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Vor meinem Wohnzimmerfenster fällt der Schneeregen vom Himmel. Windböen peitschen die Tropfen gegen das Glas und biegen die Spitzen der Scheinzypressen im Garten. Ich lege das Buch zur Seite. „Hypermoral – die neue Lust an der Empörung“. Gute Gedanken, tolle Formulierungen. Viele Ansätze, die mich schon lange beschäftigen, in Worte gefasst, die ich selbst nicht gefunden hätte. Munition für kommende Auseinandersetzungen. Aber ich bin des Streitens müde. Dieses Gefühl der ständigen Wiederholung – ich komme schon viel zu oft an derselben Straßenecke vorbei. Hunderte Kilometer liegen hinter mir und doch bin ich kein Stück weiter gekommen.

Ich finde viel eher, wenn ich nicht suche. Es sind Eindrücke die aufblitzen und etwas zurücklassen, das sich wie das Vibrieren der Stille nach einem lauten Knall anfühlt. Manchmal in leisen Texten versteckt. In einer zurückhaltenden Geschichte, die von dem Mann erzählt, der eigentlich nur einen Brief einwerfen will, aber plötzlich beschließt weiterzugehen. Schwierig zu erklären, was ich zwischen den Deckeln dieses Buches gefunden habe. Aber es war etwas Wichtiges. Ich stell mir das so vor: Mein Bewusstsein ist eine reflektierende Fläche. Jeder große Eindruck der darauf trifft, ist wie ein Hammerschlag. Er verändert die Art, in der zukünftig auftreffende Bilder reflektiert werden.

Ganz oft erlebe ich dieses Verändern meiner Spiegelfläche in der Natur. Meistens im Wald und zwar dort, wo Menschen selten sind.

Heute ist ein guter Tag dafür. Unfreundlich und abweisend für die meisten. Einladend für mich. Ich rufe meinen Hund, den Willi, schlüpf in die warme Motorradjacke, schnapp mir die Leine und breche auf. Ich lebe am Stadtrand. In etwa fünf Minuten bin ich im Wald. Als ich aus dem Auto steige, ist aus dem Schneeregen richtiger Schnee geworden. Kein Pulver aber immerhin. Ich kenn das schon. Mein Ausgangspunkt liegt auf etwa 400 m. Das ist oft genau der Höhenunterschied zur Stadt, der nötig ist.

Wir gehen los. Der Wind bläst mir die nassen Flocken ins Gesicht. Es liegt sogar schon etwas Schnee auf dem braunen Laub. Ich hab gesehen, wie im Frühjahr die Knospen aufgesprungen sind und die Spitzen der Blätter freigegeben haben. Ganz hellgrün waren sie. Dieses Jahr wurden sie von der gefräßigen Raupe verschont. Nur ganz vereinzelt waren die Fraßspuren zu sehen. Im Sommer bin ich im Schatten des Blätterdaches marschiert und habe im Herbst die bunten Farben bewundert. Dann ist der Wind und die Kälte gekommen – spät in diesem Jahr – und hat sie von den Ästen gezupft. Jetzt sind sie der weiche, duftende Boden unter meinen Füßen. Der Geruch von Endlichkeit und Vergehen.

Der Schneefall wird stärker und ich blinzle aus halbgeschlossenen Augen in die Welt. Die Flocken hängen in meinen Wimpern. Ich sehe nur undeutlich und spüre umso mehr. Ich war hier schon oft und doch: Ich entdecke immer wieder Neues. Erst letztens die Eiche, mit den eingehauenen Stufen. Sie führen fast bis zur Krone. Was war ihr Zweck? Ein Ausguck? In dieser Gegend findet man die Reste des „Schirachbunkers“. Benannt nach dem Gauleiter Baldur von Schirach. Meine Oma hat mir erzählt, dass bei Fliegeralarm im WK2 ein Autokonvoi mit Nazibonzen dorthin gerast ist. Mein Papa ist nach dem Krieg mit Freunden runtergeklettert. Da gab es noch einiges zu finden. Bald darauf wurden die Eingänge zubetoniert. Ich habe mit meinen Freunden – es muss in den 80ern gewesen sein – ein Referat über die Anlage gehalten. Einer der Eingänge war ein Stück aufgestemmt. Grade so, dass sich schlanke Kinder durch das dunkle Loch zwängen konnten. Ich erinnere mich noch an meine Angst. Auf dem Rücken liegend, die Füße voran, einen Meter Beton über dem Gesicht, ließ ich mich ins Unbekannte gleiten und fand mich in einem langen Gang. Es roch ganz speziell. Modrig und alt. Ich hatte eine Pocketkamera und einige Kerzen dabei. Wir marschierten weit in die Eingeweide des Wienerwaldes. Alte Münzen, Eisenteile und das Schicksal unserer Großeltern lagen vor uns. Nach einiger Zeit zündeten wir eine der Kerzen an und ließen sie zurück. Sollte die Taschenlampe ausfallen, könnten wir zurück zum Ausgang finden. Unser Weg erreichte sein Ende als der Gang nach unten abzweigte und nach einigen Metern verschüttet war. Wir taten so – wenigstens ich – als ob wir sehr verärgert wären. Gerne hätten wir weiter geforscht. In Wahrheit wollte ich endlich wieder ans Tageslicht. Wir kehrten also um. Als wir die Stelle mit der Kerze erreichten, war der ganze Gang verraucht. Ich weiß nicht, wie das kam. Vielleicht haben wir die Situation auch bedrohlicher wahrgenommen, als sie wirklich war. Wir rannten jedenfalls durch den Qualm und erreichten den Ausgang. Als wir uns durch den Spalt zwängten, war es bereits dunkel. Ich weiß noch wie froh ich war, das Abenteuer überstanden zu haben.

All das fällt mir jetzt ein. Ich muss mich gerade irgendwo über diesem Gang befinden. Ich empfinde Stimmungen der Kindheit und erinnere mich an Gerüche von damals. Ich bin vor einiger Zeit den steilen Hang hinunter geklettert, an dessen Fuß der versteckte Eingang liegt. Es hat wieder jemand versucht einen Zugang freizulegen. Vielleicht neue Kinder mit neuen Abenteuern. Meine sind fast 40 Jahre her.

Ich bin jetzt beim Gipfelkreuz angekommen. Am Heuberg, 464 m hoch. Kein Gipfel im eigentlichen Sinn. Eher ein Hügel. Trotzdem stürmt es hier heftig. Ich berühre kurz das Kreuz bevor ich umkehre. Ich mache so seltsame Dinge. Nicht immer weiß ich warum. Ich erlaub es mir einfach.

Es hat mich interessiert, was die Bäume die ich so mag, schon gesehen haben. Ich fand heraus, dass Eichen in unseren Breiten 800 Jahre alt werden können. Buchen etwa 300. Eine Eiche die jetzt alt ist war es auch schon, als mein Großvater mit seinem grünen Rucksack aus diesem Material, das nicht intelligent aber gscheit war, den Wald durchstreift hat. Auf Schwammerlsuche. Vielleicht war er müde und hat sich etwas ausgeruht. Am Fuße des Baumes, den Rücken an seinen Stamm gelehnt. Ich gehe zu einer großen, alten Eiche und streiche mit dem Zeigefinger über ihre Rinde. In einer Vertiefung halte ich an und lausche. Wenn ich das länger mache höre ich mein Blut fließen.

Ich weiß noch als wir, nach dem Herauskraxeln aus dem Bunker, die steile Böschung erklettert haben. Es war jetzt wirklich schon stockfinster und wir wollten so schnell wie möglich die Straße mit ihren Lampen erreichen. Plötzlich glühte im dichten Wald ein Licht auf. Das Herz rutschte uns in die Hose. Zwischen den Bäumen tauchte eine mächtige Gestalt auf. Das rote Licht war die Glut seiner Zigarette, an der er lässig zog. Es war mein Vater. Er wollte uns das Abenteuer nicht verbieten, hielt sich aber bereit – für alle Fälle. Wo er uns erwarten musste, das wusste er noch aus seiner Kindheit.

Seine Glut ist lange erloschen. Ich werde ihn aber immer so in Erinnerung behalten. Und es wird für mich nie etwas Wichtigeres geben als meine Menschen, meine Geschichten und meine Wurzeln.

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