Pınar Selek erhält die französische Staatsbürgerschaft: Ein exemplarischer Fall von politischer Verfolgung in der Türkei

Pınar Selek tritt als Feministin, Antimilitaristin, Verfechterin der Meinungsfreiheit und Minderheitenrechtlerin auf. Dies brachte ihr in ihrem Heimatland, der Türkei, politisch motivierte Verfolgung ein, und zwang sie 2009 ins Exil nach Deutschland zu gehen. Seit 2012 lebt sie in Frankreich, dessen Staatsbürgerschaft sie kürzlich erlangte.

Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons - cc-by-sa-3.0

Politisch motivierte Justizwillkür

Nunmehr bereits fast 20 Jahre dauert die politisch motivierte Verfolgung der türkischen Justiz gegen Pınar Selek an. Die Publizistin und Soziologin recherchierte 1998 über die damals zunehmend aufkommenden, zivilgesellschaftlichen Stimmen, die sich für eine friedliche Lösung der sogenannten „Kurdenfrage“ einsetzten.

Daher führte sie eine Reihe von Interviews mit Kurden in Deutschland, Frankreich und der Türkei, weshalb sie ins Visier der türkischen Ermittler geriet. Am 11. Juli 1998 wurde sie festgenommen und mit Elektroschocks gefoltert. Dennoch verriet sie die Namen ihrer Interviewpartner nicht. Ihr wird vorgeworfen, zwei Tage zuvor gemeinsam mit Komplizen aus dem Umfeld der PKK einen Bombenanschlag auf den Istanbuler Gewürzbasar verübt zu haben, bei dem sieben Menschen starben und mehr als hundert verletzt wurden.

Obwohl später ein Gutachten zu dem Schluss kam, dass der Grund für die Explosion kein Attentat sondern eine defekte Gasflasche war und Verhandlungen gegen Selek mehrfach mit Freispruch endeten, wurde Revisionsanträgen der türkischen Staatsanwaltschaft zu ihren Ungunsten stets stattgegeben.

Seitens nationalistischer Kräfte sind Seleks gesellschaftliches und literarisches Wirken in der Türkei seit Langem unerwünscht. Spätestens seit ihrem, 2010 erschienenen, Buch „Zum Mann gehätschelt. Zum Mann gedrillt.: Männliche Identitäten“ (Orlanda Verlag ISBN-10: 3936937737 / ISBN-13: 978-3936937732), zählen darüber hinaus konservativ-muslimische Kreise zu ihren Gegnern.

Im Januar 2013 wurde sie schließlich wegen Unterstützung terroristischer Aktivitäten verurteilt. Dieses offenkundig politisch motivierte Urteil, mit dem damals niemand gerechnet hatte, nahm sie zum Anlass politisches Asyl in Frankreich zu beantragen.

Trotz eines erneuten Freispruchs im Jahr 2014 kehrte sie vorerst nicht in die Türkei zurück. Diese Entscheidung sollte sich im Januar 2017 als richtig und weitsichtig erweisen.

Eine neue Heimat in Frankreich

Selek hatte die Türkei bereits 2009 verlassen, als sie nach Berlin ins Exil ging.

Die Nachricht von ihrer Verurteilung erreichte sie in Straßburg, wo sie damals seit einigen Monaten lebte.

Seit fünf Jahren hat sie in Frankreich eine zweite Heimat gefunden.

Dort hat sie den Status einer politisch Verfolgten inne.

Die Solidarität mit ihr ist dort groß. In Straßburg, Lyon und Nizza stehen organisierte Unterstützergemeinschaften aus dutzenden Universitätsdozenten, Studenten, Aktivisten und Bürgern an ihrer Seite, die seit Ende September offiziell als „Collectifs de solidarité avec Pinar Selek“ auftreten.

Im März dieses Jahres fanden mehrere Lesungen und Vorträge mit ihr in Frankreich, der Schweiz und Norditalien statt, wobei sie am 15. März im Giardino dei Giusti (dt.: Garten der Gerechten) von Mailand mit einem, nach ihr benannten, Baum geehrt wurde.

Am selben Tag kam Hamadi Ben Abdesslem, der 2015 beim Anschlag auf das Bardo-Museum in Tunis 45 italienischen Touristen das Leben rettete, Raif Bardawi, dem wegen Aufrufs zum Dialog der Kulturen zu 1000 Peitschenhieben verurteilten saudi-arabischen Blogger, Lassana Bathily, der während der Terroranschläge am 9. Januar 2015 in Paris mehreren Juden das Leben rettete, und dem, in Ausschwitz getöteten, Holocaustopfer Etty Hillesum die gleiche Ehre zuteil.

Typisches Beispiel politischer Verfolgung durch die AKP

Seit dem 22. September verfügt Pınar Selek neben der türkischen auch über die französische Staatsbürgerschaft.

Obwohl ihre Verhaftung und Folter noch nicht in die Regierungszeit der AKP fallen, jüngste Ereignisse tuen es.

Am 25. Januar diesen Jahres beantragte der Staatsanwalt des Obersten Gerichts der Türkei die Aufhebung des Freispruchs von 2014 sowie eine lebenslange Freiheitsstrafe gegen Selek. Die Richter müssen in den kommenden Wochen oder Monaten darüber entscheiden. Tatsächlich steckt hinter dem Antrag von staatlicher Seite aus der Versuch, an Selek, in ihrer Rolle als politische Aktivistin, ein Exempel zu statuieren.

Daher steht ihr Fall geradezu symbolisch und exemplarisch für eine Welle politischer Verfolgung, mit der das Regime Erdoğans die Türkei, seit dem niedergeschlagenen Putschversuch im Juli 2016 in besonders verschärfter Weise, überzieht.

Eine große, nicht bekannte Zahl von Menschen sitzt in Haft, ohne zu wissen warum. Gleichzeitig verloren hundert tausende Beamte, Journalisten, Anwälte, Lehrer, Gewerkschafter und Schriftsteller ihre Jobs oder sehen sich Repressionen entgegen.

Diese dramatische Entwicklung hat auch Auswirkungen auf ganz Europa und auf Deutschland. Im September 2017 kamen laut Reuters unter Berufung auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) nur aus Syrien und dem Irak mehr Asylsuchende in die Bundesrepublik als aus der Türkei, die vergangenen Monat in dieser Statistik Länder wie Afghanistan, den Iran oder Eritrea hinter sich ließ. Dieser Trend zeichnet sich bereits seit Beginn des Jahres ab.

Es ist also nur nachvollziehbar, dass Selek am 2.Oktober gegenüber der Zeitung Nice Matin in Bezug auf das Vorgehen der türkischen AKP-Regierung von einer „regelrechten Säuberung“ sprach.

Die Erlangung der französischen Staatsbürgerschaft betreffend, meinte sie stolz: „Frankreich hat eine engagierte Bürgerin hinzu gewonnen.“

Obschon sie zugab sich oft ausgebrannt und müde zu fühlen, sowie dass die Erfahrung der Folter und der Verlust ihrer Mutter schwer auf ihr lasten, fügte sie gegenüber der Zeitung aus Nizza hinzu: „Mein Kampf ist international. Dass ich zu meinen Werten stehe, und mich immer geweigert habe, die Namen der [interviewten] Kurden preiszugeben, hat Menschen auf der ganzen Welt berührt. Ich denke, dass die französische Regierung bei diesem Kampf Stellung beziehen muss. Man hat mir gesagt, dass François Hollande bei seinen Türkeibesuchen meinen Fall erwähnt hat, allerdings nur inoffiziell. Es gibt bereits Unterstützung, aber ich würde mir wünschen, dass sie sichtbarer und offizieller wird.“

Ebenso wie ihr Schicksal, hat auch dieser Wunsch symbolischen und exemplarischen Charakter.

Nicht zwielichtige Regime sondern Menschen wie Pınar Selek brauchen und verdienen Unterstützung durch demokratische Staaten und ihre Regierungen.

Nachweise

- Karen Krüger: Türkisches Urteil über Pinar Selek : Gefoltert, verhört, schuldig gesprochen, FAZ, 25. Januar 2013

- Pascal Maillard: La Coordination des collectifs de solidarité avec Pinar Selek est née!, Mediapart, 16. September 2017

- İsviçre'de ve Fransa'da Pınar Selek ayı, AGOS, 3. März 2017

- Veranstaltungshinweise der Initiative Gariwo für den März 2017

- Grégory Leclerc: Pinar Selek, réfugiée politique turque obtient la nationalité française :"la France a gagné une citoyenne engagée", Nice Matin, 2.Oktober 2017

- Im September weniger neue Asylsuchende in Deutschland, Reuters, 11.Oktober 2017

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