An Tagen, Orten oder zu Uhrzeiten, wo nicht mit thermischen, sondern nur mit dynamischen Aufwinden zu rechnen ist, wo also jeder Versuch, in punkto Höhe und Distanz über den entsprechenden Hügel- oder Gebirgskamm (Schweiz: Krete) hinauszukommen, im besten Fall suboptimal endet, spricht der Drachenpilot von einem „Kretenfick“. An dieses Nicht-Vorwärts- oder -Drüberkommen erinnert der mal auf kleiner, mal auf grosser Flamme köchelnde Alarmismus in Sachen Feindbild Islam. Was im Fall der Hängegleiter-Fliegerei indes durchaus Unterhaltung und Training sein kann, hinterlässt im Fall der erwähnten Endlosdebatte nicht selten den Eindruck öffentlich zelebrierter Selbstbefleckungs-Rituale. Warum.

Weil, was sich als Debatte ausgibt, oft gar keine ist. Ergebnisse argumentativer Verknüpfungen und Schlussfolgerungen stehen von vornherein fest. Gegenrede ist kaschierter Rückenwind. Wo sie echt ist, lässt der allseits vielbeschworene demokratische Sportsgeist massiv zu wünschen übrig und verkümmert zu Jaulen am unteren Rand der Gürtellinie. Resultat und gleichsam angestrebter Höhepunkt derartiger Gruppenaktivität: Der Islam ist Schuld. Eigentlich an allem. Das ist Schwachsinn. Wer solches behauptet oder glaubt, braucht in Wahrheit einen Blitzableiter. Er nimmt sich und seine Verantwortung aus der Gleichung heraus und gesteht damit nichts anderes, als dass er dem Islam nichts entgegenzustellen habe.

Damit gibt er Peter Scholl-Latour recht, der 2012 sagte, nicht die Stärke des Islam fürchte er, sondern die Schwäche des Abendlands. Oder anders gesagt: Wir. Wir sind das Problem. Nicht das kanzleramtlich leerverwaltete und je nach Event mit dem undefinierbaren Brei „freiheitlicher“ oder „liberaler Werte“ gefüllte Beliebigkeits-Wir der Ahnungslosen und Verängstigten. Wir im Sinn von Sie und ich. Wir als Teile der Gesellschaft, in die wir hineingeboren sind. Ja, aber die Politik …

Richtig: Die Politik hat die Grenzen sperrangelweit offen stehen lassen und sendet motivierende Grüsse an Wohlfahrtswillige und Shuttle-Dienstleister in der ganzen Welt. Es soll schon Mexikaner geben, die hierzulande Asyl beantragen. Aber das ist nur ein Bruchteil der Wahrheit. Lange bevor die Schlagbäume hochgerissen und die Grenzwachten nach Hause geschickt wurden, haben wir das, worauf unsere Gemeinschaften gründen, aufs Gründlichste überwunden und uns der passiven Verführung „fürsorglicher Freiheitsberaubung“ (Roger Köppel) durch den Staat ergeben. Freiwillig. Der Islam besetzt heute nur jenen brach liegenden Teil unseres Kulturlandes, das wir beim „Emanzipation“ genannten und auf Knien vollzogenen Rückzug auf die Scholle infantilisierter Ich-Vergötzung auf- und der Verwahrlosung preisgegeben haben.

Dieses Brachland – die Landmasse übersteigt die Fläche unserer lose treibenden Ego-Schollen bei weitem – heisst „christliche Fundamentalprinzipien“. Nein – dies wird kein Bekehrungs- sondern bloss ein Bestimmungsversuch des Orts, an dem wir stehen – so wie’s zurzeit aussieht, ist es keine „strategische Erfolgsposition“. Gerade wer von sich Objektivität und die sachliche Auseinandersetzung fordert, wird die Bibel und die darin vermittelten Werte – Glaube hin oder her – zumindest als Erzählung und damit als literarisches Kulturerzeugnis wahrnehmen müssen. Ein Kulturgut, das nebst der gewaltigen religiösen Fracht, die es enthält, die Grundlage der meisten unserer rechtsstaatlichen Verfassungen bildet.

Das Wort „christlich“ ist dieser Tage breit und tief verankert als Synonym  einer verkrampften, überholten und in Unterwerfung gipfelnden Gebots- und Verbotsorgie, die den Menschen durch Angst vor Bestrafung in Schach und Unmündigkeit hält für eine sich daran mästende Obrigkeit, die vorgibt, von Gottes Gnaden berufen zu sein (dass den einen oder anderen bei dieser Beschreibung der Ausdruck „Sozialstaat“ streift, ist Zufall). Das Problem: Das hat mit christlichen Werten in etwa soviel zu tun, wie Politik mit Nächstenliebe. Die Kirche war über die längste Zeit geradezu institutionalisierte Perversion christlicher Werte und ist es auch heute wieder. Oder noch deutlicher: Kirchen mit Herrschaftsanspruch, genauso wie andere Organisationen mit Machtambitionen, mussten und müssen die christlichen Prinzipien geradezu bekämpfen, umdeuten und verwässern. Denn: roh und pur, sind sie eine Anleitung zu individueller Freiheit und damit eine Bedrohung und Bremsklotz für jede sich zur letzten Instanz aufschwingende Organisation. Sie also nicht zumindest wahrzunehmen und darüber nachzudenken, ist der erste Schritt zu verordneter Selbstbeschränkung und damit zur Preisgabe eines Stücks der Freiheit, die ihnen ebenso innewohnt, wie die Möglichkeit zur Entscheidung.

Dieses Selber-Prüfen bedingt allerdings, von der politisch gesäuberten Mainstream-Definition, die Befehl, Kommando, Verbot und Rückschritt geifert und ab Kreissaal in Kinderhirne hinein-bildet, wegzukommen. Und man wird in dieser Distanz feststellen: Es bedarf schon eines faszinierenden Masses an Voreingenommenheit, um da Lebens- und Freiheitsfeindlichkeit zu finden, wo sich Wort für Wort der Eindruck von Schutz und Bewahrung der Menschen voreinander und des Einzelnen vor sich selbst geradezu aufdrängt. Freiheit statt Knechtschaft, Selbstverantwortung statt Blitzableitertum, Leistung und Eigentum statt Neid und Raub, freier Wille statt Gefühls- Hormongetriebenheit, Ruhe statt sklavischer Rastlosigkeit, Leben statt Tod – eine Hymne auf das grenzenlose Beschenktsein mit Veranwortung, eine Kürzest-Zusammenfassung der Zehn Gebote. Wo – bitte!? – ist da die Unfreiheit, wo Würdelosigkeit und Unmündigkeit?

In der – nota bene freiwilligen – Unterwerfung unter einen Gott, der vom Einzelnen fordert, andere zu achten und sie in Ruhe ihr Leben leben zu lassen? Jetzt mal im Ernst – warum kümmert das überhaupt jemanden, was geht es andere an, ausser den Betreffenden? Und vor allem: wem schadet solches? Dem Menschen selber, der buchstäblich frei ist vom Aktuellen, weil er die Furcht vor dem Ewigen überwunden hat? Schadet es seiner Familie, der Sippe, der Gesellschaft, die von ihm mitsamt Eigentum und Eigenarten in Frieden gelassen, respektiert, geachtet und bei Bedarf verteidigt werden? Oder schadet es vielmehr der Obrigkeit mit Machtanspruch – sei es Staat oder Kirche – , von der er sich weder einschüchtern, verwalten, kaufen, vereinnahmen und lenken lässt?

Antworten kann jeder nur für sich selbst finden. Zur Seite treten und sehen, was ist, hilft. Wir haben Staat. Wir haben einen Staat, der sich mittlerweile in die kleinsten Ritzen des Lebens und Zusammenlebens einmischt. Deutlicher: ein anonymes Funktionärsheer mit dem exklusiven Recht auf Gewaltanwendung, das sich mit unserem demokratischen Segen und jenem des Gesetzes unserer Leben bemächtigt. Und es ist an Ironie kaum zu toppen, dass am Ende dieses Wegs (ein Zurück hat es noch nie gegeben und Beispiele dafür gibt es genug) stets ein totaler und totalitärer Machtapparat steht, dessen Fundamente nur so stark sind, wie er der Mehrheit der Menschen gegenüber in der Lage ist, die zehn Gebote in ihr Gegenteil zu verkehren.

Jedes totalitäre Regime hat Gott abgeschafft. Opium fürs Volk, Voodoo, Märchenglaube? Meinetwegen – Fakt ist allerdings: Wer bei Gott Rechtfertigung, Kraft, Mut und Freiheit findet, ist auf keinen gütigen Vater Staat angewiesen. Welches Opium und für wen also, wenn es tönt: Ich bin „Wir“, dein Staat? Die Namen des „Wir“ sind „Gesellschaft“, „Demokratie“, „Soziales“, „Solidarität“, „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“.  Für alles und jedes, egal ob wahr oder nicht, kann einer dieser Namen angerufen werden. Ruhe gibt’s erst wenn man tot ist – Daueralarmismus, Rastlosigkeit, Unsicherheit und Misstrauen sind Pflicht. Alte und Kinder? Auch dafür gibt’s Staat. Betreuung, „Bildung“, Erziehung und assistiertes Sterben inklusive. Ehe, klassische Rollenbilder – ganz schlecht. Du kannst emanzipiert sein, also musst du es auch sein wollen. Für alles andere gibt es die Genossen und Genossinnen. Schutz brauchst du nicht. Raub und Enteignung sind okay, solange du dich aufs Fordern beschränkst und uns den Job machen lässt. Neid ist politisches Programm,  Pflicht und Unterhaltung. Lohn gibt’s nicht für Leistung, sondern fürs Dabeisein. Lüge, Unwahrheit, Denunziation, Rufmord und Verrat werden separat vergütet. Und was Bildniskult und  Tod anbelangt: Ein Blick in die staatlichen Paradiese Nordkoreas und Venezuelas, wo die Staatsgötzen allgegenwärtig sind, genügt. Ausserdem: grosse Ideen fordern grosse Opfer. Beim Prügeln und Drohen sind wir schon.

Am Ende des Wegs sind wir zum Glück noch nicht. Bezahlen tun wir indes seit Jahren und reden uns auch noch ein, der Preis sei ein Gewinn:  die Aufgabe der Selbstverantwortung, auch bekannt unter den Namen Freiheit, Familie, Tradition, Glaube, Brauchtum, Eigentum, Heimat. Und auch heute wieder gilt, wer sich selbst oder anderen ein höfliches aber bestimmtes „Nein!“ entgegenhält ist „feindlich“ und Gefahr. Verteidigung ist verboten.

Das ist es – grob und vereinfachend gesagt – wo wir stehen. Emanzipiert und in jeder Hinsicht entwaffnet. Und in diese bunte Losgelöstheit der in Selbstbetrachtung gefangenen, von Gratis-Wohlstand geschwächten, jede ökonomische Realität ignorierenden und in den Ketten ich-zentrierter Minimal-Befindlichkeiten liegenden Gesellschaft hinein haben „wir“ den Islam eingeladen, der sich daran macht, das einzig Logische zu tun: sich teilweise mit Gewalt zu nehmen, was ihm erstens angeboten wird, was wir zweitens freiwillig aufgegeben haben und was drittens sein Gott von ihm fordert: Alles. Wir selber, Eigentum und die mit dem kulturell zelebrierten und steuergeldfinanzierten Pflichthass belegten Heimatländer mit eingeschlossen.  Was soll also das Fingerzeigen auf den Islam? Was soll das Rufen: „Unser Geld, unsere Kinder, unsere Frauen, unsere Familien, unsere Arbeit, unsere Wirtschaft, unsere Heimat?“ Jetzt plötzlich? Die Sache ist die: Es gehört längst nicht mehr uns. Es gehört dem Staat, an den wir um den Preis von Emanzipation, Bequemlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit und kurzfristiger Ich-Optimierung während Jahrzehnten Stück für Stück alles abgetreten haben. Und die Sache mit „Der Staat sorgt für sich selbst zuletzt“ – das ist ein Missverständnis. Richtig heisst es: „Der Staat sorgt für sich; selbst zuletzt.“ Immer.

Vor diesem Hintergrund zu sagen, der Islam sei Schuld, während man jenes der Lächerlichkeit preisgibt, von dem wir auch heute noch zehren – eine Art Restschwung früherer Freiheit und des Willens, sie bis aufs Letzte für sich selbst und für die anderen und mit den anderen zu verteidigen – ist geistige Beweglichkeit auf Baseballschläger-Niveau. Ein Kretenfick eben.

Es ist an der Zeit, wieder etwas zu riskieren. Auf eigene Verantwortung.

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