Unter dem Nordlicht - Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land.

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»Dies ist ein wichtiges Buch, weil es unsere Stimmen enthält. Es ist gut, dass wir damit in Europa gehört werden. Denn unsere Geschichte wurde jahrhundertelang ignoriert.« (Chief Stan Beardy, 2000-2012 Grand Chief der Nishnawbe Aski Nation und 2012-2015 Chief von Ontario).

Stimmt unser positives Kanadabild? Sind die kanadischen Behörden im Gegensatz zu den USA mit ihrer indigenen Bevölkerung relativ gut umgegangen?

Leider nein.

Es gab zwar keine Kriege und Massaker wie in den USA. Aber die kanadischen Behörden haben auf eine subtile Art genau dasselbe gemacht, nämlich die indigenen Gesellschaften gebrochen.

Wie viele Menschen in Europa hatte auch der Schweizer Historiker und Autor Manuel Menrath dieses klischeehafte Bild von Kanada: Weite, unberührte Natur, Eishockey und Ahornsirup, Bären, denen die Lachse ins Maul springen. Doch dieses Bild zerbrach schlagartig als er vor 20 Jahren das erstemal in Attawapiskat, einer Fly-In-Community an der James Bay, ankam. Denn Attawapiskat sieht aus wie ein Slum in der Dritten Welt und bereits beim Aussteigen wurde er Zeuge eines großen Streites zwischen drogenabhängigen jugendlichen Cree. Als er ein weiteres Reservat nicht besuchen konnte, weil sich gerade zwei zwölfjährige Mädchen erhängt hatten, beschloss er, ein politisches Buch zu schreiben, das wissenschaftlich fundiert mit Quellen arbeitet und trotzdem von einer breiteren Leserschaft gelesen werden kann. Sein Buch erschien 2020.

Er beschreibt darin die zum Teil sehr triste und prekäre Lebensrealität der Cree- und Ojibwe-First Nations im nördlichen Ontario. Er schildert die tragische Geschichte der Unterdrückung der Indigenen Kanadas, die bis in die Gegenwart reicht. In vielen indigenen Communities herrschen Arbeitslosigkeit und Armut, Gewalt und Drogen. Es werden in Kanada prozentuell 12 mal mehr indigene Frauen ermordet als nicht-indigene. Auch die Suizidrate ist sehr hoch, sogar unter Kindern und Jugendlichen. 2016 gab es allein in Attawapiskat 100 Selbstmordversuche unter Jugendlichen! Systematische Repression und strukturellen Rassismus erfahren die Indigenen Kanadas seit Generationen. 2021 wurden anonyme Gräber von hunderten Kindern entdeckt, die in Residental Schools an Mangelernährung, Seuchen oder an Vernachlässigung gestorben sind. Diese staatlichen Umerziehungsinternate wurden zum Großteil von christlichen Gemeinschaften betrieben wurden. Kein Wunder, wenn die Indigenen der weißen Mehrheitsbevölkerung misstrauen!

Manuel Menrath hat schnell bemerkt, dass er in diese Gemeinschaften lieber nicht als Wissenschaftler reisen sollte, weil diese bisher nur geschadet haben: Der Philosoph sagte, die Indigenen wären primitiv. Der Theologe erklärte, sie hätten keine Religion und müssten missioniert werden. Der Geologe fand Bodenschätze, sie wurden vertrieben und ihr Land ausgebeutet.

Er reiste mehrmals in die abgelegenen Reservate zu den Crees und Ojibwe, die ihn zur Jagd und rituellen Festen mitnahmen und ihm einen Einblick in ihren Alltag und ihre Kultur erlaubten. Er führte hunderte Interviews und kam zu dem Schluss, dass die Rechte der First Nations bis heute mit Füßen getreten werden.

Ziel der Politik Kanadas war es, die Ureinwohner zu assimilieren, ihre Erinnerung und ihre Geschichte auszulöschen und sie in die Struktur Kanadas zu integrieren. Mit dem Indian Act, dem kolonoialen Indianergesetz von 1876, schuf Kanada das Reservatsystem. Man wollte sie von ihrem Land weg haben, brauchte Platz für Minen und Staudämme, Ackerland und Forstwirtschaft. Das Amt für Indianerangelegenheiten verlautbarte 1920: "Unser Ziel ist es, so lange weiterzumachen, bis es in Kanada keinen Indianer mehr gibt, der nicht vom Staatswesen aufgesogen worden ist."

Heute gibt es in Kanada 634 First-Nations-Gemeinden, vom Staat anerkannten Stammesgemeinschaften. Sie besitzen etwa 3000 Reservate und umfassen etwa 1 Mio Menschen.

Manuel Menrath konnte auch ältere Cree und Ojibwe interviewen, die noch in Tipis zur Welt gekommen sind und bis in die 1960er Jahre im Sommer bei den Handelsposten der Weißen lebten. Die Winter verbrachten die einzelnen Familien in ihren eigenen Territorien, den sogen. Trapplands, in denen sie jagten und Fallen stellten. Doch dann wurde das Trappen außerhalb der Reservate verboten, mit Wasserflugzeugen kontrolliert und die Beute wurde konfisziert. Der Hunger trieb schließlich alle in die Reservate, wo sie jagen dürfen und Sozialhilfe bekommen. Manuel Menrath ist der Meinung, dass das dieser Gesellschaft das Genick gebrochen hat, denn dadurch gerieten sie in die komplette Abhängigkeit des kanadischen Staates.

Heute ist die Wohnungsnot das größte Problem in den Reservaten. In kleinen Hütten und Baracken, die schlecht beheizbar und verschimmelt sind, leben oft 20 Personen auf engstem Raum. Zudem versinken diese Baracken zur Schneeschmelze regelmäßig im Sumpf.

Die Lebensmittelpreise in den Reservaten sind 4- bis 6-mal so hoch, denn alles muss aus hunderten Kilometern Entfernung herangeschafft werden.

Die Situation am Arbeitsmarkt ist krass. In gewissen Reservaten ist die Arbeitslosigkeit 90 %. Jeder 10. findet vielleicht einen Job in der Verwaltung oder im Winter bei den Ice Roads. Selten gibt es Selbstständige mit eigenen Geschäften.

Diabetes ist weit verbreitet, denn viele Indigene vertragen das westliche Konservenzeugs mit viel Fett und Zucker nicht. Immerhin waren sie bis in die 1950er Jahre noch Nomaden und hatten gesunde Nahrung wie Elch, Karibu, Fisch, Biber und Pflanzen. Die schlechte Gesundheitssituation wird noch verschärft durch Drogenabhängigkeit und Alkoholismus.

Besonders erschütternd ist die hohe Suizidrate besonders unter Jugendlichen und Kindern - eine der höchsten der Welt - in manchen Reservaten 50mal höher als im restlichen Kanada! Denn viele junge Indigene sehen keine Perspektive. Zur weiteren Schulbildung müssen sie die Reservate verlassen um 100e km weit weg eine High School zu besuchen. Dort werden viele als minderwertigere Menschen gemobbt, haben Heimweh, kommen an Alkohol und Drogen und brechen die Ausbildung ab. Dies führt zu Hoffnungslosigkeit und Depressionen.

Folgende Bilder stammen vom Künstler Benjamin Chee Chee (1944 - 1977), der aus einem Reservat in Ontario stammte. Er litt unter Alkoholismus, Depressionen und einer Unfähigkeit zu langfristigen Bindungen. Außerdem fühlte er sich als Opfer eines gegen Indigene gerichteten Rassismus. Er beging Suizid in einer Gefängniszelle, nachdem er betrunken und randalierend von der Polizei festgenommen worden war.

Benjamin Chee Chee

Vieles, was das Leben der Indigenen heute hoffnungslos macht, liegt in ihrer Geschichte begründet - darin, wie der Staat Kanada sie unterdrückte und ihnen das "Wilde", das Indianische austreiben wollte. Manuel Menrath hat einige Cree interviewt, die als Kinder ihren Familien entrissen, in Residental Schools gesteckt und zwangsassimilisiert worden sind. Sie durften ihre Sprache nicht mehr sprechen, sie wurden geschlagen, mussten teilweise ihr Erbrochenes essen, kamen auf elektrische Stühle, wurden sexuell missbraucht und in Kerker gesperrt. Furchtbarste Strafmaßnahmen wurden von Priestern und Nonnen an ihnen ausgeübt! Schätzungsweise 150.000 Kinder kamen im 19. und 20. Jahrhundert ab dem 5. Lebensjahr dorthin und blieben ihre ganze Jugend möglichst weit weg von ihrem indigenen Umfeld. Die letzte Residental School wurde erst 1996 geschlossen. Unfassbar!

Als diese Kinder dann aber nach vielen Jahren zurück in die Reservate kamen, sahen sie an ihren Eltern und Großeltern genau das, was ihnen in der Schule ausgetrieben worden war und sie begannen sie zu verachten. Gleichzeitig aber merkten sie, dass sie selbst in der sogenannten kanadischen weiß-europäisch geprägten Dominanzgesellschaft nach wie vor "nur die Indianer" sind. Denn trotz der Umerziehung und Gehirnwäsche wurde ihre Haut nicht weiß und ihre Augen nicht blau.

2009 hat sich Pemierminister Stepen Harper offiziell bei den Indigenen entschuldigt und The Truth and Reconciliation Commission of Canada (die Wahrheits- und Versöhnungskommission Kanadas) wurde eingerichtet, die 2016 ihren erschütternden Abschlussbericht veröffentlicht hat. Am 1. April 2022 entschuldigte sich auch Papst Franziskus offiziell bei den Indigenen Kanadas für den Missbrauch der kath. Kirche an ihnen. Diese Entschuldigungen sind wichtig, weil das Leid endlich offiziell anerkannt wird. Die Betroffenen können darüber öffentlich sprechen, man hört ihnen zu und man nimmt sie endlich ernst.

Ein Indigener sagte dazu: "Wir sehen jetzt erstmals im Schnee die Spuren der Jagdbeute, der wir nacheilen und es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis wir sie dann erlegt haben werden und sie aufteilen können ...."

Um die Entschuldigung umzusetzen trat Papst Franziskus nun eine sechstägige "Reise der Buße" an, auf der er mehrmals mit kanadischen Ureinwohnern zusammentreffen wird. In seiner ersten Rede bat er mehrfach um Vergebung. Die Politik der Assimilierung und Entrechtung sei für die Menschen in diesen Gebieten «verheerend» und «katastrophal» gewesen. Außerdem sind zwei große Messen geplant sowie die Teilnahme an der traditionellen Wallfahrt zum Lac Sainte-Anne. Dies ist ein erster Schritt zur Aufarbeitung eines Traumas, das den Indigenen angetan worden ist und ein Zeichen, dass man sich bemühen möchte.

Tagesschau

Weiters muss nun eine Kontinuität in den Gesprächen stattfinden. Die Kirche muss zuhören und verstehen, warum die päpstliche Bulle von 1493 aus indigener Sicht unbedingt widerrufen werden muss. Denn auf ihr gründet die Discovery doctrine und der gesamte Kolonialismus, der Landdiebstahl und alle Traumata, die danach folgten. Man kann nichts mehr gut machen, aber man muss mit Gedenktagen und Erinnerungszeremonien an die Geschichte erinnern und sie darf sich nicht wiederholen. Nur so kann hoffentlich irgendwann Versöhnung stattfinden.

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Kurzes Interview mit Manuel Menrath zum Papstbesuch im gestrigen Mittagsjournal:

https://oe1.orf.at/player/20220726/686034/1658831106000

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