Die rückwärtsgewandte Utopie

Ach, wie war es doch vordem / Mit Heinzelmännchen so bequem

Das Seufzen über die guten alten Zeiten, die rückwärtsgewandte Utopie, ist ein in der Kultur- und Sozialgeschichte sehr beliebter Topos.

In den Naturwissenschaften und der Technik verläuft ganz ohne Frage und ernsthafte Zweifel die Entwicklungslinie des menschlichen Geistes konsequent von unten nach oben. Es ist ja auch mit den Händen zu greifen. Ein modernes Auto ist schneller und bequemer als das Auto von Carl Benz, die - immerhin schon gefederte - Kutsche der Goethezeit oder gar die ungefederte Kutsche aus noch früheren Zeiten.

Was aber nun die Geistes- und Kulturgeschichte angeht, so sieht man hier die Entwicklungslinie günstigstenfalls horizontal laufen (Donnerwetter, die haben früher aber schon genauso saustarke Stories geschrieben wie heutzutage), meistens aber sieht man sogar eine von oben nach unten verlaufende Linie: Stücke, wie sie Goethe schrieb, kann heute keiner mehr schreiben, und dem Vergleich mit Euripides und Sophokles kann seit Moliére und Shakespeare sowieso keiner mehr standhalten. Eigentlich komisch. Wieso sollte auf dem Gebiet der Kunst kein Fortschritt - kein technischer Fortschritt, meine ich - zu beobachten sein?

Ähnliches ist im übrigen zu beobachten bei moralischen Kategorien. Seit den ersten bekannten schriftlichen Aufzeichnungen auf den babylonischen Keilschrifttafeln, seit dem Gemäre dieses unsäglichen Cato ist es ein ständig wiederkehrender Topos, daß es mit der heutigen Jugend auch nicht mehr weit her wäre, daß ein ständiger Sittenverfall zu beobachten sei. Das mit der verderbten Jugend ist also ein Scheisendreck seit alters her.

Und selbst wenn diese Ach-wie-war-es-früher-schön-Prediger denn recht hätten, eines vergessen sie regelmäßig: Daß es nämlich in diesem Fall sie selbst gewesen wären, welche die Welt so verändert haben, daß sie eine zu nichts mehr taugende Jugend produziert hat.

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