Seit mit dem Zustrom von Flüchtlingen Ängste geschürt werden beruft man sich gerne auf die abendländischen Werte, die es zu bewahren gilt. Damit kann selbstverständlich sehr Unterschiedliches gemeint sein, aber im Allgemeinen bezieht sich der befürchtete Verlust auf die Grundsätze der Aufklärung. Eine Epoche, in der die Weichen für unser „modernes Zeitalter“ gestellt wurden.

Gedacht als „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (so Kant 1784 in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage: was ist Aufklärung?) sollte sie den Menschen helfen, zu erwachsenen und mündigen Bürgern zu werden. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Die Vernunft sollte als Maßstab für persönliches und gesellschaftliches Handeln dienen. Das helle Licht der Vernunft sollte damals alle dunklen Ecken des Aberglaubens und der blinden Untertänigkeit gegenüber Staat und Religion besiegen. Man hoffte und glaubte daran, dass Bildung und Erziehung die Menschheit voranbringen kann.

Ohne hier auf alle Folgen dieser Geisteshaltung näher eingehen zu können, darf wohl behauptet werden, dass es die Französische Revolution mit ihrem Schlachtruf „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ ohne die vorangegangene Epoche der Aufklärung nicht gegeben hätte, dass die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Gründungsstaaten, die ersten demokratischen Verfassungen und die Erklärung der Menschenrechte zum Kanon dieser „europäischen Werte“ gehören.

Abgesehen davon, dass diese Werte der Aufklärung ohnedies hauptsächlich als Errungenschaften Europas und Amerikas gesehen werden müssen und in weiten Teilen der Welt auf Unverständnis treffen, muss man gelegentlich kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen, dass sie auch hierzulande bei weitem nicht in alle Herzen und Köpfe vorgedrungen sind.

Der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant scheute auch nicht davor zurück, die Ursachen zu nennen, die das Projekt der Aufklärung immer wieder in Frage stellen und scheitern lassen. „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein großer Teil der Menschen dennoch gerne unmündig bleiben will und warum es Anderen so leicht gemacht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“

Konrad Paul Liessmann schreibt in einem Essay zum Generalthema „Neue Aufklärung“ des Forum Alpbach 2016: …Die Vormünder, von denen Kant den mündigen Menschen befreit wissen wollte, heißen heute Berater, Coaches, Therapeuten, und immer öfter ist es der paternalistische Staat selbst, der durch Regeln, Hinweise, Verbote für das richtige, gesunde und glückliche Leben seiner unmündigen, aber bequemen Bürger sorgt. Andere denken für uns…

Es mag tatsächlich so sein, dass unser Bild vom „ganzheitlichen Menschen“ auf ein reines Verstandeswesen, das in einem maschinenähnlichen Körper wohnt, reduziert wurde. Dass blindwütiges Vertrauen in Naturwissenschaft und Technik einen Irrweg darstellt, den wir schleunigst wieder verlassen sollten.

Liessmann zitiert in seinem Essay auch den Philosophen Moses Mendelssohn, der in der Berlinischen Monatsschrift ebenfalls zur Frage der Aufklärung Stellung nahm. Für ihn zerfällt „Bildung“ in Kultur und Aufklärung. Aufklärung ist somit nicht alles. Sie stellt neben der Kultur nur einen Aspekt der Bildung dar und ist somit der Selbstvervollkommnung des Menschen untergeordnet. Er warnt vor der Hybris betonter Nationalstaatlichkeit und zwar lange vor den Auswüchsen barbarischer Nationalismen, mit denen die Menschheit im vorigen Jahrhundert konfrontiert war. Und er zweifelt keinen Augenblick daran, dass der Mensch lernen muss, die zahlreichen Fallen seiner geistigen Unmündigkeit zu überwinden und Bildung dabei hilfreich ist.

Wenn in unserer Zeit von völkisch sauberen Staaten gefaselt wird, wenn zugelassen wird, dass Religionen staatliche Ordnungen und Gesetze diktieren, wenn Bildung als Hindernis für ein gelungenes Leben verstanden wird und man sich nicht mehr die Mühe macht, populistische Heilsverkünder zu hinterfragen und die Ursachen allen Übels in skurrilen Verschwörungstheorien erklärt werden, dann laufen wir ernsthaft Gefahr, die mühsam erkämpften Errungenschaften aufklärerischen Denkens mit einem Federstrich weg zu wischen.

Faulheit, Dummheit und Feigheit sind, auch 200 Jahre nach Kant, noch immer die größte Gefahr im Hinblick auf die selbstverschuldete Unmündigkeit eines Menschen. Das hatte wohl auch Wilhelm Reich im Sinn, als er in seiner „Rede an den kleinen Mann“ (1946) schrieb: Es gibt diverse Weltverschwörungstheorien, die behaupten, wir werden von dunklen Mächten beherrscht, von den Illuminaten, den Rockefellers, den Skulls oder einer Clique von Kapitalisten. Mach dir nichts vor, kleiner Mann. Du bist es selbst. Es ist keine Verschwörung nötig, um dich zu beherrschen und zu unterdrücken…

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