oder: In Würde alt werden um 3.100 Euro im Monat 

Vor 3 Wochen starb meine Mutter. Über 90 Jahre wurde sie. Gesund, bis auf ein paar Wehwehchen, schlief sie in einer Freitag-Nacht ein. Für immer. Die letzten 12 Jahre lebte meine Mutter in zwei Pflegeheimen. 

Die letzten 8 Jahre verbrachte sie in einer privaten Einrichtung, von der es hieß, sie sei besser als die Pensionistenwohnhäuser der Stadt Wien. Dort, im Heim eines katholischen Ordens, so versicherten uns der Leiter und die leitende Ordensschwester wäre die Betreuung persönlicher, professioneller und menschlicher.

Und so fassten wir damals rasch (es wurde zufällig ein Platz frei) den Entschluss meine Mutter, sie war damals 82 Jahre alt, aus Wien (Lainz) nach NÖ zu bringen.

Der Beginn war vielversprechend. Alles schien perfekt. Ein 3 Bett-Zimmer, mit der Zusage auf ein Einzelzimmer. Da war Mutter noch mobil, ging spazieren im Ort, besuchte das Caféhaus in der Einrichtung, nahm an den wenigen Aktivitäten (gemeinsames Rätselösen, Kartenspielen, Bewegungsstunden, die darin bestanden indem die BewohnerInnen eine zusammengerollte Zeitung mit beiden Armen im Sitzen heben und senken mussten) teil, die geboten wurden. Dazu gab es regelmäßig Hausmessen, die darauf ausgelegt waren, den Menschen in der Einrichtung etwas zu verkaufen- Kleidung, Schmuck oder Lebensmittel von örtlichen landwirtschaftlichen UnternehmerInnen. Der Schwerpunkt des Programmes aber war religiös geprägt.

2 Kirchenchorkonzerte pro Jahr(Ostern/Weihnachten). Gemeinsames Beten zu kirchlichen Festen (die katholische Kirche hat genug davon) das war's. 

Wäre da nicht das neue Flatscreen-Tv-Gerät gewesen. Es war für meine Mutter der beste Zeitvertreib, neben dem täglichen Studium der Krone und ein paar Büchern, die wir ihr brachten.

Von Monat zu Monat wurde Mutter träger, inaktiver und auch depressiv.

In ihrem Tagebuch schrieb sie 2009:

"Ich muss mich mehr konzentrieren auf die Dinge, die schön sind, die Sonne, die auf die Blumen am Balkon scheint, auf das Zwitschern der Vögel in den Bäumen draußen ... " 

Das musste/durfte ich lesen 2017 nach ihrem Tod. Zu spät.

Ihr Lebensrhythmus geriet in Unordnung. Sie begann Kleidung in Kästen zu ordnen. Nachts um 2, 3 Uhr Früh. Ihre beiden Mitbewohnerinnen waren böse, weil sie nicht schlafen konnten.

Das Problem war schnell gelöst. Schlafmittel. Drei Wochen nachdem die nächtlichen Aufräumaktionen begonnen hatten, waren sie kein Thema mehr. 

"Wir haben das jetzt im Griff", hieß es.

Von den Schlaftabletten habe ich erst später erfahren. Jahre später. Der erste Verdacht: Als ich eines Tages (im November 2015) um 10 Uhr Vormittag zu Besuch kam und Mutter erst bei der Morgentoilette war, während die anderen Bewohnerinnen schon längst gefrühstückt hatten. Inzwischen hatte sie ein Einzelzimmer bezogen.

"Frühstück gibt's jetzt keines mehr, um 11 Uhr fangen wir schon mit dem Mittagessen an!"

Eine Woche später besuchte ich sie gegen 17 Uhr 30. Vergeblich suchte ich sie im Gemeinschaftsraum. In der Bibliothek war sie auch nicht. Also schaute ich in ihr Zimmer. Da lag sie. Im Bett, müde, die Augen halb geschlossen. Im Fernsehen lief irgend eine Vorabendsendung. Auf dem Tisch das Abendessen. Ein paar Löffel hatte sie gegessen ... 

Ich fragte beim Personal nach, ob meine Mutter krank sei.

Nein, sie wäre nur sehr oft müde, weil sie schon älter sei. "das ist normal, wenn man 88 ist". Ich überzeugte mich bei mehreren Besuchen, dass sie nie vor 10 Uhr geweckt und immer gegen 17 Uhr schon zu Bett gebracht wurde. Also fragte ich, ob sie Schlafmittel bekommt. 

"Das weiß ich nicht".

"Nein, ich glaube nicht!"

"Fragen sie die Stationsschwester".

"Fragen sie die Ärztin". 

Die erklärte mir dann, dass sie, weil sie nachts früher immer so unruhig war, mehr oder weniger starke Schlafmittel verabreicht bekommt.

Die Schlafmittel wurden also über Jahre weiter verordnet, obwohl sie längst im Einzelzimmer war und niemand mit ihrer nächtlichen Ordnungssucht stören konnte?

"naja sie steht manchmal auf und geht auf dem Gang spazieren mit dem Rollator, wir haben nicht genug Personal um aufzupassen ..."

Mitte 2016 konnte sie kaum mehr ohne Hilfe essen. 

"Bitte hilf mir, sonst wird das Essen kalt"

"Warum?"

"Bis jemand kommt und mir hilft, ist es kalt und dann räumen sie es weg. Bring mir nächstes mal Schokolade mit, bitte!"

Mutter war inzwischen sehr abgemagert. Wurde mit Infusionen behandelt. Breikost, kalt, weil zu spät "gefüttert".

Nun wurde mir klar. Es ist einfacher einen alten Menschen zu betreuen, wenn er möglichst wenig tut. Wenn er schläft. Inaktiv ist. Zu wenig Personal erklärte mir die Stationsschwester.

Schlecht bezahlt, das konnte ich nur vermuten. Denn als Mutter Ende April starb und ich das Zimmer räumen musste, fehlten ihre Eheringe (ihrer und der meines Vaters, den sie ebenfalls trug) und ein Goldarmband. Eine alte Frau, ruhiggestellt mit Schlafmittel, ist einfach zu bestehlen.

Bei der Erbschaftsregelung im Notariat bekomme ich eine Rechnung des Fonds Soziales Wien präsentiert: 165.000 Euro

sei meine Mutter schuldig, die Pflegekosten. 

Im Monat etwas mehr als 3.100 Euro. 

Für teilweise nicht verabreichtes Essen (in den letzten Jahren)

Für ein paar Packungen Schlaftabletten.

Für 2 Kirchenchorkonzerte im Jahr.

Für viele Stunden gemeinsames Beten.

3.100 Euro für eine Betreuung, die keine war.

Ich bin erschüttert, aber ich mache niemand einen Vorwurf.

Nur mir selbst: Ich hätte sie öfter besuchen müssen!

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