Adventgeschichte: Das gewebte Bild (3): Das Leben zu be-greifen

„Was nur, was, tut man an so einem gottverlassenen, oder sonst was verlassenem Ort den ganzen Tag? Wie bringt man die Zeit herum?“, hatte sich Maria am ersten Tag, am Tag ihrer Ankunft noch gefragt, doch bereits am nächsten war die Frage verschwunden. In Windeseile war der Tag vergangen, erfüllt mit Tätigkeiten, die unmittelbar Sinn machten, bis sie am Abend, mit einem Buch in der Hand einschlief. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen wann sie das letzte Mal so ruhig und gut geschlafen hatte, ohne die anhaltende innere Getriebenheit, die ihr wie ein Feldwebel ständig zurief, sie solle doch verdammt nochmal jeden Moment des Tages nutzen.

„Wissen Sie warum Sie eine meiner besten, ja meine beste Studentin sind?“, hörte sie ihren Professor fragen, der immer ständig solche Fragen stellte, um sie auch rundweg selbst zu beantworten. Das war immer der Moment, in dem man die Frischlinge sofort erkannte, denn es waren diejenigen, die meinten, dass die Frage an jemand anderen gerichtet war. Hurtig ergriffen sie das Wort, doch es wurde ihnen sofort deutlich gemacht, dass sie gefälligst den Mund zu halten hatten, wenn der Vorgesetzte sprach. Abmahnende, drohende Blicke durchfuhren wie Säbel den Vorlauten. Jeder hatte es verstanden, bis auf eine Studentin, die sich durch nichts beirren ließ und munter weiter plauderte.

„Eine Frage, die man sich selbst beantwortet, ist keine Frage, sondern eine Frotzelei“, erklärte sie, nachdem sie von ihrem Kollegen auf den Fauxpas hingewiesen wurde. Sie hatte das Institut auch schon bald verlassen, und studierte nun Philosophie oder irgend etwas anderes Unnötiges, so weit Maria erfahren hatte.

„Sie sind meine beste Studentin“, antwortete der Professor also auf seine eigene Frage, „Weil Sie jede Minute des Tages nutzen, weil Sie 16 Stunden am Tag aktiv sind, deshalb, und weil sie meinen Vorgaben Folge leisten.“ Aufs Höchste mit sich und der Welt zufrieden war er während dieses Vortrags auf seinem Schreibtisch gesessen, breitbeinig, während Maria ihm gegenüber auf einem kleinen Stuhl saß. Schon diese Anordnung zeigte die soziale Stellung, die sie einnahmen.

Maria musste lächeln, denn zum ersten Mal wurde ihr bewusst wie viel Redundanz es erforderte um diesen Vorgaben zu genügen. Löcher ausheben um sie wieder zuzuschütten. Das war der ganze Sinn. Doch wenn sie hier das Feuer im Kamin entfachte, dann wurde der Sinn unmittelbar ersichtlich. Das Feuer wärmte den Raum, doch anders als eine sterile Elektroheizung, mit einer lebendigen Wärme.

„Komm, wir müssen Späne hacken“, forderte Magdalena ihre Nichte auf, nachdem sie das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatten.

„Aber das kann ich doch nicht“, warf Maria ein, obwohl sie genau wusste, dass es keinen Sinn hatte.

„Als Du klein warst konntest Du es“, erwiderte Magdalena lächelnd und ging ihr voran in den Schuppen, der neben dem Haus lag. Der Sturm hatte endlich nachgelassen, so dass die dicken Schneeflocken beschaulich und langsam zur Erde fielen.

„Meine Elfen haben ein bisschen zu viel gegessen“, hatte Maria an diesem Morgen gedacht, doch ohne den Gedanken wegschieben zu wollen. Sie ließ ihn gewähren, auch außerhalb ihrer Träume.

Die Landschaft ersteckte sich in sanften Hügeln vor ihnen, die mit einer dicken, weißen Decke verhüllt waren. Zaghaft brach die Sonne durch die Wolken und entlockte den Schneekristallen da und dort ein Glitzern. Magdalena drängte nicht, sondern ließ Maria gewähren, als sie merkte, dass sie ihren Blick hinaus in die Welt schickte. Als würde sie zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wirklich hinsehen. Erst als Maria wieder den Blick zurückholte ging Magdalena ihr die wenigen Schritte voran in den Schuppen. An allen Seiten war Holz aufgestapelt. Es würde für diesen Winter reichen, selbst für solch einen langen, wie er am nördlichsten Punkt Österreichs zu herrschen pflegte.

„Der Winter fühlt sich wohl bei uns“, pflegte Magdalena zu sagen. Aus irgendeiner Lade in ihrem Gedächtnis war der Satz herausgehüpft, einer Lade, von der Maria noch nicht einmal mehr gewusst hatte, dass sie da war, doch nun war sie entdeckt und sacht nahm Maria ein Stück ums andere heraus.

„Aber warum haben wir Späne gehackt, wenn ich doch im Sommer hier war?“, fragte Maria, nachdem sie den Schuppen betreten hatten.

„Du warst so wissbegierig, so neugierig, wolltest alles mitmachen, alles lernen. Ganz im Gegensatz zu Deiner Schwester, die immer nur herumsaß und sich bedienen ließ. Keinen Schritt setzte sie vor die Türe, aus lauter Angst schmutzig zu werden oder etwas Unsauberes mit den Händen anzugreifen, aber Du warst mitten drinnen im Geschehen, beim Versorgen der Tiere, bei den Arbeiten im Gemüsegarten, beim Kochen und eben auch beim Spänehacken, die Dein Großonkel schon für den Winter vorbereitete. Und dann darfst Du nicht vergessen, dass es hier auch im Sommer schon mal recht kalt werden kann. So ist man immer vorbereitet.“

„Und ich bin auch mit ihm in den Wald gegangen?“, fragte Maria weiter.

„Ja, das bist Du“, erwiderte Magdalena lächelnd, während sie das erste Holzscheit auf den Pflock stellte und die kleine Hacke zur Hand nahm, „Mein Mann wusste alles über den Wald. Du warst so voller Begeisterung, wenn es Euch gelang etwas zu entdecken, einen Ameisenhaufen, einen Fuchsbau, den Biberdamm.“

„Es war so friedlich und harmonisch bei Euch“, hörte sich Maria sagen, während ihr unzusammenhängende Bilder durch den Kopf schossen, vom Naschen aus einem Marmeladeglas, von Schafen auf der Weide, dem hohen Gras, durch das sie lief, bevor es sich dem Schnitter beugen musste, von verstohlenen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen und der Hacke in ihrer Hand. Ja, es stimmte, sie waren genau hier gestanden und ihr Großonkel hatte es ihr gezeigt. Ihre Haut war gerötet, vor Eifer und Freude. Schaffen mit den Händen.

„Friedlich und harmonisch“, wiederholte sie, als wollte sie sich den Klang der Worte nochmals zu Gemüte führen, „Ganz anders als bei uns zu Hause, wo es immer laut war und nichts herrschte als Unzufriedenheit. Ich wäre so gerne hier geblieben. Irgendwann, so dachte ich damals, würde ich ein Handwerk lernen, Tischler oder Zimmermann und dann könnte ich alles reparieren und ausbessern und die Möbel restaurieren. Das sagte ich auch Onkel Toni, und ich weiß noch, er hat mich angelacht und gemeint, dass das schön wäre, wenn ich bei Euch bliebe.“

„Es wäre schön gewesen“, gab Magdalena zu.

„Und dann haben sie uns geholt, mich und Johanna. Johanna war heilfroh, aber ich wollte nicht weg, und da hat mir Mama gesagt, dass ihr uns nicht länger hierhaben wolltet, dass ihr froh wärt, wenn wir endlich wieder weg waren, weil wir für Euch nur eine Belastung waren, das hat sie gesagt“, fuhr Maria fort, die mit einem Mal begriff warum sie diese Erinnerung in eine der untersten Schubladen gesteckt hatte und alles tat um es zu vergessen. Es war ihr beinahe gelungen, so dass nichts weiter blieb als ein bitterer Nachgeschmack.

„Ich habe das auch erst viel später erfahren. Irgendwann hat es mir Deine Mutter erzählt, weil sie meinte, wir hätten Dich verdorben“, erzählte Magdalene ungerührt, die mehr auf die Kraft der Taten als die der Worte vertraute, und Maria wusste nun wie es wirklich war, damals, nachdem sie das ganze Bild wiedergefunden hatte. Die Tage voll Sonnenschein und Eintracht und Miteinander, aber auch den Schmerz des Abschieds.

„Nie wieder würde ich herkommen, habe ich mir damals geschworen“, fiel es Maria wieder ein, „Ich schwor mir aus dem Elend und der Enge auszubrechen, und den einzigen Weg sah ich darin finanziell unabhängig zu sein, und das hieß für mich so viel Geld zu haben, dass ich von niemanden abhängig war, erworben durch meine eigene Arbeit. Dann würde ich glücklich sein, irgendwo in einer großen Stadt, irgendwo inmitten vieler Menschen, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen. Aber langsam entdecke ich, dass Unabhängigkeit auch Einsamkeit ist. Wo Misstrauen und Vorsicht dominieren, weil man weiß, dass der andere genauso rücksichtslos agieren würde wie man selbst, da gibt es keine Freundschaft und keinen wirklich menschlichen Kontakt. Immer auf der Hut und immer wachsam. Das wäre das Leben gewesen, das mich erwartet hätte.“

Resolut nahm sie die Hacke in die Hand, die ihr Magdalena reichte, setzte sie an, hieb leicht in das Holz um eine kleine Kerbe zu erhalten, um danach den Scheit hochzuheben und ihn mit voller Wucht auf den Pflock donnern zu lassen, so dass der erste Span herunterfiel.

„Siehst Du, Du kannst es“, sagte Magdalena lächelnd, und das Webschiffchen fuhr durch die Bänder eine neue Reihe zu bilden auf dem Webbild des Lebens, eine besondere Reihe, denn sie schloss in sich Bilder aus einem früheren Teil des Gesamtbildes, und es war der dritte Tag des Advent.

2
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Silvia Jelincic

Silvia Jelincic bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

fischundfleisch

fischundfleisch bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:17:17

2 Kommentare

Mehr von Daniela Noitz