Winnetou und das Mädchen

Damals war er die höchste Instanz in ihrem Leben. Ein phantastischer Ersatzvater für das kleine, verlorene Mädchen, das an irgendeinem Stadtrand lebte, sich vom Trauma ins Träumen flüchtete und von dort weiter in die feste Vorstellung, dass alles in ihrem Leben - dieser Ort, diese Umstände, diese Menschen - ein riesengroßer Irrtum war und er sie eines Tages da raus und nach Amerika holen würde. Nein, nicht ins Amerika ihrer Familie, das ihr nicht besser erschien als die kleine, verwöhnte und trotzdem so übelgelaunte Stadt am Fuße der Burg, in der sie lebte. Sondern in jenes Amerika, das aus Studiobauten und kroatischen Landschaften für sie ersonnen worden war.

Die Winnetou-Filme waren, mehr noch als ihre schriftliche Vorlage, ein geschützter Raum, in dem das Gute zwar nicht immer siegte, der Tod aber nicht das Ende war - denn das Ende ist doch, was wir eigentlich fürchten, wenn wir ans Sterben denken, das verstand das Mädchen schon im Alter von sechs Jahren. Winnetou lebte weiter, als viel besungener Held in seiner Geschichte, als Wiederauferstandener in weiteren Filmen, aber auch draußen in der wirklichen Welt und der Mann, der ihn spielte, mit ihm: in Auftritten, bei eigenen Festspielen, in der Autogrammstunde, zu der das Mädchen eines Tages ganz alleine ins Postamt am Residenzplatz aufbrach. Winnetou war zu ihr gekommen! Vielleicht, dachte das Mädchen, würde er sie ja sehen. Er würde Anweisung geben, sie aus der Menge herauszuholen und sie dann zu seinen Freunden bringen, sie könnte dann fortan in den Winnetou-Filmen wohnen und müsste nie mehr zurück. Eine sachte Stimme in ihr warnte sie vor zu hohen Erwartungen. Das Mädchen wusste im Grunde zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber vielleicht würde er sie wenigstens ansehen und ihr zunicken, zum Zeichen, dass er sie erkannt hatte?

An diese Hofnung klammerte sich das Mädchen, als es inmitten einer Menge stand und in aufgeregte Gesichter hinaufsah. Sie erinnert sich an ein vielstimmiges "Oooh!", als irgendwo weiter vorne Pierre Brice den Schalterraum betrat, an die darauf folgende Stampede, in der sie fast zertrampelt wurde, an mitleidige Erwachsene, die sie schließlich nach vorne schoben, wo hinter der Schalterwand ein Mann mit kurzen Haaren saß, der Winnetou ähnelte, und ohne aufzublicken ein Schwarz-Weiß-Foto nach dem anderen unterschrieb, mit blauem Filzstift. Das Mädchen erinnert sich daran, dass es schnell weitergeschoben wurde und sich draußen vor dem Postgebäude wiederfand, die Autogrammkarte in der Hand, die sie erst auf dem Heimweg zu betrachten wagte.

Sie war enttäuscht von dem Gesicht, dass keck über die Schulter in die Kamera blickte. Dieser Mann war nicht Winnetou, er spielte ihn nur, so wie sie selbst nur spielte, dass sie eines Tages zu den Indianern gehen würde. Und dann erkannte sie, dass Winnetou noch immer da war - mit dem Gesicht eines französischen Schauspielers, dem langen Haar, seinem Phantasiekostüm und dass er ganz genau wusste, wer sie war. Er wohnte in ihrem eigenen Herzen und nur dort, aber dieser Umstand machte ihn nicht weniger bedeutsam, wie das Mädchen verwundert feststellte. Und dass Winnetou sie auf diese Weise viel einfacher fortholen konnte. Sie würde ihm nur folgen müssen, eines Tages dann, wenn sie groß war.

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Bernhard Juranek

Bernhard Juranek bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:09

Erkrath

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Veronika Fischer

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Herbert Erregger

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Silvia Jelincic

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fischundfleisch

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