Demonstrationen gegen ein totales Verbot der Abtreibung in Polen, Schwangerschaftsabbruch als Thema im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft, Fristenlösung als Grund für die unerwartete Ablehnung der SPÖ, „Sternenkinder“ in das Personenregister aufzunehmen: Wie kommt es, dass 2016 aus den unterschiedlichsten Gründen die Abtreibung wieder zum politischen Thema wird?

Es kommt so: Generell zeichnet sich offenbar eine Tendenz zu weniger Liberalität, zu einer Art Retro-Politik, ab. Im Thema Abtreibung bündeln sich gleich mehrere Aspekte. Einerseits die Abkehr von einer liberalen Gesellschaftspolitik, andererseits eine Abkehr von feministischen Kernanliegen mit Ausblick auf eine Rückkehr frauenfeindlicher Politik, drittens der Versuch, mit der Wiederbelebung emotionaler Themen die politische Auseinandersetzung zu dominieren, und viertens eine Neuauflage der Auseinandersetzung über den Beginn des Lebens.

Diese generellen Trends dürften auch der Grund sein, warum sich die SPÖ selbst bei einem Thema wie die Anerkennung totgeborener Kinder mit weniger als 500 Gramm Geburtsgewicht in letzter Minute querlegt. Gesundheits- und Frauenministerin Sabine Oberhauser stellte einen Zusammenhang her, der auf den ersten Blick nicht ganz schlüssig scheint: Man wolle keine Debatte über die Fristenlösung „auf den Rücken von Sternenkindern“. Diese Ablehnung kann nur der Angst entsprungen sein, mehr als 40 Jahre nach Einführung der Fristenlösung aufgrund tatsächlich veränderter gesellschaftlicher Strömungen oder befürchteter neuer Entwicklungen wieder eine Abtreibungsdebatte führen zu müssen. Anders ist nicht einmal die seltsame Wortwahl („auf den Rücken der Sternenkinder“) zu erklären.

Dahinter steht die Befürchtung, es müsse wieder über den Tötungsaspekt einer Abtreibung diskutiert werden: Wenn man Totgeburten in der sechsten Woche als Menschen durch die Eintragung ins Personenregister anerkennt, dann wird der erlaubte Abbruch bis zur zwölften Woche in Frage gestellt werden können.

Es ist fraglich, ob das Thema Fristenlösung im Zusammenhang mit der Anerkennung der „Sternenkinder“ im Personenregister auftauchen würde, gäbe es da nicht diese allgemeinen unterschwelligen Strömungen zur Rückabwicklung vergangener Entscheidungen.

Gar nicht mehr unterschwellig, sondern sehr offen, treten sie im gegenwärtigen US-Wahlkampf zu Tage. So lieferten sich Dienstagnacht die beiden Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, Tim Kaine für die Demokraten und Mike Pence für die Republikaner, ein heftiges Wortgefecht zur Abtreibungspolitik. Donald Trump hatte ja in einem TV-Interview die Wiedereinführung von Strafen für Frauen, die abtreiben, gefordert.

Die Bedeutung des Themas Abtreibung im Präsidentschaftsrennen ist für europäische Augen auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar. In Wahrheit geht es nämlich in der Auseinandersetzung zwischen Demokraten und Republikanern auch um die Zusammensetzung des Supreme Court, des Höchstgerichts also, für die nächsten Jahrzehnte. Und diese Zusammensetzung ist für viele Wähler der Republikaner noch wichtiger als der Einzug ins Weiße Haus. Nachdem in nächster Zeit mindestens drei Höchstrichter aus Altersgründen ausscheiden werden und eine Stelle zur Zeit vakant ist, werden entweder Clinton oder Trump mit vier Nominierungen die Richtung des Höchstgerichts auf lange Zeit hinaus bestimmen. Vor einem „konservativen“ Höchstgericht, so wird angenommen, könnte das Gesetz Roe vs. Wade angefochten und von ihm gekippt werden. Der Urteilsspruch dazu 1973 legalisierte die Abtreibung in den USA. Eine Kehrtwendung wird vor allem vom erzkonservativen Teil der Republikaner, der Tea Party, angestrebt. Und Pence wird dieser Gruppe zugezählt.

In Polen waren die Massenproteste der Frauen vorläufig erfolgreich. Am Donnerstag lehnte das polnische Parlament ein Gesetz zur Verschärfung des Abtreibungsverbots ab. Es war eine Initiative der Bewegung „Stoppt Abtreibung“. Bis zu den Massendemonstrationen diese Woche war sie von der rechtsnationalen Regierung unterstützt worden. Demnach wäre Abtreibungen nur mehr in jenen Fällen möglich gewesen, in denen das Leben der Frau auf dem Spiel steht – nicht einmal mehr bei Vergewaltigungen, Inzest oder unheilbarer Krankheit des Kindes.

Nachdem sich Regierungschefin Beata Szydlo unter dem Eindruck der heftigen Proteste von dem Gesetz distanziert hatte, stimmten am Donnerstag 352 Abgeordnete dagegen, nur 58 dafür. Nach der Entscheidung blieb die Skepsis. Es werde sicher einen neuen Anlauf für restriktivere Bestimmungen Gesetz als im bereits ohnehin strikten geltenden Gesetz geben, meinten Vertreterinnen der Protestbewegung.

Man sollte bei jedem Versuch, den Schwangerschaftsabbruch politisch zu instrumentalisieren, den Subtext nie aus dem Auge lassen: Es geht um Frauenfeindlichkeit, um Einschränkung der Rechte der Frauen auf Selbstbestimmung, um Männerdominanz und ganz generell um eine Schubumkehr weg von einer offenen Gesellschaftsordnung.

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