Wer um alles in der Welt ist Brett Kavanaugh? Warum sollte uns das Drama um die Bestellung eines Richters zum Obersten Gerichtshof in den USA interessieren? Wieso ist uns die USA trotz des erbärmlichen Schauspiels im Senat demokratiepolitisch um Längen voraus? Und warum sind Anschuldigungen der sexuellen Nötigung vor Jahrzehnten nicht das Wichtigste in dem Prozess und weshalb ist es gefährlich, das so zu sehen?

Brett Kavanaugh wurde von Präsident Donald Trump für den Supreme Court nominiert. Interessieren sollten uns die Vorgänge im US-Senat, weil Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs in den USA von eminenter politischer Bedeutung sind wie spätestens seit 2000 einer breiten Öffentlichkeit klar wurde. Damals sprach der Gerichtshof die Präsidentschaft George W. Bush zu, indem er seinem demokratischen Gegenkandidaten Al Gore eine Neuauszählung der Stimmen verweigerte. Es wird wohl niemand bestreiten, dass dieser Beschluss weitreichende internationale Folgen hatte. Stichwort: Irak-Krieg mit all seinen Konsequenzen.

Vollstes Verständnis für alle, welche die Vorgänge während des Berufungsverfahrens Kavanaughs nicht täglich verfolgen. Wer es dennoch tut, kann sich einer gewissen – wenn auch ambivalenten – Bewunderung nicht entziehen: Tagelang kann man die Sitzungen des Justizausschusses live beobachten, sich ein Bild vom Kandidaten und vor allem auch eines von den verschiedenen Mitgliedern des Ausschusses machen. Anhörungen im Senat sind grundsätzlich öffentlich, nicht nur medienöffentlich. So konnte man vor einigen Monaten zum Beispiel die Aussagen von Mark Zuckerberg zu den vielen Fehlern von „Facebook“ verfolgen, sich über sein außerordentlich starres Gebaren und die Uninformiertheit und Unwissenheit der fragenden Senatoren wundern. Das ist schonungslose Öffentlichkeit ohne jeden Filter, die in Österreich noch nie auch nur angedacht wurde. Was wäre wohl die Reaktion dieser Öffentlichkeit, würde man auch nur die Sitzungen von Untersuchungsausschüssen in Österreich zur Gänze übertragen?

Ambivalent ist die Bewunderung deshalb, weil erstens das Verhalten mancher Politiker in diesen Ausschüssen geeignet ist, die Politik- und Politikerverdrossenheit zu verstärken; Normalbürger als Zeugen wie die US-Professorin Christine Blasey Ford, die Kavanaugh der versuchten Vergewaltigung als High School Schüler bezichtigte, ungeschützt dieser Öffentlichkeit preisgibt und Politikern wie Donald Trump die Möglichkeit gibt, sie nachzuäffen und lächerlich zu machen. So geschehen bei einer Massenveranstaltung dieser Tage. Bei der Beurteilung des demokratiepolitischen Gewinns und des individuellen Verlusts dieser Art von furchtloser Öffentlichkeit wird man sich entscheiden müssen: Was ist der höhere Wert? Das Recht der Öffentlichkeit zu erfahren, was in diesen Ausschüssen vor sich geht, wer sich wie verhält, wer auf reine Profilierung setzt und wer auf die Suche nach der Wahrheit. Oder das Recht des Einzelnen, vor der Öffentlichkeit geschützt zu werden.

Zurück zu Kavagnaugh: Seit Tagen beherrscht ein Thema die US-Politik und die Medien. Hat er sich als Schüler der versuchten Vergewaltigung schuldig gemacht? Hat es andere sexuelle Übergriffe gegeben? Und das alles vor Jahrzehnten. Es ist im Zeitalter von „MeToo“ gefährlich, diesen Anschuldigungen und dem Mut der Frauen, sie jetzt öffentlich zu machen, weniger Bedeutung für die Qualifikation des Richters zu geben als anderen Verhaltensweisen Kavanaughs und seinen Antworten zu anderen Themen. Wer das macht, wird schnell missverstanden: Frauen sollten sich also ein Leben lang mit den Konsequenzen sexueller Gewalt abfinden, denn es würde ihnen ohnehin niemand Glauben schenken?

So ist es aber nicht. Ihr Mut ist wichtig, auch oder gerade weil Trump öffentlich lamentiert, dass dies schlechte Zeiten für junge Männer seien. Im Kavanaugh-Fall wiegen jedoch andere Dinge, die während der Anhörung zum Vorschein kamen, schwerer. Sie disqualifizieren ihn ganz offensichtlich für das Amt eines Höchstrichters. Darüber wird aber nicht mehr diskutiert. Diese anderen Aspekte sind völlig in den Hindergrund gedrängt worden.

Was sind sie? Der Starjurist der Republikaner hatte oder hat offenbar ein Alkoholproblem. Das musste sogar Trump dieser Tage zugeben. Darüber hinaus dürfte er es sogar als Zeuge unter Eid vor dem Senatsausschuss mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen. Er hat ein Problem mit seiner finanziellen Gebarung. Die Frage, warum jemand 200.000 Dollar für Karten von Sportveranstaltungen ausgibt, blieb im Raum stehen. Der Verdacht von Schulden auch. Alkohol, Geld, Schulden, Spielsucht – darüber sollte bei einem Kandidaten für den Supreme Court gesprochen werden. Natürlich auch über Sex, aber die Besessenheit, mit der sich die amerikanische Öffentlichkeit dem Thema widmet, ist – vor dem Hintergrund der anderen Ungereimtheiten – beängstigend. Es kann nicht nur die „sex sells“ – Masche der Medien sein.

Aber selbst wenn alles andere zu seinem Gunsten geklärt worden wäre, müsste sich der Richter selbst nach seinem letzten Auftritt eigentlich aus dem Rennen nehmen; wäre es unter normalen Umständen geradezu unvorstellbar, dass die republikanische Mehrheit im Senat ihn als Höchstrichter bestätigt: In seiner Verteidigungsrede gegen die Vorwürfe von Professor Ford hat Kavagnaugh völlig die Fassung verloren, griff die Senatoren der Demokraten an, beschuldigte die Clintons, ihn zu verfolgen, erging sich in Verschwörungstheorien – und dies alles mit wutverzerrtem Gesicht. Sein Berufungsverfahren sei eine Zumutung, eine Schande sei es, schrie er. „Creepy“ würden die Angelsachsen sagen, gruselig kann man es auch nennen. Daher müssten Fragen des Temperaments, der Stressbewältigung, als Richter unparteiisch und objektiv zu agieren, alle anderen in den Hintergrund drängen. Das Gegenteil ist im Gange: Sex und immer wieder Sex.

Der aggressive, parteipolitische, unbeherrschte Auftritt des Kandidaten müsste ihn eigentlich auch in den Augen der Republikaner disqualifiziert haben. Ihnen wollten dieser Tage 500 prominente Juristen in einem offenen Brief diese Augen öffnen. Auch diese Aktion zeigt, dass Demokratie in den USA nach wie vor, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt noch, lebendiger ist als anderswo.

Die Juristen schrieben an den US-Kongress unter Berufung auf die Verfassung und mit „großem Bedauern“: „Der ehrenwerte Brett Kavanaugh ließ einen Mangel an juristischem Temperament erkennen, der ihn für jedes Gericht disqualifizieren würde, vor allem aber für eine Beförderung zum Höchstrichter…“ Und weiter: Sein Verhalten sei parteiisch, unmäßig und hetzerisch gewesen. Er hätte vernünftig und sorgfältig auf die Vorwürfe antworten müssen. Er habe gegen alles verstoßen, was die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit der Justiz ausmache.

Mit ähnlichen Argumenten schrieb Benjamin Wittes vom Brookings Institut in einem Beitrag in der „New York Times“ unter dem Titel: „Ich kenne Brett Kavagnaugh, aber ich würde ihn nicht bestätigen“, dass er so etwas nie schreiben wollte und auch jetzt wünscht, es müsse es nicht schreiben: „Ich kann die Parteilichkeit nicht billigen. Sie war roh, unverstellt, blank und verschwörerisch – und das bei jemanden, der als leidenschaftsloser und unvoreingenommener Jurist um das Vertrauen der Öffentlichkeit bittet. Sein Verhalten war völlig inkonsistent mit dem Verhalten, das wir von einem Mitglied der Justiz erwarten.“

Wer Richter Kavanaugh ist, kann man nachschauen und nachlesen. Warum er uns interessieren sollte? Weil seine Berufung eine Schwächung der Institutionen bedeuten würde. Sie sollte zu denken geben.

Hans/pixabay

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