Warum „Fluchtursachen bekämpfen“ nur ein frommer Wunsch bleiben wird

Eine politisch zerklüftete EU kann den geopolitischen Machtspielen im Nahen Osten nichts entgegensetzen

Meine Mutter pflegte mich in meiner Kindheit bei Unstimmigkeiten zu banalen Scheinproblemen oft mit dem Beisatz „Dir geht’s zu gut.“ zu rügen. Lange habe ich mich nicht mehr daran erinnert, doch die aktuellen Debatten um die Migrationskrise und deren zwischenmenschliche Nebenwirkungen lassen auch mich nicht unberührt und so kommt mir aufgrund immer wunderlicher werdender Lösungs-, Erklärungs- und Relativierungsversuche der Eliten und der mit der Waffe des Social Media ausgestatteten Nicht-Eliten zwangsläufig die alte Frage hoch: Geht's uns zu gut? Und ich möchte die Erörterung dieser Frage in eine klare Richtung lenken: Sind wir zu friedensverwöhnt und wohlstandsgesättigt um abseits von Klimawandel und Umweltverschmutzung global bedeutende Fragestellungen noch wahrnehmen zu wollen? Müssen wir uns zwischen Bio-Fair-Trade-Morgenkaffee und CO2-Zertifikat-freigekauftem Pulled-Pork-Sandwich vom Foodtruck meiner Lieblingshipster noch mit so Sachen wie Welt- und Geopolitik beschäftigen? Liegen Konflikte in Europa zu weit zurück um militärische Machtkämpfe der Weltmächte genauer verstehen und erklären zu können als mit den zwei Buchstaben „Öl“?

Nun, in einem Land in dem die politische Elite dem Volk ihre geistige Leistungsfähigkeit mit Debatten wie „Zaun oder Tür mit Seitenteilen“ oder „Richtwert oder Obergrenze“ demonstriert, ist was Denken in größeren Kategorien anbelangt wahrscheinlich gesunde Skepsis angebracht. Denn ist es offenbar bequemer Deutungsversuche als Verschwörungstheorie in die Chemtrail-Schublade zu stecken und sich auf äußerst naive Lösungsansätze zu einigen.

Verschiedene Interessen im Nahen Osten

„Fluchtursachen bekämpfen“ also. Was erst mal nobel und weitsichtig klingt, bedarf wie jede politische Parole näherer Beleuchtung. Was ist denn nun die Kriegsursache in Syrien? Die Herrschaft Assads? Der Einfluss des IS? Es mag hart klingen, aber zoomt man den Konflikt zurück in eine gröbere Auflösung, spielt es aus geopolitischer Sichtweise schlichtweg keine Rolle ob die Syrer von einem Autokraten oder einem islamischen Staat regiert werden. Denn auch in diesem Krieg geht es vorrangig um Einfluss und Vormachtstellung im politischen Machtgefüge der Region. Egal wer denn diesen Einfluss erlaubt. Einfluss den die USA in dieser für sie strategisch wichtigen Region wiederholt durch militärisches Eingreifen absicherten. Als bekannte Beispiele seien hier die beiden vom Zaun gebrochenen Irakkriege, der Überfall Afghanistans und die völkerrechtswidrigen Eingriffe im nordöstlichen Pakistan genannt. Da im Gegensatz zu Zeiten der erwähnten Kriege die amerikanischen Kriegskassen überstrapaziert sind und „boots on the ground“ mit Afghanistan einen veritablen nationalen Imageschaden erlitten hat, und de USA eher zurückhaltender agieren (müssen), mischt nun auch der zweite global Player Russland mit, der eine Marinebasis im syrischen Tartus unterhält und selbstverständlich auch seine Interessen in der Region absichern will. Auch China hat im Hinblick auf den vorderasiatischen Raum wirtschaftliche Interessen, bezieht es doch zu 60% seines Ölbedarfs aus dieser Region. Nun da der Iran wieder salonfähig gemacht wurde, entsteht weiteres regionales Konfliktpotential mit der Regionalmacht Saudi-Arabien, das durch wirtschaftlichen Druck aufgrund des niedrigen Ölpreises, Geplänkel um die Thronfolge und dem Gefühl durch den Irandeal von den USA nicht mehr genug verhätschelt zu werden innerpolitischen Problemen unterworfen ist und außenpolitisch die Muskeln zeigen könnte. Ganz zu Schweigen vom Jemen, wo die Huthi-Rebellen derzeit durch saudische Hilfe bekämpft werden.

Hier könnte man sich ob der Komplexität der Sachverhalte verlieren, verlaufen und stundenlang ohne Ergebnis streiten, aber über diese Thematik werden ja ganze Bücher geschrieben. Wichtig ist bloß festzuhalten, dass Syrien also nur ein weiterer der unzähligen vergangenen Kriegsgebiete und Krisenherde im nahen Osten ist und auch nicht der letzte bleiben wird.

Die geostrategische Wichtigkeit der Region

Warum aber ist diese Region so umkämpft?

Ein Blick in die Lehrbücher der Geostrategie lässt uns auf den britischen Geographen Sir Halford John Mackinder stoßen, der kurz vor dem ersten Weltkrieg seine folgenreiche „Heartland-Theorie“ entwickelte, wonach nicht mehr die angelsächsischen Seemächte, die einen „äußeren insularen Bereich“ beherrschten, sondern der Herrscher der sogenannten „Weltinsel“ dem Rest der Welt seinen Willen aufzwingen würde können. Als „Weltinsel“ wird ein Großkontinent aus Europa, Asien und Afrika bezeichnet, dessen „Herzland (pivot aerea)“ Nord- und Mittelasien darstellte, wo ein Großteil der Weltbevölkerung und enorme Mengen an Rohstoffen verortet sind.

„Who rules Eastern Europe commands the Heartland

Who rules the Heartland commands the World Island

Who rules the World Island commands the World“

– Mackinder, Democratic Ideals and Reality, S. 106

Vor diesem Hintergrund ist auch Roosevelts und Churchills unerbitterliche Zerstörung Japans und Deutschlands als Achsenmächte zu verstehen, deren Herrschaft über das „Heartland“ drohte.

Der Problematik des Nahen Ostens kommen wir aber näher, wenn wir die Weiterentwicklung Mackinders Heartland-Theorie durch den amerikanischen Geostrategen Nicholas Spykman noch vor Ende des 2. Weltkrieges betrachten. Spykmans Theorie des „Rimlands (Randland)“ besagt, dass nicht das „Heartland“ über die Herrschaft der Weltinsel entscheide, sondern das „Rimland“, als welches er den Rand des Heartlands beschrieb. Das „Rimland“ umfasst also Staaten von Skandinavien über Mitteleuropa bis über den Nahen Osten und Indien hin Richtung Indochina und Nordchina.

"Who controls the Rimland rules Eurasia, who rules Eurasia controls the destinies of the world."

-Nicholas Spykman

Kenner der Geschichte wird nun auffallen, dass in diesem „Rimland“ die konfliktträchtigsten Linien des kalten Krieges lagen. Aber auch die meisten amerikanischen Militärinterventionen, angefangen von den Korea- und Vietnamkriegen, bis hin zu den vergangenen Kriegen im Nahen Osten, fanden im sogenannten „Rimland“ statt.

Wer an dieser Stelle am generellen geopolitischen Machtanspruch der Weltmächte noch zweifelt, dem möchte ich dieses Video einer Veranstaltung des „The Chicago Council“ von einer Rede George Friedmans ans Herz legen, seines Zeichens Stratfor-Gründer und einer der einflussreichsten Berater der US-Regierung.

Es gibt keine absehbare Lösung

Vor dem Hintergrund dieser geostrategischen Analysen und in Kenntnis der Geschichte des Nahen Ostens erscheint der angebliche Lösungsansatz hochaktuell brennender Probleme, nämlich „Fluchtursachen bekämpfen“, beinahe als lächerlich. Denn für jene Staaten die am meisten von den Migrantenströmen betroffen sind ist dieser gordische Knoten mehr als eine Kragenweite zu groß. Die tagesaktuelle Debatte ist also lediglich um weitere Worthülsen reicher. Die politisch tief zerklüftete EU ist derzeit nicht in der Lage einheitlich zu agieren, und wird es auch mittelfristig nicht sein, denn die nationalstaatlichen Befindlichkeiten sind zu unterschiedlich. Selbst die deutsche Regierung konnte beispielsweise noch im Jänner diesen Jahres keine Angaben zu einer „gemäßigten Oposition“ in Syrien machen.

Eine Lösung ist schlichtweg nicht in Aussicht.

Und selbst wenn Syrien kurzfristig befriedet werden könnte, was passiert mit den Bewohnern des nächsten Krisenherdes der Region? Oder mit Menschen aus Lybien, wo sich der IS immer mehr ausbreitet? Was passiert mit künftigen Klimaflüchtlingen Afrikas? Oder sind Syrer wichtigere Flüchtlinge als andere? Je mehr man „Fluchtursachen bekämpfen“ hinterfragt, umso mehr kommt dieser fromme Wunsch der naiven Forderung nach Weltfrieden gleich.

Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Europa bleibt einem vernünftigen Staat der Größe Österreichs nur sich seiner Neutralität zu besinnen und schnell realistische, nationalstaatliche Maßnahmen zur Reduktion der Migranten zu treffen, um die innere Balance zu erhalten aber auch Druck auf andere Staaten ausüben zu können. Erst dann ist zu überlegen, ob die EU noch Lösungen schaffen kann und ob aber vor allem wie Einfluss auf uraltes geopolitisches Kräftemessen zu nehmen ist.

(Es sei an dieser Stelle erwähnt dass dieser Text nur „Fluchtursachen“ behandelt, die Grund für Asyl oder subsidiären Schutz nach GFK sind oder Vertriebenenduldung rechtfertigen.)

Euer Kraut

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