4. Zuhören

Lilith und Ruben saßen bereits bei der ersten Tasse Tee an diesem Morgen, als die Türe wieder einmal krachend aufgestoßen wurde, nur mit dem Unterschied, dass sich Rebekka diesmal entschuldigte.

„Es tut mir leid, Macht der Gewohnheit. Guten Morgen!“, sagte sie atemlos, während sie den Burschen festhielt, der sich partout aus ihrem Griff befreien wollte, „Aber der wollte einfach nicht mitkommen.“

„Guten Morgen, Rebekka“, sagten Lilith und Ruben.

„Aber warum zwingst Du ihn denn herzukommen, wenn er nicht will“, fragte nun Ruben, während er den jungen Mann ansah.

„Weil er ein Problem hat und mit keinem reden möchte“, sagte Rebekka knapp.

„Man kann aber auch niemanden zwingen. Wenn er nicht reden möchte, dann ist das seine Sache, denke ich“, meinte Lilith.

„Nein, es ist nicht seine Sache. Ich weiß wie das ist, wenn man stumm vor sich hinleidet und niemand sieht es, niemand hört es, niemand merkt es“, erklärte Rebekka, „Und das tut er. Ich habe schon versucht an ihn ranzukommen, aber er ließ mich nicht. Deshalb dachte ich, nachdem ihr das mit mir so gut hingebracht habt, werdet ihr bei dem da auch was ausrichten können.“ Und der, um den es ging, stand einfach nur daneben und hörte zu. Seine grauen Augen blitzten, aber sonst war keine Regung an ihm zu bemerken. Er versuchte allerdings auch nicht mehr zu entkommen.

„Was haben wir bei Dir hingebracht?“, fragte Lilith erstaunt.

„Ich habe meine Mutter umarmt, so wie ihr es mir gesagt habt, und dann haben wir beide geweint, und sind vor dem Kamin gesessen und haben heiße Schokolade getrunken, wie damals, und mein kleiner Bruder war auch dabei. Es fühlte sich richtig nach Familie an. So richtig richtig, und ich habe mich um eine Lehrstelle bemüht im dekorativen Bereich“, erklärte Rebekka fröhlich. Sie war wirklich wie ausgewechselt, „Und der Typ hier, der seit dem Kindergarten mein Freund ist, oder zumindest so tut, der will sich einfach nicht helfen lassen.“

„Das freut mich sehr“, erklärte Lilith voller Begeisterung, und dachte daran, wie richtig es war mit dem Schild, denn das ist es, was wir wirklich brauchen, eine Umarmung, ein Miteinander, und das kann man tatsächlich nirgendwo kaufen. Ja, mehr noch, das Kaufen steht dem sogar im Wege, denn man hat keine Zeit für eine Umarmung, und auch kein Auge dafür, denn die Konzentration ist völlig auf die Dinge gerichtet, weg von den Menschen.

„Dennoch, wollen wir niemanden zu irgendetwas zwingen“, erklärte Ruben, „Wenn der junge Mann gehen will, dann werden wir ihn nicht aufhalten, auch Du nicht Rebekka.“

Fragend sahen nun alle zu ihm hinüber, dem nach wie vor Namenlosen mit den blitzenden grauen Augen und dem fein geschnittenen Gesicht. Es wäre sein Stichwort gewesen. Wenn er gehen wollte, dann hätte er jetzt gehen können. Stattdessen setzte er sich auf den letzten, noch leeren Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und legte das Kinn in die Hände. Alles an ihm wirkte nach Resignation.

„Es ist doch sowieso alles egal“, bestätigte er seine äußere Haltung.

„Der heißt übrigens Samuel“, platzte Rebekka hinein, „Und das sind Lilith und Rubin.“

„Freut mich sehr, Samuel“, sagte Lilith und Rubin beschränkte sich darauf bestätigend zu nicken.“

„Wieso ist alles egal?“, griff nun Ruben das Gesagte auf.

„Weil es eh keinen interessiert“, entgegnete Samuel kurz und ebenso kryptisch.

„Was interessiert eh keinen?“, bohrte Ruben weiter.

„Niemand ist niemandem interessiert. Wenn man angeblich miteinander redet, dann geht es eigentlich nur darum, dass jeder sagt was er zu sagen hat, und dann wenn Du selbst was erzählen möchtest, dann hört keiner zu. Sie wollen sich nur selbst profilieren und nehmen nicht wahr, dass es andere Leute auch noch gibt“, erklärte Samuel, nun schon ein wenig ausführlicher.

„Nun, dass es immer schwerer wird ein Gespräch zu führen, dass die Menschen reden und zuhören und auf das Gesprochene und Gehörte eingehen, das ist mir wohl bekannt“, bestätigte Lilith, „Doch ich werde den Verdacht nicht los, dass es Dir nicht um alle geht, sondern um bestimmte Menschen, bei denen Du Wert darauf legst, dass sie sich für Dich interessieren und dass sie Dir zuhören.“

„Es geht um seine Familie“, warf nun Rebekka ein, die sichtlich ungeduldig geworden war, „Das kannst Du ruhig sagen, die beiden sind schwer in Ordnung.“

„Schwer in Ordnung“, wiederholte Ruben wehmütig und warf dabei einen Blick auf seinen Bauch, der ein wenig zu weit hervorstand für seinen Geschmack. Dennoch verstand er natürlich, dass das eigentlich ein Kompliment gewesen sein sollte, „Es ist nämlich so, dass die schwer reich sind, aber nie da, und wenn sie da sind, dann erzählen sie von ihren Erfolgen und was noch alles ansteht, und wenn dann Samuel Zeit einfordert oder einfach nur mal was sagen will, dann haben sie keine Zeit. Oder müssen telefonieren. Oder sonst irgendetwas. Bei seiner Mutter meint man, dass das Telefon schon am Ohr angewachsen sein muss, so viel telefoniert sie.“

„Ja, aber was solls, es ändert doch eh nichts, wenn wir das jetzt breittreten“, erklärte Samuel resignierend, „Und außerdem hat es ja auch sein Gutes.“

„Und was kann daran gut sein?“, hakte nun Ruben nach.

„Na jedes Mal, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben wegen mir, dann stecken sie mir Geld zu und meinen, ich solle mir doch was Hübsches kaufen“, erklärte Samuel achselzuckend.

„Und deshalb ist sein Zimmer so voll, dass man gar nichts mehr wüsste, was er sich noch Hübsches kaufen könnte. Dabei interessiert ihn der ganze Kram gar nicht“, sagte nun Rebekka, die die Gegebenheiten offenbar sehr gut kannte.

„Weil die Dinge, die man sich kaufen kann auch nicht zuhören“, gab Lilith zurück, „Was nützen ihm die coolsten Klamotten, die beste Elektronik, und was weiß ich noch alles, wenn er einfach jemanden haben will, der ihm zuhört.“

„Aber um zuhören zu können braucht man Zeit“, sagte Samuel nachdenklich, „Und nicht einfach nur Zeit, die ständig durch irgendetwas unterbrochen wird, sondern Zeit, in der man ganz anwesend ist und man sich durch nichts ablenken lässt. Zeit, die nur dafür reserviert ist und für sonst nichts.“

„Das ist richtig“, bestätigte Ruben, „So wie wir jetzt hier sitzen und nichts uns unterbricht. Das kann man nicht nur nicht kaufen, das muss man selbst initiieren und tun. Und doch wäre es so notwendig.“

„Es wäre so schön, wenn ich jemanden hätte, bei dem ich ankommen kann, bei dem ich mich mit meinen Gedanken und Worten angenommen fühle“, erklärte Samuel.

„Dann erzähl uns von Dir“, forderte Lilith ihn auf.

Und an diesem Abend wanderte die Skulptur eines Ohres in die Auslage, denn Zuhören, das ist etwas, das man wirklich braucht und nur im leeren Geschäft zu haben ist. Das ist das, was der Seele wohltut.

1
Ich mag doch keine Fische vergeben
Meine Bewertung zurückziehen
Du hast None Fische vergeben
6 von 6 Fischen

bewertete diesen Eintrag

Petra vom Frankenwald

Petra vom Frankenwald bewertete diesen Eintrag 08.12.2016 23:30:13

1 Kommentare

Mehr von Daniela Noitz