Die Werte der Aufklärung als Antwort auf die Herausforderungen der Postmoderne

Spricht man von der „postfaktischen Politik“, so werden zumal Bilder von sog. neurechten Populisten oder Trump-Anhängern heraufbeschworen, als handle es sich um eine offensichtliche und fast schon radikale Randerscheinung, jedoch ist die postfaktische Argumentation inzwischen längst zum absoluten Mainstream geworden: Wir sehen es in der jüngsten künstlich forcierten Polemik über „kulturelle Aneignung“; in der Debatte bezüglich des Ukraine-Krieges, wo über einen „Kampf für die westlichen Werte“ schwadroniert wird; wir haben erlebt wie in der Corona-Pandemie systematisch Erkenntnisse ausgeblendet und Fachleute diffamiert wurden, welche dem Narrativ widersprachen; oder bezüglich der „Klimakrise“, wo sowieso seit langem keine Diskussion zugelassen wird, und gar die Deklaration von über eintausend Wissenschaftlern, dass es gar keinen Klima-Notstand gibt, grösstenteils ignoriert wurde. Es sind nur einige Beispiele, wie es noch endlose andere bezüglich der grossen Steckenpferde des öffentliches Diskurses gibt, bei welchen fast schon offen mit postfaktischer Argumentation gehandhabt wird. Am perfidesten ist, dass diese postfaktischen Positionen dann gerade die abweichenden Positionen als vermeintlich postfaktisch anprangern.

Viele der grundlegenden Konflikte, welche unsere Gesellschaft seit einigen Jahren beschäftigen, haben einen vielschichtigen Ursprung, dessen tiefere Ebenen unerkannt bleiben, wodurch diese Konflikte auch nicht an der Wurzel gepackt, sondern nur oberflächlich konfrontiert werden. Es ist bestimmt kein Zufall, dass viele dieser Konflikte nunmehr als „existentiellpolitisch“ beschrieben werden könnten, d.h. sie betreffen nicht mehr nur konkrete Themen, sondern wirken direkt auf die soziopolitischen Grundlagen: Grundrechte, Meinungsfreiheit, Demokratie, usw.. Geht man dem Ursprung all dieser Konflikte nach, so ist die schlussendliche Folgerung, dass sie eben nicht allein aus dem betroffenen Affaire selbst entstammen, sondern einer völlig unterschiedlichen Auffassung der Realität selber. Und ebenso wie ein Vertrag nur Sinn hat, wenn die Bedeutung der Begriffe eindeutig ist (z.B. ein Teller ist ein Teller und keine Tasse), so hat auch der contrat social nur einen Sinn, wenn die Realität auf welche er sich bezieht, auch von allen Parteien grundsätzlich als solche anerkannt wird. Eine Abwendung von rationalen Tatsachen zugunsten von subjektiven Auffassungen, tendenziösen wissenschaftlichen Modellierungen, oder politischen Etikettierungen bedeutet auch, dass die einheitliche soziopolitische Realität, auf dessen Grundlage der contrat social ergründet wurde, nicht mehr als solche von allen Seiten anerkannt wird.

Eine fundamentale Idee des postmodernen Denkens ist es, dass Fakten als solche nicht existieren, nicht ergründbar sind, oder ein verzerrtes Bild der Realität darstellen; und dass die Erkenntnisse andere Faktoren miteinbeziehen müssen, wie z.B. Machtverhältnisse oder kulturelle Vorurteile. Was als abstrakte Beschreibung fast schon unsinnig klingt, ist inzwischen fester Bestandteil von Konzepten wie der Intersektionalität, der Klimaschutzbewegung, der kritischen Rassenlehre, der Gender-Ideologie und anderer postmoderner gesellschaftlichen und politischen Bewegungen. Der entlarvende Gegensatz dieser postmodernen Denkensweisen liegt allerdings darin, dass einerseits gegen konventionelle Fakten argumentiert wird, aber zugleich die vermeintlichen Erkenntnisse als ebensolche eindeutige Tatsachen präsentiert werden, während die Infragestellung dieser Ansichten anstatt mit dialektischer Debatte durch Anschuldigung als wissenschaftsfeindlich, x-leugnend, x-phob oder, perverserweise, eben als postfaktisch, abgetan werden. Eine Idee, welche auf solider Logik baut, fürchtet niemals angezweifelt zu werden, und erfordert ebensowenig solche diffamierenden Etikette. Umberto Ecco sprach von der Schlamm-Maschine: Man wirft so lange und so intensiv mit dialektischem Schlamm gegen den Widersacher, bis irgend etwas davon hängen bleibt.

Die Aufklärung definierte einst Methoden wie Empirismus und Dialektik, um einen Ansatz von objektiver Realität in Form von Tatsachen, Fakten oder Rückschlüssen zu erkennen, welche logisch nachvollziehbar sind und somit auch weitgehende Anerkennung finden, zugleich sie nicht jenseits von Zweifel und ggf. Revision im Falle neuer, besserer Erkenntnisse sind. Die freie Äusserung ist somit nicht nur unproblematisch, sondern auch gewollt, denn eine Erkenntnis müsste dem Zweifel standhalten, wenn sie auch solide genug ist. Dass inzwischen die Infragestellung vermeintlicher Tatsachen unterbunden werden soll, angeblich um die Menschen vor Falschheiten, Manipulation, o.ä. zu schützen, zeigt einerseits auf, dass diese Tatsachen zumal nicht auf soliden Argumenten bauen und folglich die dialektische Konfrontation scheuen, und andererseits, dass dem Individuum die Mündigkeit abgesprochen wird, indem Tatsachen nicht mehr durch Überzeugung anerkannt werden sollen, sondern durch Aufzwingen. Der Ursprung unserer heutigen soziopolitischen Konflikte liegt im Aufprall dieser erkenntnistheoretischen Auffassungen: Die, die die Realität nach ihrem Verlangen konstruieren wollen und die, die bereit sind, die Realität für das zu erkennen, was sie ist. Dass der Begriff „Skeptiker“ inzwischen als Abwertung verwendet wird, ist vielsagend.

Logik, Rationalismus oder Empirismus sind nicht Konzepte, die irgendwelchen Experten oder Akademikern vorbehalten sind, sondern jeder hat das Anrecht darauf, seine eigene Erkenntnis zu erlangen, sowie auch die Pflicht, sich gründlich zu informieren, und nicht nur die Informationen gutzuheissen, die durch die Massenmedien bequem auf einem Silbertablett serviert werden. Spricht man von einer „freien Gesellschaft“, so ist genau diese Freiheit, selber eine Erkenntnis zu erlangen, einer der elementaren Grundsteine. Ohne die Freiheit der Erkenntnis, sind auch keine anderen Freiheiten mehr möglich. Umso wichtiger ist es, nicht aus den Augen zu verlieren, dass in diesem kaum sichtbaren Schlachtfeld der eigentliche Kampf um die Freiheit und unsere Wertvorstellung stattfindet. Die Kritik am Skeptizismus, die Verleumdung ungemütlicher Ansichten als „Hass“ oder „-phob“, oder das Lächerlichmachen derer, die nicht blindlings die Auffassungen vermeintlicher Fachleute übernehmen, läuft schlussendlich darauf hinaus, dem Individuum ebendiese Freiheit zu entziehen. Die gesellschaftlichen Konflikte und der Zerfall von Werten und Freiheiten sind lediglich die Konsequenz davon. Die Schweiz, als demokratischstes Land der Welt, wurde auf diesen aufgeklärten Idealen konzipiert, dass das mündige Individuum selbst zu seinen eigenen Erkenntnissen gelangt, und folglich seine Ansichten durch den demokratischen Prozess geltend gemacht werden. Wenn nur noch die Ansichten von Experten, Politikern oder Medienfiguren gelten sollen, und alle anderen Ansichten unzumutbar sind, wird die Demokratie selbst negiert.

Die Ideen der Aufklärung haben, so gesehen, nicht im geringsten an Gültigkeit verloren. Sie führten die europäischen Völker einstmals aus der Dunkelheit des Mittelalter heraus, und heute erleben wir im Grunde nichts anderes, als ein neues Mittelalter, worin die dogmatische Wahrheit von den Medienpriestern verkündet wird, das Anzweifeln dieser Wahrheit Ketzerei ist, und man den Ketzer auf dem medialen Scheiterhaufen verbrennt. Die Aufklärung führte die westliche Gesellschaft in eine Epoche die, obgleich sie nicht frei von Ungerechtigkeit, Armut oder Krieg war (denn der Mensch ist nicht vollkommen, was auch eine unweigerliche Erkenntnis ist), den grössten Fortschritt von Wohlstand und Freiheiten der Neuzeit einläutete.

„Tradition ist die Lösung für welche wir die Probleme vergessen haben. Werfe die Lösung weg, und das Problem kehrt zurück“, schrieb einst Donald Kingsbury. Mit den Werten der Aufklärung verhält es sich ebenso, und auch deshalb sind diese Werte auch heute wieder die Lösung für viele unserer gesellschaftlichen Konflikte. Aber es sind auch Werte, die einen grossen Mut verlangen, den Mut, andere Ansichten, die zumal auch befremdend oder sogar anstössig scheinen, zu tolerieren, und rational statt emotional zu debattieren; den Mut, die eigenen Überzeugungen zu verteidigen, auch wenn eine Mehrheit sie ablehnt und angreift; den Mut, für die freie Äusserung derer einzustehen, mit denen man nicht einverstanden ist; aber vor allem den Mut, unterschiedliche Positionen in gegenseitiger Dialektik nach ihrer logischen Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen, anstatt den Anderen einfach zu verleumden oder zu beleidigen. Diese Ideale aufrechtzuerhalten, ohne sich auf die postmodernen Realitätskonstrukte einzulassen, bringt den Diskurs nach und nach zurück zur Rationalität.

Die Leitmedien haben sich grösstenteils von solchen Idealen abgewandt, doch die unbeugsame Seele der Aufklärung quellt immer wieder hervor, nun durch die digitalen Kanäle, welche einen fortschreitenden offenen Austausch von Meinungen und Debatte erlauben, den andere verwehren wollen. Und ebenso wie die Aufklärung als eine kleine, kontroverse Bewegung einzelner Denker begann, welche sich mit der Zeit gegen Dogma und Absolutismus durchsetzte, so kann sich das freie Denken auch heute wieder gegen die neuen Dogmatismen durchsetzen, wenn es mit Überzeugung weitergetragen wird.

A. M. Berger ist Schriftsteller und Philosoph

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