Und gleich noch einen Zweiten heute, was aber hauptsächlich der Tatsache geschuldet ist, dass mich ein gewisser Nutzer hier weg blockiert hat und ich daher in seinem Blog, wo ich diesen Artikel aufgefunden habe, dazu nichts mehr sagen kann. Aber dieser Artikel, über den sich natürlich eine andere bekannte Userin sehr empört, gehört zum Besten, was ich zu diesem ganzen leidigen Thema der Hypermoral und Überempfindlichkeit, des Umstandes, dass man heute das Leben eines Menschen vernichten kann, ohne dass dafür jemals der Rechtstaat bemüht werden musste, gelesen habe.

Vor allem die Frage des rechten Maßes ist uns nicht nur in Sachen angeblicher oder echter Belästigungen inzwischen völlig abhanden gekommen. Heute ist alles nur noch schrill, bis zur Unkenntlichkeit überzeichnet, hysterisch und dauerempört. Wir lassen und nicht mehr von Vernunft und Augenmaß leiten.

In diesem Sinn, danke an Rahab, dass sie uns diesen bemerkenswerten Artikel nahe gelegt hat, wenn auch mit ganz anderen Absichten... ;)

Aber lassen wir den Herrn Liessmann selbst zu Wort kommen:

Masslose Moral

Wer es mit der Moral ernst meint, kann diese von der Frage des rechten Masses nicht trennen.

von Konrad Paul Liessmann

6.12.2017, 05:07 Uhr

Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Es gibt keine Fragen, die seiner Kolumne fremd sind.

Kann es in einem moralischen Sinn zu viel des Guten geben? Im ersten Moment möchte man diese Frage natürlich mit Nein beantworten. Wo denn sonst, wenn nicht in Fragen der Moral, sollte der Grundsatz gelten: Genug ist nie genug. Oder gibt es ein Übermass an Güte, ein Zuviel an moralischen Handlungen und Ansprüchen, das über das Ziel hinausschiesst und dem Menschen gar abträglich sein könnte?

Das Tugendhafte, so bestimmte es noch Aristoteles, ist stets das Mittlere zwischen Extremen. Das rechte Mass, das Angemessene galt dem antiken Denken deshalb noch als zentrale Kategorie der Ethik. Angesichts der medial inszenierten Moraleruptionen der letzten Monate kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass dieses Gefühl für das Angemessene verloren gegangen ist.

Keine Frage: Auch jenseits strafrechtlich relevanter Taten kommt es zwischen erwachsenen Menschen immer wieder zu unangenehmen Aktionen, Belästigungen, Beleidigungen, Übergriffen und verletzenden Gesten oder Handlungen. Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Verbale Entgleisungen oder plumpe Annäherungsversuche – Handlungen, die man mitunter auch als schlechtes Benehmen klassifizieren könnte – mit der Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen, Demütigungen und physischer Gewaltanwendung gleichzusetzen, zeugt jedoch von einem Verlust der Massstäbe, an denen das Verhalten von Menschen gemessen und bewertet wird.

Kommt hinzu, dass ohne jede Beweisführung allein durch eine mediale Vorverurteilung und den dadurch erzeugten Druck Menschen an einen virtuellen Pranger gestellt und entsprechend bestraft werden; es beginnen sich einige Prinzipien des Rechtsstaates zu verkehren: Ein Verdacht gilt dann schon als Beweis, Ereignisse, die Jahre, auch Jahrzehnte zurückliegen und für die es oft keine Zeugen gibt, entscheiden über Reputation und Karrieren, und im Zweifel spricht alles gegen den Angeklagten. Dass manche Anschuldigungen gerade dann erhoben werden, wenn es politisch opportun erscheint, darf dann auch nicht weiter irritieren.

Besonders prekär wird es aber, wenn sich eine rigide Moral zum Massstab für Dinge aufwirft, die sich der Moral prinzipiell entziehen. Die ästhetische Beurteilung von Kunstwerken oder künstlerischer Tätigkeiten hat wenig mit der moralischen Beurteilung ihrer Protagonisten zu tun. Dass Filme zensiert werden, weil sich ein Hauptdarsteller widerwärtig verhalten hat, dass Gedichte einem moralischen Verdikt verfallen, weil es jemand für anstössig erachtet, dass in einem poetischen Text von Alleen, Blumen, Frauen und einem Bewunderer die Rede ist, dass «Dornröschen» aus dem Verkehr gezogen werden soll, weil der Prinz das schlafende Mädchen ohne dessen Einwilligung durch einen Kuss erlöst, dass Klassiker der Weltliteratur umgeschrieben oder mit Warnungen versehen werden, weil sie oder ihre Autoren unseren hypertrophen Vorstellungen von Reinheit und Korrektheit nicht entsprechen – all das zeugt von einer moralischen Besessenheit, die aufgrund der sozialen Netzwerke rasch die Anzeichen einer kollektiven Neurose annehmen kann.

Nein, wer es mit der Moral ernst meint, kann diese von der Frage des rechten Masses nicht trennen. Das gilt auch für das Mass jener Empfindlichkeit, die wir heute gerne zur Grundlage unserer Beurteilung von Menschen und Dingen machen. Eine masslose Moral ist keine Moral. Gerade wenn es uns um Gerechtigkeit geht, müssen wir lernen, auf eine moralische Art moralisch zu sein.

https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/masslose-moral-ld.1335743

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