Blog-Bild: "Blood"

18:55 Uhr meine Allerliebste kündigt ihre Ankunft in etwa 40 Minuten an. Mittlerweile beenden einige der Pfleger und Ärzte ihren Dienst und verabschieden sich. Der Großteil, mit mir angekommenen Menschen, sind ebenfalls schon gegangen. Das schmusende Liebespaar wird durch ein anderes Pärchen vor mir sitzend ersetzt. Sie turteln, blödeln herum und amüsieren sich über eine alte Dame im Rollstuhl. Sie wurde mit dem Hinweis vom Pfleger: „Sie werden gleich mit der Rettung nach Hause gebracht, Frau Novak“ im Raum abgestellt. Frau Novak ist aber sehr ungeduldig und fährt andauernd von ihrem Stellplatz weg. Immer wieder schiebt sie ein Pfleger retour. Frau Novak spricht einen der wartenden Menschen an und bittet ihn, sie weg zu fahren. Wieder fängt sie ein aufmerksamer Mitarbeiter des Pflegepersonals ein. Endlich kommen die Sanitäter. Eine junge hübsche Dame mit Pudelmütze ruft in die Runde. „Frau Novak, ihr Taxi ist da!“ Frau Novak darf endlich legal das Krankenhaus verlassen. Die Sanitäterin stellt sich breitbeinig vor den Rollstuhl von Frau Novak, bückt sich ein wenig, dabei fallen ihre beiden Zöpfe ins Gesicht von Frau Novak. Sie muss lachen. „Nun umarmen sie mich mal schön und ho ruck, ab geht es nach Hause!“

Immer wieder bilden sich erneut Menschenschlangen vor dem Untersuchungszimmer. Junge, Alte, Kleine, Große, Dicke, Dünne ziehen an mir vorbei. Der Mann vom Wachdienst dreht eine letzte Runde. Freundlich hat er hier die Patienten begrüßt und immer wieder aufs Neue die Gepflogenheiten hier auf der Station erklärt. Wo man sich anstellen muss, welches Formular man benötigt, wo die Toilette ist, wo es zum Ausgang geht und viele andere Auskünfte hat er höflich und mit einem Lächeln beantwortet. Regelmäßig kommt das Putzpersonal vorbei und wischt die Spuren von Blut, Pflaster, Straßenschmutz und Getränkeflaschen vom Boden weg.

Meine Gedanken kreisen um den Befund, der auf mich wartet. Oder ich auf ihn. Wenn das so lange dauert, kann es ja möglich sein, dass es was Schlimmes ist. Was ist, wenn ich da bleiben muss? Gleich in den Operationssaal? Na dann hätte das Warten ein Ende, und meine Schmerzen hoffentlich auch. Soll ich beim Schalter nachfragen? Plötzlich tauchen zwei Polizisten auf. Sie positionieren sich demonstrativ in der Mitte des Raumes. Die Geräuschkulisse wird lauter. Seltsam. Der freundliche Herr vom Wachdienst wurde durch einen neuen ziemlich muskulösen Typen ausgewechselt.

Mittlerweile ist meine Allerliebste mit ihrem Allerliebsten eingetroffen. Wir erzählen uns gegenseitig von Weihnachten, sie zeigt mir Fotos auf dem Handy von Christbaum, Essen, Kinder, Mama und Geschenke. Sie fragt mich mehrmals, was der Internist den gesagt hätte, außer dass ich warten muss. Ich bin schon ziemlich fertig, mein Hirn ist relativ leer. Blasen sie hier im Krankenhaus, Beruhigungsmittel durch die Klimaanlage? Meine Allerliebste gähnt. Doch dann steht sie auf und geht zum Stützpunkt. Man erklärt ihr, dass wieder ein Akutfall eingetroffen wäre und dass lediglich 2 Ärzte auf der Station seien. Sie erzählt mir, dass sie hier auch schon einmal viele Stunden mit ihrer Tochter gesessen hat.

Tante Riecke will ebenfalls pötzlich einfach abhauen. Ihre Nichte ertappt sie aber dabei, nimmt sie sanft an ihre Hand und lenkt sie wieder auf ihren Sitzplatz zurück. Die Polizisten stehen noch immer stramm im Raum. Vielleicht liegt ein Verdächtiger im Akutraum? Dann legen sie ihm gleich die Handschellen am Krankenbett an. Wie in der Fernsehserie „Emergency Room“, sage ich zu meiner Freundin. Nur das hier selten ein George Clooney die Untersuchungen durchführt. Achja, der war ja Kinderarzt. Eine Zeitlang lenkt mich meine Freundin von den Schmerzen ab, doch sie brechen immer wieder durch. Ich weiß nicht was schlimmer ist, das ewige Warten oder das Brennen in meinem Rücken und im Bauch. Meine Allerliebste geht abermals zum Schalter des Stützpunktes. Fragt nach, ob es eventuell möglich wäre ein anderes Mal zu kommen um den Befund ab zu holen. Dieser ist bereits fertig, aber er wird nicht ausgefolgt. Weiter warten.

Ein Mann hinter uns meint: „Schlimmer als in Pakistan, so lange habe ich noch nie gewartet“. Dabei ist er viel später als ich gekommen. Ich habe mittlerweile das Gefühl für Zeit verloren, mein Gehirn funktioniert nur noch schwach. Gut, dass meine Allerliebste da ist. Wahrscheinlich wäre ich schon längst abgehauen, so wie Frau Novak oder Tante Riecke es versucht hatten. Ganz knapp stehe ich vor einer Panikattacke. Meine Schmerzen werden wieder schlimmer. Ich will raus hier.

Endlich wird Tante Riecke aufgerufen. Meine Allerliebste meint, jetzt kann es nicht mehr lange dauern. Meine Freundin, die absolute Posimistin. Abermals fährt ein Notfall durch den Saal. Die Schlange vor dem Vorhang hat sich ein wenig gelichtet, doch der Krankenhauskinosaal mit 64 schwarzen beweglichen Plastiksesseln ist noch immer voll besetzt. Im dunklen Hinterzimmer stehen weitere sechs Patienten in ihren fahrbaren Betten. So wenig Personal für so viele Menschen! Irre! Meine Allerliebste und ich sind uns einig, absolut kein Job für uns.

Tatsächlich, ja mein Name! Ich frage meine Freundin:“Hast Du das auch gehört?“ Sie nimmt mich an die Hand und begleitet mich in den Raum A1. Der Internist von16 Uhr fragt nach, wer sie sei. Sie antwortet frech lächelnd: „Ich bin die Schwester!“ In Ordnung, also keinerlei Auffälligkeiten im Blutbild. Negativbefund beim Urologen. Negativbefund beim Orthopäden. „Wollen sie jetzt einen Tropf Frau K., gegen die Schmerzen?“ Ich verneine. Ich möchte eine adäquate Antwort, woher diese höllischen Schmerzen, die mich seit Stunden quälen, kommen. Abermals plage ich mich auf das Untersuchungsbett. Erneut werde ich mit dem Ultraschallgerät durchleuchtet. Alles in Ordnung. Ich bin erschöpft, ich will endlich nach Hause. Meine Freundin ist hartnäckig und fragt nach, was jetzt zu tun sei. Der Arzt sucht im Computer nach einer Adresse. „Wissen sie, es könnte sein, dass es sich doch um ein Problem mit dem Bewegungsapparat – sprich Wirbelsäule und der darum liegenden Knochen handelt.“ Er druckt die Daten einer Orthopädin und ein Rezept aus. Der Pfleger, der schon beim Nadelstechen dabei war drückt mir noch eine Kapsel und ein Glas Wasser in die Hand. Meine Blase ist voll, von der 1 Liter Flasche, die ich mir um 16:15 Uhr gekauft habe. Schnell verabschiede ich mich von Arzt und Pflegepersonal und humple mit offener Hose zur Toilette. Diesmal brauche ich keinen Becher anfüllen.

Meine Allerliebste, ihr Freund und ich steigen in den Lift auf Ebene 6 abwärts nach Ebene 5. Wir genehmigen uns vor dem Krankenhauskoloss eine Entspannungszigarette. Die Uhr im Eingangsbereich zeigt 22 Uhr.Unglaublich! Um 12 Uhr Mittag bin ich von zu Hause losgefahren. 9 Stunden und 30 Minuten habe ich hier in diesem Krankenhaus verbracht. Selbst die kalte Winterluft lässt mich nicht mehr klar denken. Ich trabe meinen Allerliebsten hinterher und lasse mich in das Auto fallen. Raus aus der teuren Garage (€ 4,-- für 2 Stunden). Rechne mit dem restlichen Verstand im meinem Kopf aus, was wir bezahlt hätten, wäre mein Sohn mit dem Auto da geblieben - € 19,--.

Ich lege meinen Kopf an das kalte Autofenster und starre in die Nacht, vorbei an den grauen Häusern. Neben mir liegen mein bunter Rucksack und eine Einkaufstasche. Gut, dass ich das notwendigste im Supermarkt des Krankenhauses eingekauft habe. Gleich ist Sonntag, da sind die meisten Geschäfte geschlossen. Die Schmerzmittelkapsel zeigt ein wenig Wirkung. Sicher lande ich in meiner Gasse, meinem zu Hause. Ich umarme meine Allerliebste. Danke! Ein paar Schritte noch, und endlich kann ich mir einen Kaffee zubereiten. Herrlich, die Katern umkreisen meine Beine. Ich wackle in die Küche und liebe plötzlich diese schmutzige Unordnung, das herumstehende dreckige Geschirr vom Vortag. Mühsam fische ich das Futter für die Felltiger aus dem Schrank. Die rennen schon völlig nervös im Kreis. Ich stelle ihnen ihr wohlverdientes Futter hin. Und mir mein gutduftendes schwarzes Bohnengetränk. Ein paar Weihnachtskekse dazu und ab auf mein Sofa. Paradiesisch diese Ruhe, diese sanfte Dunkelheit und der erste Schluck aus meiner Tasse.

Soll ich jetzt froh und dankbar sein, dass es keinerlei Ergebnisse nach all diesen Untersuchungen gegeben hat? Natürlich ist es vorerst beruhigend zu wissen, dass ich weiter leben werde. Doch die Schmerzen sind weiterhin präsent. Mein Sohn hat mir die verschriebenen Filmtabletten (gegen Schmerzen) aus der Apotheke geholt. Ich gehe sparsam damit um. So wie ich es immer mit Medikamenten mache. Vor allem möchte ich mich nicht mit Drogen vollstopfen, um die Zeichen meines Körpers zu unterdrücken. Das ist keine Lösung. Die massiven Schmerzen müssen eine Ursache haben und können nicht einfach aus dem Nichts auftauchen. Natürlich muss ich mich nicht sinnlos der Qual von brennenden und pochenden Schmerz hingegeben, und ich werde bis zum Termin bei der empfohlenen Orthopädin die Antischmerzpulver nützen. Der Beweggrund für den Alarm meines internen Systems muss gefunden werden, damit ich wieder entspannter weitermachen kann.

So viele Schicksale haben sich heute vor meinen Augen in 570 Minuten abgespielt. Wie viele von diesen Menschen, konnten das Krankenhaus selbständig auf zwei Beinen verlassen? Oder wie viele sind dort heute geblieben, wurden operiert, sind gestorben. So wie P. vor einigen Jahren. Er konnte das AKH nur mehr horizontal verlassen.

Nach diesen 9 Stunden und 30 Minuten Besuch im Wiener AKH, frage ich mich aber auch, was ist los im derzeit größten Krankenhaus in Wien? Wie kann es zu so einer langen Wartezeit kommen?

Mein bisheriger Rekord von 6 Stunden Wartezeit, diese aber in der Nacht, wurde um einige Stunden übertroffen.

Ein guter Freund erzählte mir von seinem Spitalsbesuch in Oberösterreich, wo er  Untersuchungen, Befunde und Besprechung mit dem Arzt in lediglich 2 Stunden erledigt hatte.  Es war kein Notfall, einfach mehrere Routineuntersuchungen.

Was läuft dort anders als hier in der Hauptstadt?

Positiv darf ich jedoch das Engagement, die Freundlichkeit, die Geduld, die Fürsorge, die Gewissenhaftigkeit (nach meinem ganz persönlichen Eindruck) und vor allem die gute Stimmung des gesamten Personals erwähnen. Dies und mithilfe meiner Freundin, habe ich die Stunden dort ohne zusätzlichen psychischen Schaden ausharren können.

*Emergency Room - Teil 1

PS: Herzlichen Dank,  liebeKristallfrau, für Deine Gedanken an mich! **Umarmung**

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