Die 16. Bundesversammlung hat Frank-Walter Steinmeier wie erwartet zum deutschen Bundespräsidenten gewählt. Zuvor hielt Bundestagspräsident Norbert Lammert eine Rede, für die er hoch gelobt wurde. Diese Rede und dass sie gelobt wurde, sagt mehr über den Zustand dieses Landes aus, als man es in Worte fassen könnte. Ich will es dennoch versuchen.

Die Rede Lammerts war keine große Rede, es war nicht einmal eine nur schwache Rede, schlimmer, es war eine geschichtsvergessene und es war eine der Realität enthobene Rede. Alle, die ihn dafür feiern, zeigen, wie wenig sie Geschichte verstanden, geschweige denn aus ihr gelernt haben. Sie zeigen, wie wenig sie in der Lage sind, die Herausforderungen der Gegenwart zu verstehen, geschweige denn, diese zu gestalten.

An den Beginn seiner Rede stellte Lammert einen Rückblick. Denn just auf den Tag genau vor 150 Jahren, am 12. Februar 1867, fanden die Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes statt. Das Besondere: Auf Betreiben Bismarcks gab es damals erstmals ein allgemeines und gleiches Wahlrecht. Das war revolutionär. In den meisten europäischen Staaten, so in Großbritannien, den Niederlanden, Italien, Schweden und vielen, vielen weiteren Staaten wurde dieses allgemeine Wahlrecht erst gut 50 Jahre später eingeführt.

Lammert - in seinen Reden stets bemüht, den Geschichtslehrer zu geben - hat ganz offensichtlich auch hier wieder einmal nach einem Anknüpfungspunkt gesucht. Da deutsche Geschichte für ihn - wie für so viele - per se schlimm und verdammungswürdig ist und das nicht nur bezogen auf die Jahre zwischen 1933 und 1945, konnte er nicht umhin, auch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in das rechte Licht zu rücken. So stellt er klar, dass dies eine "Entscheidung ausgerechnet Otto von Bismarcks" gewesen, sie natürlich nur "rein taktischen Erwägungen" geschuldet sei und - ganz, ganz schlimm - "nur für Männer freilich" gegolten habe (wie überall in Europa bis Anfang des 20. Jahrhunderts). Damit ist nun wieder alles im Lot und das Lammertsche Weltbild intakt.

Springen wir an das Ende der Rede Lammerts. Hier gibt er noch einmal eine präzise Zusammenfassung seiner - derzeit sehr in Mode befindlichen - Sicht auf die Geschichte. Nach einem Exkurs in die deutsche Geschichte vom Mittelter bis zur Aufklärung gelangt er zu der erstaunlichen Erkenntnis: "Ein einiges, freiheitliches und rechtsstaatliches, ein demokratisches Deutschland gab es in keiner dieser Epochen unserer wechselhaften Geschichte – genauso wenig wie heute einen gesalbten Monarchen an der Spitze unseres vereinten Landes. Wir haben uns versammelt, um jetzt für fünf Jahre unser Staatsoberhaupt zu wählen – nicht von Gottes Gnaden, sondern als Repräsentanten des deutschen Volkes."

Das ist nun wirklich unerhört, dass nicht schon unter Otto I. Demokratie in Deutschland herrschte. Hätte Lammert damals gelebt, wäre die Demokratie gewiss schon sehr viel früher über uns gekommen. Geschichte und ihre handelnden Personen aus ihrer Zeit zu begreifen und zu beurteilen, Geschichte als Entwicklungsprozess zu sehen und an ihre Akteure und Handlungen nicht die Maßstäbe von heute anzulegen, übersteigt augenscheinlich den Horizont nicht nur Prof. Lammerts, sondern vieler unserer Zeitgenossen. Und da dies so ist, hat man dann auch keine Probleme fröhlich zu postulieren, dass unser Bundespräsident nicht von "Gottes Gnaden" herrsche, obwohl er doch merkwürdigerweise seinen Amtseid immer noch mit der Formel schließt "so wahr mir Gott helfe". Und ganz köstlich zu lesen sind auch die Sätze, in denen Lammert, der noch eben das hohe Lied auf die direkte Demokratie sang, vehement verteidigt, dass nun gerade der Bundespräsident eben nicht direkt vom deutschen Volke gewählt werden darf "...im klug austarierten Zusammenwirken der Verfassungsorgane die Wahl des Bundespräsidenten ganz bewusst der Bundesversammlung anvertraut." Gut, dass wir das klargestellt haben.

Doch diese merkwürdige Sicht auf die Geschichte könnte man Lammert noch verzeihen. Sehr viel schlimmer sind seine Folgerungen für die Gegenwart. Entlarvend geradezu ist folgende Passage seiner Rede. Wo bleibt hier der #Aufschrei? "Wir Europäer werden nur durch das Teilen von Souveränität einen möglichst großen Rest von dem bewahren können, was früher die Nationalstaaten mit Erfolg reklamierten und heute allenfalls rückwärtsgewandte Zeitgenossen irrig für sich beanspruchen: unabhängig von anderen die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu können."

Hat eigentlich jemand begriffen, was er da sagt? Laut Lammert und der regierenden politischen Klasse in Deutschland ist es eine irrige und rückwärtsgewandte Vorstellung zu glauben, "die eigenen Angelegenheiten selbständig regeln zu können"? Den Deutschen wie den anderen Nationen in Europa wird gnädig lediglich noch ein "Rest" an Souveränität zugestanden. Europa wird nicht mehr als ein Verbund von Nationen gesehen, die sich zum gegenseitigen Vorteil in wichtigen Fragen zusammentun und gemeinsam handeln, sondern das Europa Lammertscher Prägung ist ein Moloch, in dem die europäischen Nationen aufgehen. Erst wenn alle nationalen Prägungen verschwunden sind, erst wenn ein europäischer Einheitsbrei herrscht, so glauben Lammert & Co, ist das Elysium da. Welch ein Unfug!

Dem liegt die aberwitzige Vorstellung zugrunde, dass erst das Auslöschen der Nationalstaaten und eine Fremdsteuerung durch eine immer weiter überbordende europäische Bürokratie, dass erst die Übertragung von immer mehr Entscheidungen von der nationalen Ebene nach Brüssel und Straßburg zum ewigen Frieden führt. Das Prinzip der Subsidiarität, das die Grundlage der Bildung der EU war, wird damit ad absurdum geführt.

Der geschichtsvergessene und dennoch ständig die Geschichte bemühende Prof. Lammert vergisst dabei zudem, dass die Unterdrückung des Nationalen und die Fremdbestimmung durch andere schon einmal wesentliche Grundlagen für das Erstarken extremer Nationalisten und einen Krieg gelegt haben. Der Versailler Vertrag und seine harten Bedingungen für Deutschland, die - das sollte nicht vergessen werden - auch von den Sozialdemokraten damals scharf kritisiert wurden, haben entscheidend dazu beigetragen, einen Hitler groß zu machen.

Wer heute den Deutschen verbieten will, sich als Deutsche zu begreifen und den Franzosen verbieten will, Franzosen zu sein, wer die Briten dazu bringen will, sich zuerst als Europäer zu verstehen, muss sich über den Brexit und das Erstarken nationalistischer Strömungen in Europa nicht wundern. Das Nichtbegreifen dieser Zusammenhänge haben der Bundestagspräsident und alle, die seine Rede so begrüßen, eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die Totengräber Europas sind nicht diejenigen, die den Nationen Europas mehr Eigenständigkeit, mehr Handlungsspielräume und eine eigene Identität zugestehen wollen. Die Totengräber Europas sind die Schöpfer eines "Supereuropa", das seine Mitgliedsstaaten nur noch zu Befehlsempfängern einer von jeder Realität abgehobenen Eurokratie machen will.

Internationale Entwicklungen werden gar noch als Ansporn gesehen, auf diesem Weg um so entschlossener fortzufahren: "...wenn weder der amerikanische noch der russische Staatspräsident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzliches Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen." Ist das nicht köstlich von Herrn Lammert? Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Das ist nun wirklich böse von den beiden! Sollten wir angesichts dessen nicht besser sowohl "Amerika" wie Russland den Krieg erklären? Mit Diplomatie haben diese markigen Worte jedenfalls nichts zu tun. Wir könnten natürlich auch in uns gehen und uns fragen, wie stark ist eigentlich das Interesse Europas an einem starken Russland? Und wie stark ist unser Interesse an einem starken China? Wie stark sind wir daran interessiert, dass die USA noch sehr viel stärker werden und uns endlich als Exportweltmeister ablösen? Doch wir wollen unsere politische Klasse mit einer realistischen Betrachtung der Welt nicht überfordern. Ich denke einmal, bei unserem Bundestagspräsidenten und Geschichtslehrer Lammert und der Bundesregierung sind wir Deutschen - pardon, wir Europäer - in guten Händen.

Tobias Koch https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Norbert_Lammert_(Tobias_Koch).jpg

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