Ist man böse, wenn man die Bösen versteht?

Es ist eine gängige Ansicht, dass man Dingen zustimmt die man versteht. Entsprechend sei man selber böse, wenn man die Bösen versteht. Die logische Konsequenz ist die Ansicht, dass Ignoranz eine Pflicht des Guten sei. Ich möchte diese Sichtweise heute in Frage stellen.

Vor vielen Jahren lernte ich eine Person flüchtig kennen die aus den USA nach Österreich migriert ist. Der junge Mann kam aus einem streng religiösen Haushalt und als er mit 18 seiner Familie offenbarte, dass er nun Atheist sei reagierte die Familie schockiert. Wochen später wurde er in der Nacht abgeholt und in ein Camp verfrachtet wo man ihn einer Gehirnwäsche unterziehen wollte. Er spielte mit, kam nach wenigen Wochen zurück zur Familie, schnappte sich seine Sachen und verließ die Stadt. Jahre später landete er in Wien wo er die Geschichte erzählte. Der Blick in seinen Augen war der schlimmste Teil.

Es ist schwierig die Familie als etwas anders als böse anzusehen aber seit Jahren lässt mich dieses Beispiel nicht wirklich los, vorwiegend weil ich die Familie verstehen kann. Aus ihrer Sicht wartet nach dem Tod das Paradies in dem sie mit allen ihren Lieben auf immer vereint sein würden, außer mit ihrem geliebten Sohn der in der Hölle braten muss weil er aufgehört hat an Gott zu glauben. Für sie ist die Hölle eine Gewissheit und wer will sein Kind zu ewiger Verdammnis verdammen, da lässt man ihn doch lieber zu Spezialisten verfrachten die ihn wieder „überzeugen“. Nichts zu tun wäre aus ihrer Sicht unverantwortlich bis böse gewesen.

So sehr ich dieser Denkweise widerspreche, verstehen kann ich sie und dieses Verständnis brachte mir nicht selten ablehnende Blicke.

Die klassische Debatte ob man dem Reichen etwas wegnehmen soll um den Armen nicht verhungern zu lassen ist für beide Seiten eindeutig.

Der Linke sieht den kurzfristigen Vorteil einer Person die nicht verhungert und einer Person der das bisschen das man ihr wegnimmt nicht wirklich fehlt, der Rechte sieht die langfristigen Konsequenzen, dass eine Motivation entsteht sich aushalten zu lassen und gleichzeitig die Motivation mehr zu erwirtschaften als man braucht sinkt, weil man es eh nicht behalten darf was zu Armut für alle führt.

Beide Seiten kann ich verstehen und Angehörige beider Seiten kritisieren dieses Verständnis, weil das Verständnis mit Zustimmung verwechselt wird.

Das Problem ist, dass die Welt verflixt einfach aussieht, wenn man die andere Seite nicht versteht. Wenn A und B streiten und man nur die Motivation von A versteht dann ist B das Problem das endgelöst werden muss.

Die andere Seite nicht zu verstehen führt im Endeffekt immer zur Vernichtungsphantasien.

Unterschiedliche Seiten zu verstehen hingegen führt zu einem viel komplizierteren Weltbild ohne echte Lösungen und zu einer erheblichen Skepsis gegenüber Menschen die Lösungen verkaufen.

Zurückkommend zur initialen Frage: Ist man also böse, wenn man Menschen versteht die Böses tun?

Der aufmerksame Leser wird erkennen, dass das Problem in der Frage selber steckt, denn für den Bösen ist der Gute böse. Gut und Böse, richtig und falsch, moralisch oder amoralisch, sozial oder asozial sind keine messbaren Begriffe, sondern immer abhängig vom Weltbild.

Des einen Himmel ist des anderen Hölle.

Was der eine haben will, will der andere verhindern.

Und jeder hat einen Grund der ihm als gut erscheint.

Niemand steht in der Früh auf, zwirbelt seinen Bart und überlegt sich wie er Böses tun könnte.

Ignorante Menschen streiten das vehement ab, für sie gibt es „manche Gruppen“ die durch und durch unrettbar verdorben sind. Und halt weg müssen.

Die Frage müsste vielmehr lauten: „zu was führt Verständnis und wohin der Weg der Ignoranz“.

Ich denke die Ignoranz führt dazu, dass man die Gruppe die man nicht versteht dehumanisiert und entsprechend behandelt (weg haben will), wohingegen Verständnis der anderen Seite ihre Menschlichkeit nicht abspricht. Der Ignorante sieht „die Anderen“ als böse an, der Verständnisvolle sieht sie als fehlgeleitet.

Die Konsequenz ist dass die Ignoranten von einer Welt träumen in denen alle genau so leben können wie sie leben wollen (denn nur das ist gut, alle anderen Lebensweisen verstehen sie nicht und sind daher schlecht) und die Verständnisvollen akzeptieren dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich leben wollen und die ideale Welt daher voller Gruppen ist die sich kopfschüttelnd und angewidert gegenüberstehen, aber den anderen in Ruhe sein Ding tun lassen.

Für den Verständnisvollen ist die Welt, selbst im Idealzustand, viel komplizierter als für den Ignoranten der Istzustand. Entsprechend mühsam ist die Sache.

Es ist daher leicht zu verstehen warum die große Mehrheit den Weg der Ignoranz wählt und davon niemals abrücken wird.

Ricardo Gomez Angel / unsplash https://unsplash.com/de/fotos/falo--98jVaVuGv0

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