In diesem Beitrag wird der Begriff Anarchismus zunächst mal definiert. Anschließend zeige ich die historische Entwicklung dieser Idee. Die Fragen ob wir in einer anarchistischen Gesellschaft gelebt haben, noch leben oder vielleicht sogar leben sollten, werden im Verlauf beantwortet.

„Warum mit aber Anarchie gar so gut gefällt? Ein jeder lebt nach seinem Sinn, das ist nun also auch mein Gewinn! Ich laß‘ einem jeden sein Bestreben, um auch nach meinen Sinn zu leben“ – Johann Wolfgang v. Goethe.

Zur Definition: Laut Duden wird Anarchismus wie folgt beschrieben. „Lehre, die eine Gesellschaftsform ohne Staatsgewalt und gesetzlichen Zwang propagiert„.

Das Wort Anarchismus stammt etymologisch aus dem griechischen „anarchia“ und heißt soviel wie „Herrschaftslosigkeit“. Also mit anderen Worten ist der Anarchismus die politische Ideenlehre, welche jegliche Unterdrückung von Menschen über Menschen, als auch jegliche hierarchische Machtstruktur ablehnt (Göhler, 1993). Anarchisten streben demnach eine freie Gesellschaft der Gleichberechtigung an. Die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sollen befähigt und ermutigt werden, ihre privaten und gesellschaftlichen Bedürfnisse ohne Hierarchie und Bevormundung mit einem Minimum an Entfremdung selbst in die Hand zu nehmen. Die Eckpfeiler sind: Freiheit und Solidarität (Stowasser, 1995: 10ff). Die reale Umsetzung dieser theoretischen Grundlage, soll entgegen den autoritären Zentralismus, also in Form von Föderalismus stattfinden. Besonders am „anarchistischen Ansatz“ des Föderalismus ist, dass er das Konstrukt des Staates als eine Despotie verneint und somit für eine offene und freie Bildung von vielen parallel existierenden Gesellschaften plädiert. Mit den Worten des jüdisch-deutschen Philosophen und Anarchisten Gustav Landauer: „Anarchie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften von Gesellschaften„. Nicht zu verwechseln ist diese Form des menschlichen Zusammenlebens mit den Formen der „segmentären Gesellschaften“, also jene Sozialstrukturen die zwar nicht von politischen Institutionen geprägt sind, aber dennoch hierarchische (meist patriarchale) Strukturen aufweisen mit Klassen, Ständen, Kasten und Schichten (Vgl. Carter, 1988; Sigrist, 1979).

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Zum Inhalt: Die zentrale Idee ist die Freiheit: Niemand soll herrschen! Die Gesellschaft drückt ihre Freiheit aus, indem die Menschen darin, solidarisch sich selbst organisieren. Dabei kommt das Zusammenspiel von „Kollektivität und Individualität“ ins Spiel. Die eine Komponente darf der anderen nicht zum Opfer fallen. Folgende Punkte können als anarchistische Leitidee definiert werden:

Balance zwischen Individualismus und Kollektivismus (dialektisches Verhältnis)

Abschaffung von Machtstrukturen Gefängnissen,Psychiatrien und Regierungen

Überwindung von hierarchischen Gesellschaftsstrukturen wie Klassen, Schichten, Kasten und u.a. Adelsstände

Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise – solidarische und genossenschaftliche Ökonomie soll statt der menschenverachtenden, umweltzerstörenden Wachstumsökonomie (Neoliberalismus) implementiert werden

Föderalismus statt Zentralismus

Direkte Demokratie und Selbstbestimmung, statt repräsentative Demokratie oder Oligarchie (Delegierung der eigenen Verantwortung)

Anti-Militarismus – weltweite Abrüstung

Beibehaltung der kulturellen Vielfalt, entgegen den Globalisierungstrend der „Gleichmachung“

Gegen nationale Grenzziehungen, die auf Macht und geschichtlichen Zufall basieren

Beibehaltung der spirituellen und religiösen Glaubensrichtungen und Respekt vor allen Gläubigen, jedoch bei gleichzeitiger Abschaffung von Dogmen und der „Institution Kirche“ – Antiklerikal aber nicht gegen Religionen

Gegen alltägliche Abhängigkeits- und Unterdrückungsmechanismen speziell die, die Frauen und Kinder ausbeuten und diskriminieren

Abschaffung des patriarchalen Systems (feministische Theorie)

Für freiwillige Zusammenschlüsse und freie Partnerwahl, gegen Zwangsehen und gegen die derzeit etablierte Institution „Ehe“ (staatlich reglementierte Normierungen). Der freie Wille des Menschen soll auch vor der Liebe nicht halt machen

In Harmonie mit der Natur (Naturbewusstsein), gegen die massenhafte Ausbeutung von Rohstoffen und gegen Umweltverschmutzung

Zur Geschichte des Anarchismus: Seit Jahrhunderten wird der Begriff „Anarchie“ im offiziellen Sprachgebrauch negativ konnotiert. Seit dem 19. Jhdt. geschah dies mit der offensichtlichen Absicht diese politische Ideenlehre zu diskreditieren. Ganze Generationen von Politikern, Kommunisten, Adlige und Pfarrer haben stets diesen Begriff abgewertet. Dies zeigt schon, was Michel Foucault und der Poststrukturalismus aufgedeckt haben, dass Sprache eine subtile Form der Schaffung der Realität ist. Einfacher ausgedrückt: Sprache wurde zur Meinungsmache benutzt.

Wer war der erste Anarchist? Man kann darüber nur spekulieren. Außerdem gab es Anarchisten, die sich selbst so nie beschreiben würden. Meiner Meinung nach waren Sokrates (469 v. Chr. – 399 v. Chr.) und Jesus Christus (5 v. Chr. – 28 n. Chr.) die ersten Persönlichkeiten, die anarchistische Züge aufwiesen: Beide ließen sich nichts vorschreiben und hinterfragten alles kritisch, weigerten sich Dogmen anzunehmen(antiklerikale Tendenzen)und kämpften gegen die bestehende Machtstruktur (Staatsherrschaft) – was ihnen jedoch das Leben kostete (Todesurteil).

Wenn man die Definition von Anarchie des Immanuel Kants (1724 – 1804) hernimmt: „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt ist Anarchie„, so kann man M. Gandhi (1869 – 1948) auch als Anarchisten bezeichnen (Stowasser, 1995: 14). Für Kant ist der Begriff Gesetz eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern die Gesamtheit sozialer Regeln im Sinne seiner Pflichtethik.

Kritik am Staat: Die meisten BürgerInnen sind sich bewusst, dass es lügende Politiker und korrupte Beamte gibt und dass das Finanzamt ein Raubritternest ist (Stowasser, 1995: 28). Die Armee verpulvert das Steuergeld, während die polit-ökonomische Elite parasitär auf dem Rücken der produktiven ArbeiterInnen liegt. Das scheinbare Argument für einen Staat, der sowohl das Gewaltmonopol innehält, als auch legal (Steuer)- Geld eintreiben darf ist folgende Argumentationskette: „Er sorgt sich für die Post, Eisenbahn, Krankenhäuser, Universitäten und Schulen, für den Straßen- und Brückenbau, bis hin zu Rentenversorgung, Alterversichungen und Arbeitslosenunterstützungen.“ Aber bei einem genauen Blick sieht man, dass all diese positiven Eigenschaften nicht in der Genesis des Staates zu finden sind und dass diese unabhängig von Regierungen entstanden sind. Ihre Ursprünge liegen in Dorfgemeinden, Klöstern, Handwerkgilden, Privatfirmen, Einzelinitiativen oder der kollektiven Selbsthilfe der Betroffenen (Stowasser, 1995: 28). Zur Entstehungsgeschichte des Staates finden Sie nähere Informationen im Buch vom Ethnologen Prof. David Gräber – hier.

Ein anderes Argument für den Staat, ist dass wir Menschen uns „zerfleischen“, uns gegenseitig berauben und unsere Triebe nicht unter Kontrolle halten können, ohne eine Staatsgewalt. Zum einen reagiert das Gewaltmonopol namens Staat meist Postfaktum, also nach dem die Tat schon begannen ist – insofern verhindert der Staat nur ein minimalen Prozentsatz der Delikte wie Raub, Morde und Mordversuche. Zum anderen ist diese pessimistische Anthropologie eine „moralische Bankrotterklärung“. Oder glauben Sie es muss eine altruistische Elite geben, die sich um das „primitive“, „unkontrollierbare“, „unzüchtige“ und wilde Volk kümmern? Anders formuliert: Brauchen wir einen strengen Vater namens Staat, oder eine Leihmutter namens Regierung die uns bewacht, kontrolliert und erzieht? Oder hat das neoliberale Menschenbild (homo oeconomicus) sich in die Grundstrukturen unserer Kultur verfestigt, so dass wir allen ernstes glauben, der Mensch sei von Geburt an egoistisch? Wie das neoliberale Menschenbild zur „Domestizierung des Subjekts“ beigetragen hat, also wie das Kalkül unsere Leidenschaften eingenommen haben im Zeitalter der Globalisierung finden Sie im Buch der österreichischen Philosophin Prof. Gabriele Michalitsch. Doch diesen neoliberalen und sozialdarwinistischen Mythos kann man auch ohn Bücher zu lesen leicht zerschlagen. Zurück zur Funktion des Staates:

Der französische Ökonom und Soziologe beschrieb das Zusammenspiel zwischen BürgerInnen und Staat (bzw. Regierungen) wie folgt: „Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht noch das Wissen noch die Kraft dazu haben. Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizensiert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden. Es heißt unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich beim geringsten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, eingesperrt, beschossen und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit und ihre Moral.“ (Proudhon, 1963: 363). Heute kommen noch Überwachungsskandale wie PRISM ans Tageslicht.

Ein anderer Kritikpunkt: Das Gewaltmonopol des Staates, dient zum Schutz des Eigentums und der Privilegien einer Minderheit gegenüber der Mehrheit.

Kritik an der Demokratie: Der Unterschied zwischen Diktaturen und Demokratien besteht darin, dass in ersteren eine Minderheit (Elite) die Mehrheit und in letzteren eine Mehrheit (BürgerInnen) zahlreiche Minderheiten unterdrücken, überstimmen und fremdbestimmen. Beide fundieren ihre Machtausübung nicht durch einen allgemeinen Konsens (was auch immer das sein mag), sondern dank dem staatlichen Gewaltmonopol. Die Legitimierung einer jeden Regierung muss damit kritisch hinterfragt werden. Die Lösung: Ein Netzwerk aus kleinen Gruppen und Gesellschaften bilden die eine Föderation darstellen. Dies erfordert eine aktive Teilnahme und ein Verantwortungsbewusstsein aller. Darin scheiterte schlussendlich auch die Aufklärung, denn sie gebar trotz des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts Totalitarismus, Massenvernichtungslager und Weltkriege (Horkheimer, Adorno, 2016). Weitere Kritikpunkte am derzeitige Demokratie-Verständnis der westlichen Gesellschaft finden Sie in den Bücher der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe (Democratical Paradox) und des britischen Soziologen Colin Crouch (Post-Democracy).

Ein weiterer Aspekt: Das eine Demokratie in Gefahr sei, sobald die Macht der Banken zu groß wird, äußerte schon der Gründervater der US-amerikanischen Verfassung, Thomas Jefferson (1743 – 1826) vor fast 200 Jahren: thomas-jefferson

Kritik am Kommunismus: Zwar reden die Kommunisten vom „Absterben des Staates“ und Karl Marx sah darin sogar das Endziel, jedoch zeigt uns nicht nur die Geschichte, sondern auch der klare Menschenverstand, dass sich eine Diktatur (des Proletariats im Kommunismus) nicht in eine freie, solidarische Gesellschaft ohne Machtstrukturen verwandeln lässt.

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Anarchie, nicht Chaos! https://syndikalismus.wordpress.com

Ein prophetisches Zitat des vielleicht bedeutensten Anarchisten Michail Bakunin (1814 – 1876) richtet sich gegen den Kommunismus, der voraussah, dass diese Art der Herrschaft in eine brutale Diktatur führen wird und nie in die Freiheit erwachsen könne: „Sozialismus ohne Freiheit ist Sklaverei und Brutalität!„. Er sah scheinbar den Sozialismus von Rumänien, Bulgarien Russland und Lateinamerika, den Leninismus, Trotzkismus und Stalinismus voraus (Bakunin, 1980).

Es gibt zwar kein einheitliches anarchistisches Manifest, da es auch keine Dogmen gibt, aber dennoch kann man im Verlauf der Geschichte folgende Strömungen festhalten:

Individual-Anarchismus (Max Stirner)

Sozialer Anarchismus (Proudhon, Gustav Landauer)

Kollektiver Anarchismus (Bakunin)

Kommunistischer Anarchismsu (Kropotkin)

Anarcho-Syndikalismus (Rudolf Rocker)

„Heutiger Anarchismus“ – Noam Chomsky, David Gräber, Russell

Einige berühmte Professoren, Gelehrte, Autoren und Aktivisten die sich zum Anarchismus bekannt haben:

Prof. Harold Barclay (US-Anthropologe)

Janet Biehl (US-Autorin und Ökonomin)

Prof. Murray Bookchin (US-Historiker, Ökonom und Politikwissenschaftler)

Walther Borgius (deutscher Nationalökonom und Jurist)

Albert Camus (französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur)

Bernd Drücke (deutscher Soziologe)

Prof. Paul Feyerabend (österreichischer Philosoph)

Prof. David D. Friedman (US-Rechtswissenschaftler)

Emma Goldman (US-Feministin und Friedensaktivistin)

Daniel Guérin (französischer Autor)

Gildardo Magaña (mexikanischer Autor und Politiker)

Todd May (US-Philosoph)

Max Nettlau (deutscher Historiker und Sprachforscher)

Saul Newman (australischer Politikwissenschaftler)

Frank Tannenbaum (US-Soziologe, Historiker)

Lew Nikolajewitsch Tolstoi (russischer Schriftsteller)

Oscar Wilde (irischer Schriftsteller)

Emiliano Zapata (führender Protagonist in der mexikanischen Revolution)

Litaratur:

Horst Stowasser, Freiheit pur: Die Idee des Anarchismus, Geschichte und Zukunft, Eichborn, Frankfurt am Main, 1995.

Gerhard Göhler und Ansgar Klein: Anarchismus. In: Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1993.

Christian Sigrist, Regulierte Anarchie, Frankfurt am Main, 1979.

Carter, Die Politische Theorie des Anarchismus, Berlin, 1988.

David Gräber, Schulden: Die ersten 5000 Jahre, Klett-Cotta, 2012.

Pierre-Joseph Proudhon, Ausgewählte Werke, Thilo Ramm (Hg.), Stuttgart, 1963.

Max Horkheimer, Theodor Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Fischer Verlag, 2016.

Chantal Mouffe, The Democratic Paradox, Verso, 2009.

Colin Crouch, Post-Democracy, Polity, 2004.

Michail Bakunin, Freiheit und Sozialismus, Berlin, 1980.

Veröffentlicht am 14.1.2017 hier: https://josefmuehlbauer.com/die-idee-des-anarchismus/

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