Eine junge, knapp neunzehnjährige, russische Jüdin wurde am 17. August 1904 von ihrer Heimatstadt Rostow am Dom in die 1500 km entfernte psychiatrische Klinik Burghölzli im schweizerischen Zürich eingeliefert: Sabina Spielrein. Alles, was über den Verlauf ihrer Erkrankung bzw. ihren stationären Aufenthalt bekannt ist, stammt aus der Vorlesung ihres behandelnden Arztes, Carl Gustav Jung, die er drei Jahre später hielt:

„Mit dreizehn Jahren trat die Pubertät ein. Von dieser Zeit an entwickelten sich Phantasien durchaus perverser Art, die sie obsedierend verfolgten. Diese Phantasien hatten Zwangscharakter: Sie konnte sich nie zu Tische setzen, ohne dass sie sich beim Essen zugleich die Defäkation vorstellten musste; sie konnte auch niemanden ansehen beim Essen, ohne an das Gleiche zu denken, namentlich nicht den Vater. Besonders die Hände des Vaters konnte sie nicht mehr ansehen ohne sexuelle Erregung; aus dem gleichen Grunde auch konnte sie die rechte Hand des Vaters nicht mehr berühren. […] Zog sich die Patientin eine kleine Züchtigung oder gar nur einen Tadel zu, so antwortete sie darauf mit einem Lachkrampf, Herausstrecken der Zunge, Pfuirufen und Abscheugebärden, weil sie jedes Mal die plastische Vorstellung der züchtigenden väterlichen Hand auf ihren Nates hatte, verbunden mit sexueller Erregung, die jeweils sofort in schlechtverhehlte Masturbation überging.“ (Jung (1908): Die Freudsche Hysterietheorie, Ges.W., Bd. 4, S. 24 f.)

Die Schilderung von gravierenden Symptomen durch Jungs Vorlesung gab Anlass zu schwerwiegenden Missverständnissen: Aldo Carotenuto vermutete in seiner Veröffentlichung, Spielrein habe einen „psychotischen Schub“ erlitten, der auf „Schizophrenie“ hindeute.

Bruno Bettelheim schwankte zwischen „entweder einer schizophrenen Störung oder einer schweren Hysterie mit schizoiden Zügen“ - die Missdeutungen von Krankheiten einer anderen Zeit.

Tatsache ist, dass sich in Sabina Spielreins hinterlassenen persönlichen Aufzeichnungen kein, über die Diagnose „psychotische Hysterie“, welcher ihr behandelnder Arzt, C. G. Jung, gestellt hatte, hinausgehender Anhaltspunkt finden lässt.

Anthony Storr, der sich Jungs Diagnose „Hysterie“ angeschlossen hatte, merkte an: „Jungs Diagnose zeigt, dass eine Hysterie so schwer verlaufen kann, dass sie dem psychotischen Bruch mit der Realität zum Verwechseln ähnlich sah.“ (Storr, Anthony (16.5.1982): A Second Opinion. The New York Times Book Review, S. 21)

Obwohl solche dramatischen Fälle von Hysterie heute selten sind, traten sie um die Jahrhundertwende recht häufig auf und wurden in der psychiatrischen Literatur unter verschiedenen Bezeichnungen behandelt:

Richard von Krafft-Ebing, Professor für Psychiatrie an der Universität Wien, schilderte in seinem Lehrbuch für Psychiatrie die vielfältigen Erscheinungsformen der Hysterie und betonte die Rolle erotischer Themen in den Halluzinationen hysterischer Patienten.

Jean-Martin Charcot, Pariser Neurologe, hob den Aspekt des Traumas hervor. Er vermeinte, dass wahnhaften Szenen sich oft auf einen manifesten Vorfall bezogen, der die Störung ausgelöst hatte.

Theodor Meyner, Professor für Neurologie und Gehirnanatom, verlieh der Störung seinen eigenen Namen - „Meynerts Amentia“ -, was seinen verärgerten früheren Schüler, Sigmund Freud, dazu bewog, den Namen in seinem eigenen Katalog nervöser Störungen in „akute halluzinatorische Verworrenheit“ umzubenennen.

Die Hysterie war schon im Altertum bekannt, die klassische griechische Theorie besagt, die Erkrankung sitze im Uterus (griech.: „hystera“). Die Annahme war, dass die Sexualität nicht befriedigt sei, als angemessenes Heilmittel wurde Geschlechtsverkehr verordnet. Die alten Griechen wussten, dass die Krankheit eine rein psychische Ursache hatte.

Der mittelalterliche Arzt Avicenna, der in der islamischen Welt häufig auftrat, bezeichnete die Störung als „Liebeskrankheit“.

Die These, dass die Hysterie mit heimlichen oder frustrierten erotischen Wünschen zu tun habe, - die Erkrankung der alten Jungfern und Nonnen -, hielt sich bis in die moderne Zeit.

Mitte des 19. Jahrhunderts brachte die Arbeit des Augenarztes Richard Carter aus London und des französischen Arztes Paul Briquet mehr Klarheit. Briquet widerlegte die Vermutung, bei der Hysterie spiele sexuelle Frustration die entscheidende Rolle.

Die Ärzte jener Zeit wussten viel mehr und andererseits viel weniger über die psychotische Hysterie als die Ärzte heutzutage. Heute verschreibt der Arzt Valium oder ähnliches und schickt den Patienten wieder nach Hause. Hartnäckige Patienten, die zwei-, dreimal in die Praxis kommen, werden mit dem Hinweis darauf, sie würden vermutlich unter Stress stehen, zu einem Psychiater geschickt.

Um die Jahrhundertwende war das ganz anders: Patienten wurden neugierig ausgeforscht, es wurde ein Behandlungsplan aufgestellt, und je nach Vorliebe des behandelnden Arztes wurden kalte Duschen („Hydrotherapie“), elektro-galvanische Massagen oder eine Reise in einen nahegelegenen Kurort verordnet.

Im Jahr 1904, als Sabina Spielrein ins Burghölzli kam, war paradoxerweise das wohlgemeinte Bestreben nach Wissenschaftlichkeit, das in hundert verschiedene Richtungen zugleich aufbrach, hinderlich, von Klarheit war nicht mehr viel übrig geblieben. Louis Pasteur aus Frankreich und Robert Koch aus Deutschland vervollständigten die moderne Theorie der Entstehung von Krankheiten durch die Hypothese, Krankheit werde durch eine Unterbrechung der Funktion von Organen verursacht, die von einem spezifischen Krankheitserreger, einem Virus oder einem Bakterium, hervorgerufen werden würde. Die Wirkung auf die Organe könne durch eine Autopsie untersucht werden - so die Krankheit zum Tode führen sollte.

Es gab immer mehr Syndrome, da die Ärzte krampfhaft versuchten, auftretende Symptome zu subsumieren. Die Theoretiker waren fasziniert von den Entdeckungen über das Nervensystem, entwickelten immer neue Erklärungen für psychische Störungen - Gehirnleitungsbahnen, Stoffwechseltoxine -, sodass scharfsinnige Vertreter des Faches von „Gehirnmytologie“ sprachen.

Zwei der zahlreichen Theorien aus dieser Zeit betreffen unsere Geschichte direkt: die Theorie der „erblichen Entartung“ und jene der „funktionellen“ Veränderungen des Nervensystems. Die Theorie der „erblichen Entartung“ stellte den spekulativen Versuch der Psychiater dar, ihr Fachgebiet mit der Darwin’schen Vererbungslehre in Einklang zu bringen, welche besagt, dass sich in bestimmten Familien krankhafte Anlagen von einer Generation zur nächsten vererben und in zunehmend schwere Störungen ausarten würden. In der ersten Generation finden sich leichte Störungen, wie z. B. Nervosität, versponnene religiöse Ideen oder künstlerische Neigungen, in der zweiten Generation würden dann bereits gravierendere Erkrankungen auftreten, wie z. B. Epilepsie oder eine schwere Form der Hysterie, und in der dritten Generation seien Psychosen oder Delinquenz zu erwarten. Und so werde es weitergehen - bis die Linie ausgestorben wäre.

Der moderne Mensch wird beim Lesen dieser Theorien den Kopf schütteln, selbst wenn er erkennt, dass die Theorie auf Tatsachen beruht, denn „Geisteskrankheiten“ werden tatsächlich innerhalb der Familien weitergegeben und Beobachtungen zeigen auch eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes von Generation zu Generation. Das heutige Verständnis unterscheidet sich jedoch dahingehend, dass die kontinuierliche Verschlechterung heutzutage psychischen Ursachen zugeschrieben wird: als Ursache von Erkrankungen in der Folgegeneration ist schädigendes Verhalten der Eltern anzusehen.

Die Theorie, welche bei Sabina Spielrein zur Anwendung kam, war die Lehre von den „funktionellen nervösen Störungen“ - Ergebnis der Ärgerlichkeit, dass das Gehirn von Menschen mit nervösen Störungen keine anatomischen Veränderungen bei der Autopsie aufwies.

Sabina Spielreins Kindheit und Jugend war geprägt von der körperlichen Züchtigung durch ihren Vater gewesen, wahrscheinlich auch durch sexuelle Gewalt. Im Alter von drei Jahren litt sie bereits unter einer schweren körperlichen und seelischen Störung. In ihrer Jugendzeit verfiel sie in Zwangsgelächter, begleitet von Pfuirufen und dem Herausstrecken der Zunge, exzessive Onanie war die Folge sexueller Erregung. Ihrer Angst trotzte sie, indem sie sich vorstellte, sie sei eine mit Macht ausgestattete Göttin. Ihr Zustand hatte sich derart verschlimmert, „dass die Patientin nur noch zwischen tiefen Depressionen, Lach-, Wein- und Schreikrämpfen abwechselte. Sie konnte niemand mehr ansehen, hielt den Kopf verborgen, streckte bei jeder Berührung unter den Zeichen größten Abscheus die Zunge heraus.“ Sie konnte den schulischen Anforderungen dennoch nachkommen, machte ihr Abitur. Ihre vermögenden Eltern sahen sich dazu veranlasst, Sabina, ihre älteste Tochter, 1904 in die weltweit bekannte und renommierte Psychiatrische Klinik Burghölzli einzuweisen, wo Carl Gustav Jung, damals 29 Jahre alt, ihr behandelnder Arzt wurde und sie nach ihrer Entlassung aus Burghölzli nach knapp 10 Monaten als Privatpatientin weiter behandelte.

Sabina Spielrein verfiel der Verführung Jungs. C. G. Jung, der aufgrund dessen, dass ein öffentlicher Skandal drohte, - die Mutter Sabinas hatte Jungs Frau anonym auf die Affäre aufmerksam gemacht -, schließlich aus der Beziehung aussteigen und Karriere und Ehe retten wollte, verurteilte Sabina Spielrein, ebenso wie Sigmund Freud es tat. Beide appellieren an ihre Vernunft, an ihre Einsicht, dass sie vor Karriere und Ehe zurücktreten müsse: eine Komplizenschaft zwischen zwei Ärzten, von denen der eine, Jung, einen schweren Kunstfehler begangen hatte und der andere, Freud, sein Lehrer, Jung gegen die eigentlich Geschädigte, Sabina Spielrein, deckte. Am 8. Juni 1909 schrieb Freud einen Brief an Sabina, - die Freud über die Beziehung informiert hatte -, welcher Jung schützen sollte, nämlich, dass er Jung nicht für eine leichtfertige und unedle Handlung fähig halte. Sabine solle sich einer Selbstüberprüfung unterziehen, ihre Gefühle für Jung unterdrücken und vor allem keine „äußere Aktion und Heranziehung dritter Personen“ einleiten.

Sabina Spielrein war viel mehr als die Patientin von Carl Gustav Jung …

Sabina Spielrein war eine 18jährige Russin, aufgrund der Diagnose Hysterie war sie von ihren Eltern in die Nervenheilanstalt Burghölzli gebracht worden. Der Fall schien prädestiniert für die neue, revolutionäre Methode, die Sigmund Freud entwickelt hatte. C. G. Jung, Freuds Schüler, wurde schließlich Spielreins behandelnder Arzt, Geliebter und letztlich ihr Fachkollege: Sabina promovierte 1911, der Titel ihrer Dissertation lautete: „Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie“.

Sabina Spielrein war die erste Frau, die mit einem psychoanalytischen Thema den Doktor der Medizin erhielt, und wurde schließlich Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. 1923 kehrte sie in ihre Heimat zurück, war die bestausgebildetste Psychoanalytikerin im Land, gab Kurse für Ärzte, Pädagogen, Psychologen und Studenten. Am 22. November 1942 wurde die Einnahme Rostows nach Berlin gemeldet, Sabina blieb in der Stadt.

Im Holocaust-Archiv der Gedenkstätten Yad Vaschem in Jerusalem steht unter dem Namen Sabina Spielrein: „1942, gestorben mit allen Juden, Rostow am Don.“

Vgl. Kerr, John (2002): Eine gefährliche Methode. Freud, Jung und Sabina Spielrein, Rowohlt:Reinbek bei Hamburg.

„Keiner von uns durchschaut das weibliche Herz bis in seine Tiefe. Denn das Weib ist stark im Scheinen.“ ~ Karl Wilhelm Ideler, 1840 ~

Jung - Spielrein - Freud https://blog.stillpointspaces.com/2018/02/life-as-it-is-must-die-sabina-spielrein-and-the-death-instinct-for-our-time/

Burghölzli 1865, Stich https://www.hochparterre.ch/nachrichten/kultur/blog/post/detail/burghoelzli-bau-und-medizingeschichte/1369575114/

Das von André Brouillet 1887 gemalte Bild, zeigt Doktor Jean-Martin Charcot bei der Vorführung seiner hysterischen „Parade-Patientin“ Blanche Wittman in der Salpêtrière zeigt. https://www.literaturportal-bayern.de/logenblog?task=lpbblog.default&id=334

Hysterie https://www.literaturportal-bayern.de/logenblog?task=lpbblog.default&id=334

Hydrotherapie http://www.art-port.cc/artikel/die_couch_im_freud_museum/

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