Europa, die Flüchtlinge und deutsche Legenden

Legendenbildung, sie ist ein probates Stilmittel der Geschichtsschreibung. Man kann nicht früh genug damit anfangen. So wird denn derzeit - auch auf diesen Seiten - wieder kräftig daran gefeilt. Und wie lautet die große Erzählung, die der Nachwelt zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise hinterlassen werden soll? Nun, sie ruht im wesentlichen auf drei Säulen:

1. Europa hat mit dem derzeitigen Flüchtlingsansturm nichts, aber auch gar nichts zu tun, geschweige denn trägt es Verantwortung dafür.

2. Europa kann den Flüchtlingsansturm ohne Probleme bewältigen. Das ist alles nur eine Frage des guten Willens und der Organisation.

3. Die deutsche Bundeskanzlerin kennt den allein selig machenden Weg zur Lösung dieser Krise. Wer an ihr zweifelt, gefährdet Europa und trägt die Schuld an dessen möglichem Scheitern.

Was für eine Hybris, die aus dieser Haltung spricht. Einer Haltung, die ebenso falsch wie erschreckend ist.

Europa trägt sehr wohl Schuld am Zustandekommen der Flüchtlingskrise. 2011 haben wir uns am „Arabischen Frühling“ geradezu besoffen. Wir glaubten genau zu wissen, wer da agierte und mit welchem Ziel. Nichts wussten wir oder besser; nichts wollten wir wissen. Wir haben eigene Ziele verfolgt und alte Feindbilder ausgegraben. Europa hat Gaddafi weggebombt und damit Libyen ins Chaos geführt und radikalen Islamisten und Warlords überliefert. Gaddafi war wirklich kein Demokrat, aber sind wir da nicht anderswo auf der Welt sehr viel großzügiger? Geht es den Menschen in Libyen jetzt besser, als unter Gaddafi? Wir haben zur gleichen Zeit auch Assad in Syrien mit dem Attribut „Machthaber“ versehen - das war mal anders - und jede Opposition gegen ihn nach Kräften gefördert. Damit haben wir den IS und andere extreme Islamisten erst stark gemacht. Von 2003 und dem Irak wollen wir gar nicht reden. Europa hat keine Schuld am Zustandekommen der Flüchtlingskrise? Unverfrorener kann man kaum sein.

Europa kann den Flüchtlingsansturm ohne Probleme bewältigen? Hierzu sollten wir uns zunächst einmal fragen: Wenn Flüchtlinge aus Syrien, aber auch Afghanistan, dem Irak oder sonst woher die Türkei erreichen, warum müssen sie von dort weiter fliehen? Warum müssen sie die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer antreten? Sind sie bei unserem NATO-Partner Türkei nicht sicher? Müssen sie dort um ihr Leben fürchten? Und wenn sie in Griechenland sind, warum müssen sie von dort weiter fliehen? Sind sie auch dort nicht sicher? Sind sie erst in Sicherheit, wenn sie Deutschland erreicht haben? Warum fliehen so viele junge Männer? Sind sie in ihren Heimatländern nicht sicher, ihre Frauen und Kinder aber schon? Warum verlieren so viele Flüchtlinge ihre Pässe auf der Flucht, aber fast niemand sein Smartphone? Wenn wir auf diese Fragen vorurteilsfrei eine Antwort suchen, sind wir der Lösung der Flüchtlingskrise schon ein ganzes Stück näher gekommen.

Wie können wir Deutschen uns eigentlich anmaßen, unsere Sicht der Flüchtlingskrise mit der Frage nach der Zukunft Europas zu verknüpfen? Wie können wir uns anmaßen, uns als Generalmanager dieser Krise aufzuspielen? Steht Merkels Handeln in dieser Frage bislang nicht vor allem für absolute Planlosigkeit? „Wir schaffen das.“ „Es gibt keine Obergrenzen beim Asyl.“ Hat sie da mal ihre europäischen Partner gefragt, ob sie das auch so sehen? Und hat sie damit nicht alle Welt zu uns eingeladen? Die Lösung der Probleme der Welt kann aber nicht darin liegen, dass alle Welt nach Deutschland kommt. Derzeit sind weltweit ca. 60 Mio. Menschen auf der Flucht. Sollen die alle zu uns kommen? Ist ihnen erst dann geholfen? Und wenn wir das alles schaffen, warum bettelt die Kanzlerin dann bei Erdogan, dass der die Grenzen dicht macht? Scheinheiliger geht es kaum noch.

Den Deutschen ist zu großen Teilen ihre eigene Nation suspekt. Daher gieren sie danach in Europa aufzugehen. Wie grotesk: Gleichwohl soll Europa möglichst nach unserer Pfeife tanzen. Wir sollten jedoch akzeptieren, dass es auch in einem geeinten Europa noch Nationen gibt. Da sind Polen, Ungarn, Briten oder Dänen, die sich in erster Linie als Bürger ihres Landes und dann erst als Europäer sehen. Und sie sehen den millionenfachen Zustrom von Menschen mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund und anderen Moralvorstellungen und zudem meist unzureichender Bildung und beruflicher Qualifikation sehr viel kritischer als die deutsche Regierung. Im Frühsommer letzten Jahres haben wir Deutschen uns über die Griechen mokiert, weil die es nicht schafften, Flüchtlinge ordnungsgemäß zu registrieren. Als ein paar Wochen später die Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, konnten wir es nicht besser als die Griechen. Deutsche Großmannssucht auf den Boden der Realität gebracht.

Europa wird nicht daran scheitern, dass viele Länder die Flüchtlingsfrage sehr viel kritischer sehen, als wir Deutschen. Europa kann aber daran scheitern, dass die Kanzlerin und deutsche Medien das Schicksal Europas mit der Flüchtlingskrise verknüpfen und den Rest Europas ihrem Diktat unterwerfen wollen. Darüber sollten wir nachdenken, statt eine seltsame Lust am Untergang zu beschwören.

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