Vorurteile - helfen sie oder stehen sie uns vielleicht sogar im Weg?

Stefan wirkt genervt und geistesabwesend. Er steht in einem der unzähligen Gänge im Supermarkt. Eines seiner Kinder fordert gerade, an seiner Hose hängend, lautstark eine Schokolade ein. Währenddessen erkundet das zweite Kind friedlich im Einkaufswagen sitzend die Konsistenz des faschierten Fleischs, welches kurz zuvor neben ihm abgelegt worden war. Stefan versucht sich zu erinnern, was denn noch auf dem Einkaufszettel stand, den er wieder mal zu Hause vergessen hatte. Auf seine Kinder reagiert er gar nicht - er lässt sie gewähren.

Dieses Bild ist gar nicht so selten anzutreffen. Und es ist faszinierend, wie das Umfeld darauf reagiert: die meisten Menschen eilen, zum Teil wie ferngesteuert mit dem Handy am Ohr über Gott und die Welt sprechend, an der Szenerie vorbei und scheinen gar nicht zu realisieren, was da passiert. Unter jenen, die am Geschehen rund um Stefan Anteil nehmen, reichen die Reaktionen von einem milden mitleidigen Lächeln über ein erbostes Kopfschütteln bis hin zu Unmutsäußerungen, in denen zum Ausdruck gebracht wird, dass Männer mit Kindern und Haushalt wohl vollkommen überfordert seien.

Man muss gar keine politische Diskussionen lostreten, um auf Vorurteile zu stoßen. Es sind Alltagssituationen wie die soeben beschriebene, welche bereits sehr deutlich machen, dass unsere Gesellschaft schnell da ist mit scheinbar vereinfachenden Zusammenfassungen komplexer Beobachtungen und Hintergründe. Da wird Wahrgenommenes gar nicht lange hinterfragt. Statt dessen werden anhand eigener Verhaltensmuster, vergangener Erfahrungen und dem vermeintlichen Wissen über gesellschaftliche Normen sofort Urteile gefällt. Die ihrerseits Grundlage sind für reaktives Verhalten, mit welchem dem Umfeld gezeigt wird: ich kenne die gesellschaftlichen Normen, ich bin normal, ich gehöre zu den Guten.

Vorteile bauen auf typisiertem Wissen auf, welches meist ohne tiefere Plausibilisierung Sachverhalte auf gut oder schlecht beziehungsweise richtig oder falsch reduziert. Manchmal wird dies auch noch angereichert mit schlau klingenden Argumenten: "Die Natur hat sich schon was dabei gedacht, dass Frauen die Kinder kriegen." Aha. Sehr überzeugend. Da wird eine biologische Tatsache der Fortpflanzung des Menschen plötzlich in einen Konnex gebracht zu weit nach der Geburt liegenden Begegnungen, zu denen keinerlei Korrelation evident ist. Doch das beweise mal, dass das Humbug ist. Darüber hinaus werden Stereotype gebildet und gestärkt mit dementsprechenden Erfahrungswerten, welche mit ausführlichen Emotionsbeschreibungen angereichert gerne auch ungefragt weitergereicht werden und quasi schon zum Allgemeinbildungsschatz gezählt werden: Etwa die auch von einer Staranwältin des Familienrechts gerne kolportierte Geschichte, dass ein Vater seinem Kind Schlagobers zu essen gegeben habe; oder es doch immer die Männer wären, welche den Gürtel als vermeintliches Erziehungsinstrument gebrauchen würden. Da wird dann weder hinterfragt, ob denn das so stimme, was denn gegebenenfalls der konkrete Situationsrahmen zu dieser Erfahrung war oder inwieweit derlei Schilderungen auch mit weiblicher Besetzung der Hauptrolle Realität sein könnten. Es klingt dem Vorurteil entsprechend, also muss es auch unbeachtlich der statistischen Wahrscheinlichkeiten der Wiederholung solcher Begebenheiten stimmen und kann als Rechtfertigung dafür herangezogen werden, dass beim Anblick eines Vaters mit seinen Kindern darauf gelauert wird, diesen Erfahrungswert bestätigt zu finden.

Männer sind also mit Kindern schnell überfordert und haben obendrein keine Ahnung vom Haushalt. Begegnet man einem wie Stefan in oben geschilderter Situation, dann kann man darauf ja eigentlich nur mit Mitleid oder Aggression reagieren, sofern man nicht gerade zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Und muss dann auch zu erkennen geben: bitte, ich weiß, was ich davon zu halten habe; ich bin ja normal, ich bin vertraut mit der gesellschaftlichen Konvention.

Wie kann man diese gesellschaftliche Blindheit eigentlich ablegen? Wie könnte man in der konkreten Situation etwa erkennen, dass Stefan gerade seine Frau ins Spital bringen musste wegen des Verdachts auf einen Schlaganfall; er noch schnell für das Abendessen einkaufen möchte und eigentlich schon in Gedanken ist, wie er denn die nächsten Tage Beruf, Haushalt, Kinder und die ihm wichtigen Besuche bei seiner Frau im Spital aufgrund des unvorhersehbaren gesundheitlichen Zwischenfalls unter einen Hut bringen kann? Vorurteile jedenfalls verhindern erfolgreich, dass Stefan vielleicht Hilfe gewährt werden könnte - und sei es nur durch Zuhören und damit die Gelegenheit, dass er seine große Sorge mitteilen darf.

So sinnvoll Mechanismen zum Gruppenzusammenhalt oder zur kurzfristigen Orientierung auch sein mögen, so dringend ist es erforderlich, sich im Umgang miteinander wieder ein wenig Zeit zu lassen. Beobachtungen brauchen ebenso Zeit wie auch verschiedene Perspektiven; und für die Zuordnung des Wahrgenommenen zu einer Erklärung bedarf es, wenn man eine anschließende Wertung tatsächlich für notwendig halten sollte, eine gehörige Portion Empathie und auch ein Nachfragen. Ohne vorschnelle Urteile über das Umfeld. Statt dessen mit ein wenig mehr wertschätzender Neugier für Situationen, in welche wir geraten oder zu denen wir Zeuge werden. Dann könnte es auch so manche Überraschung geben - etwa das Kennenlernen väterlicher Liebe, die der mütterlichen um nichts nachsteht, auch wenn sie vielleicht anders zum Ausdruck kommt.

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