitte ich noch einmal um Lektüre eines früheren Beitrags, der sich im Detail mit der Diskrepanz zwischen Merkels Rhetorik und ihrer Politik befasst. Wer es schafft, sich über etwas aufzuregen, das nicht existiert, dem gelingen sicher auch zehn Minuten Lektüre.

Ab von dem Mangel an durchgängiger politischer Haltung ist nicht einmal die Aussage an sich, so man Merkel schon darauf reduzieren will, sonderlich gehaltvoll.

Wer ist „Wir“ angesichts einer Institutionalisierung kostenloser Helfer, einem offensichtlichen Mangel an einer funktionierenden Hilfeinfrastruktur, der Tatsache, dass keine kollektive Einhelligkeit herrscht?

Was bedeutet „schaffen“ in dem Kontext? Wie sähe eine erfolgreiche Bewältigung aus? Was genau ist „das“? Das Ziel?

Und doch beharren die Befürworter darauf, dass es ausreiche, mit Worten Mut zu machen. Dass das Amt der Kanzlerin möglicherweise nicht ausschließlich repräsentativer Natur ist? Schwamm drüber. Das Bild stimmt - vermeintlich.

Denn die viel zu spät angestrebte Option „Flüchtlingskontingente, gerecht über Europa verteilen“ ist gerade von Frau Merkel lange abgelehnt worden, Dublin sei Dank. Heute feiert die Linke eine Kanzlerin, die vermeintlich als Einzige für diese Lösung wirbt (sic).

Sie haben jedoch sicherlich Recht, dass dank der Einseitigkeit der Debatte die Rechte, Populisten von Seehofer bis AfD, aus einem Fall Merkels gestärkt hervorgehen würde. Allerdings nicht wegen vermeintlicher Illoyalität der Kritiker, sondern gerade wegen zu viel Loyalität derer, die mit einer Rückkehr zu Inhalten und sachlicher Debatte, die Kritik da äußert, wo sie angebracht ist, aus falschen Loyalitätsgründen zu lange gewartet und damit die Tiefe des Grabens bestimmt haben.

Sieht man die „informelle Königin Europas“ (Evelyn Roll, SZ) erst einmal in ihrer (inhaltlichen) Blöße, kann man nur verwundert den Kopf schütteln, wie sich eine Gesellschaft, ganz Europa sogar, über leere Worthülsen, hinter denen dann doch eine verschärfte Asylpolitik versteckt ist, echauffieren kann. Die „besorgten Bürger“ müssten eigentlich jubeln über Lösungsansätze der Sorte „Militärische Einsätze in den Hoheitsgebieten der betroffenen Staaten“ (Monitor vom 15.10.2015), faule Kompromisse mit der Türkei, einem Staat, der in den letzten Wochen ausschließlich wegen Menschenrechtsverletzungen und totalitärer Machtgelüste Erdogans in die Schlagzeilen geriet, über konträr dazu stehendem Mangel an Hilfeleistungen für die Flüchtlinge, die immer noch in griechischen Lagern ausharren. Nach Idomeni ist nun Softex ein dramatischer Brennpunkt, der die deutschen Medien offenbar kaum interessiert. Vergleicht man das Ausmaß an Zahlungen an die Türkei zur Flüchtlingsfrage, die zudem an Erpressungspotenzial gebunden sind (Erdogan drohte nicht nur einmal mit Auflösung des Flüchtlingspaktes und schon in der Vergangenheit wurden Stimmen laut, für neue Zahlungen könnte die Türkei jederzeit neue Flüchtlingsströme zulassen). Hier wird nicht gestaltet, hier werden Probleme ausgelagert, auf andere abgewälzt und eigene Handlungsunfähigkeit befeuert.

Es gibt wohl nur wenige relevante Argumente für eine Fortführung Merkelscher Kanzlerschaft:

  • Dass das Wegbeißen jeglicher Konkurrenz innerhalb der Parteien jeden reellen Kandidaten beiseitegeräumt hat
  • Dass der Diskurs der letzten Monate Populisten gestärkt und den Fokus auf sie gelenkt hat. Wobei es ein Drama wäre, Frau Merkel damit Recht zu geben, erneut selbst für die eigene „Alternativlosigkeit“ gesorgt zu haben. (Krisen schaffen, verschärfen oder suggerieren zum eigenen Selbsterhalt ist dabei schon eine Kunst für sich.)
  • Dass es keine reelle sozialdemokratische oder gar „linke“ Alternative gibt, die eine tatsächlich humane Lösung zur Flüchtlingsfrage zu bieten hat, weil sich selbst im angeblich „linken“ Lager alle darin überschlagen, es den Populisten gleichzutun in der Hoffnung, so Wählerstimmen zu gerieren.

Um dieses Dilemma aufzulösen bräuchte es noch vor der Wahl den sachlichen Diskurs. Und diesen vor allem dringlichst aus den Reihen der CDU, ab von „Entweder Seehofer oder Merkel“- Schwarz-Weiß-Malerei.

Die Kaiserin ist nackt.

Im Grunde gilt es mit dieser Offenbarung, auch das nackte Europa sichtbar zu machen, das mit leeren Worthülsen von Menschenrechten doch kaum noch ablenken kann von seinem Rechtsruck und drohendem Scheitern im Angesicht der ersten Krise, die es gemeinsam zu bewältigen hätte.

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