Wir sitzen zusammen in diesem weißen Raum – meine Ärztin und ich. Ich versuche ihr Gesicht zu entschlüsseln, etwas Markantes darin zu finden, an dem ich mich festhalten könnte, aber es gelingt mir nicht, mein Blick gleitet, wie auf einer glatten Oberfläche, an ihr ab. Ein Lächeln, an dem ich mich festhalten könnte, eins, welches mir die Tür zu ihr öffnen könnte – es fehlt. Sie, die mir was mitteilen möchte, etwas, was mich betreffen sollte, hat sich sonderbarerweise absorbiert, ist gar nicht vorhanden.“Nein, nein – so ist es nicht”, sage ich ihr, dieser Person, die vor mir, wie hinter einer Festungsmauer, an ihrem Schreibtisch sitzt. Mein Hemd ist noch aufgekrempelt und ich befühle die Stelle an meinem Ellenbogen, diese Wunde, um die sich alles dreht, dieses Übel, wie alle meinen, weswegen ich hier sitze.

Aus welchen Gründen ich mit dieser Lappalie den Weg zur Arztpraxis gefunden habe, ist mir unerklärlich. Soviel ich weiß, drang man mich, es untersuchen zu lassen, doch nun erweist sich der Gang dahin so, als sei ich geradewegs in die Höhle eines hungrigen Tieres geraten. Vielleicht sollte ich den Ärmel wieder herunter krempeln, die Wunde verstecken, unsichtbar werden lassen und damit den Grund der Diagnose überflüssig machen.

“Sie haben diese Krankheit und Sie werden daran zu Grunde gehen, wenn wir es nicht behandeln.”Ihre Stimme mit der sie die Bestimmtheit ausspricht ist widerwärtig, vielleicht schaut sie mich dabei an, aber wie soll ich es erkennen können, wo ich nicht einmal ihr Gesicht sehe. Wie aus einer weißen Nebelwand streckt sie den Arm mir entgegen. Ich sehe ihre Hand, am Mittelfinger trägt sie einen zierlich schmalen goldenen Ring mit einem Herzchen drauf, hält mir eine Röntgenaufnahme entgegen – sie sagt, es sei der Befund, der alles beweisen würde, der Befund der mein Urteil sei.

“Lassen Sie es mich erklären”, versuche ich mich zu verteidigen, Einspruch einzulegen. Meine Stimme klingt ungewollt vibrierend, wahrscheinlich vor Aufregung über die scheinbare Ausweglosigkeit der Diagnose. Ich habe meinen Arm mitsamt der Wunde auf ihren Schreibtisch gelegt, will mich abstützen, um weiter fortfahren zu können.

“Hören Sie, es ist eine Erklärung, für die es keine Worte gibt und deswegen auch schwer ist, es darzulegen. Seit Jahren versuche ich zu erfassen, was es mit dieser Wunde auf sich hat, doch all die vielen Worte, selbst dann, wenn ich glaubte, sie hätten den Sinn getroffen, stürzen immer wieder ins Leere. Die Wunde war schon immer da und ich glaube, sie bildete sich seit meiner Geburt oder sogar schon davor. Bislang war sie immer verschlossen und schmerzte nur innerlich. Sie war vom Schmerz her vergleichbar mit einer Traurigkeit, wie man sie zur Welt empfindet. Verstehen Sie? Sie sollen es verstehen, auch wenn es nichts zu verstehen gibt, nichts, was auszusprechen wäre, nichts, was einer Krankheit oder Gesundheit zuzuordnen wäre, nichts wofür es einen Begriff gäbe.”

Aus der Nebelwand mir gegenüber huscht mit einem Male ein Lächeln heraus, springt mir bei meinen Worten entgegen. Es ist kein freundliches Lächeln, es ist ein gemeines, ein verständnisloses, sich auf eine Ordnung berufendes, überhebliches Grinsen, eines, das mir entgegen stürzt, mich entwaffnen will und nachdem mir dieses Grienen entgegen geschleudert wurde, folgten Worte ihrer hellen und festen Stimme:“Dann dürfte es Sie freuen, dass die Suche ein Ende gefunden hat, denn jetzt haben wir die Diagnose ihres Leidens und können es beheben.”“Das Ende?!”, rufe ich ihr laut entgegen, beuge mich noch weiter hin zu ihr, lasse den Arm aber weiter auf ihrem Tisch ruhen. All die ursprüngliche Helligkeit des Raumes wirkt plötzlich so dunkel, so als hätten selbst die spärlichen Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien drangen, sich gegen mich gerichtet.

“Wie kann es ein Ende geben, wenn ich Ihnen doch sagte, dass es nicht einmal einen Anfang gab”, rufe ich in ihre Richtung hinein, während das Bild, die Röntgenaufnahme, die das Innerste meiner Wunde zeigen sollte, vom Tisch auf den Boden fällt.“Das, was ich da habe”, sage ich und deute damit auf meinen Arm, “ist nichts Gesellschaftliches, ist kein Symptom was Sie medizinisch benennen könnten. Es ist was Geheimes, vielleicht sogar was Ewiges, ein Strom, eine Energie, die nur mir zu eigen ist. Ja, es ist in irgendeiner Form die eigentliche Wahrheit, eine, die mich bewegt und das aus mir macht, was ich bin. Das, Verehrteste, was sie Krankheit nennen, das bin ich. Verstehen Sie, das, was Sie beabsichtigen aus mir heraus zu nehmen gedenken, ist meine Persönlichkeit – eine die in den Tiefen in mir ruht und mich von all den anderen Menschen unterscheidet. So verstehen Sie doch bitte, was ich meine! Gerne sage ich ‘Guten Tag’, ‘Guten Abend’, halte mich an Gesetze, bin freundlich und mache meine Arbeit. Aber all dies bin ich nicht, das ist nur eine Maske, die ich gebrauche, um mit den Menschen auszukommen. Mein Herz schlägt nur so ähnlich, wie das Herz der anderen, auch mein Kreislauf ist ein anderer – ich bin ein Anderer, ich bin die Wunde …”

“Ach sehen Sie es doch ein”, entgegnet sie, “Sie wollen der Tatsache nicht ins Auge sehen. Sie reden von Wahrheit und flüchten davor, weil sie Ihnen nicht gefällt. Sehen Sie einfach ein, Sie sind krank, Sie müssen versorgt werden. Was soll das Geschwätz – Sie sind genauso wie alle Anderen. Ihr Herz schlägt gleich, ihre Muskeln bewegen sich wie all die Muskeln all der anderen Menschen. Und Ihre Gedanken …”“Stopp, stopp!”, will ich schreien, doch meine Stimme schafft es nicht lauter zu werden, prallt ab an der Nebelwand hinter der sie sich verbirgt. Erregt erhebe ich mich, ziehe die Wunde von dem Schreitisch weg. Der Stuhl auf dem ich saß, kippt zur Seite. Dunkler noch ist der Raum geworden, durch den ich torkele, und mühsam versuche ich mich mit all meiner Kraft hin zum Ausgang zu bewegen. Ein Ständer, an dem eine leere Infusionsflasche hängt, kippt um, fällt krachend zum Boden.

“Flüchten, ja genau Flüchten werde ich”, stottere ich in den undurchschaubaren Raum hinein.

„Sie werden daran sterben …“, ruft sie mir aggressiv zu.“Weglaufen werde ich vor Ihrer Diagnose. Ich werde mich nicht auf den Seziertisch der Allgemeinheit begeben – ich renne davon, so wie man rennt, wenn Feuer ausbricht. Und wenn es eine Lüge sein sollte, an der ich umkomme, so bleibt es immer noch meine Wahrheit … hören Sie mich: meine Wahrheit, die nur mir gehört, meine eigene, so wie jedes Wesen eine eigene hat … Ich bin stolz auf meine Wunde … Hören Sie mich, hören Sie…”

Schallendes Gelächter dröhnt durch den Raum, vervielfacht sich, wird zum Hall. Ein grausames Gelächter ist es, eins mit ihrer Stimme. Mein Herz rast, ich suche die Tür zum Ausgang, versuche zu laufen, komme nicht voran, komme nicht raus aus dem klinisch – dunklen Raum. Meine Wunde juckt, das Gelächter wird lauter, ich versuche mich zu kratzen, schreie, als müsste ich mich befreien, schreie gegen das hässliche Gelächter an …“ICH BIN EIN ANDERER!”

Ruckartig wache ich auf, höre meine Stimme, Sonnenstrahlen dringen durch den Raum, Helligkeit kündigt den Morgen an und sanft bewegen sich die Blätter des Baumes vor meinem Fenster. Mein schwarzer Kater liegt neben mir, reibt seine raue Zunge an meinem Ellbogen, will dass ich wach werde und mit ihm spiele. Die Wunde! Ich schrecke hoch, nichts ist an meinem Arm zu sehen, der Kater schnurrt, schaut mich mit leuchtend grünen Augen an und schlaftrunken streichle ich ihm übers Haupt. Alles nur ein Traum? Auf meine Brust legt er sich nieder, stupst mit seiner Pfote mir ins Gesicht, ich kraule seine Ohren, Speichel tropft aus seinem Mund“Wir werden uns unsere Wunden nicht nehmen lassen”, flüstere ich dem Kater ins Ohr. Er schmiegt sein Kopf an mein Gesicht, tief berührt von seiner Zärtlichkeit nehme ich sein Kopf in meine Hände und drücke ihm schmatzend einen Kuss zwischen seine Augen. Er hat Hunger!

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Darpan

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Petra vom Frankenwald

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fischundfleisch

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