Wenn nicht mehr gefragt werden darf

Gießen, Uniklinik. Ein Mensch ist tot.

Und plötzlich gilt Nachfragen als Angriff.

In der Universitätsklinik Gießen stirbt ein Mensch durch Polizeischüsse.

Ein Patient, 33 Jahre alt. In einem Krankenhaus. In einer Situation, die laut ersten Berichten von einer psychischen Ausnahmelage geprägt war.

Die Fakten, so weit bislang bekannt:

Der Mann soll Mitarbeitende mit einer Schere bedroht haben. Die Polizei wurde gerufen. Beim Eintreffen kam es zur Eskalation. Am Ende wurde der Patient erschossen.

Was auffällt, ist nicht nur der tödliche Ausgang – sondern die Geschwindigkeit, mit der jede Nachfrage moralisch unterbunden wird.

Wer fragt, ob der Einsatz von Schusswaffen verhältnismäßig war, gilt plötzlich als „Polizeifeind“.

Wer darauf hinweist, dass ein Krankenhaus kein bewaffnetes Gefechtsfeld ist, wird als Sofa-Theoretiker diffamiert.

Wer Verhältnismäßigkeit einfordert, wird belehrt, man solle doch erst einmal „in der Situation gewesen sein“.

Das ist problematisch. Und zwar nicht für die Polizei – sondern für den Rechtsstaat.

Denn Verhältnismäßigkeit ist kein Meinungsthema, sondern ein zentrales Prinzip staatlichen Handelns.

Sie gilt nicht nur im Rückblick, sondern genau in den Situationen, in denen Macht ausgeübt wird. Besonders dann.

Ein Mensch mit einer Schere stellt eine Gefahr dar – ja.

Aber eine Gefahr rechtfertigt nicht automatisch den tödlichsten aller Einsätze.

Zwischen Nichtstun und tödlicher Gewalt existieren Eskalationsstufen: Distanz, Rückzug, Deeskalation, Spezialkräfte, Zeitgewinn, nicht-tödliche Mittel. Ob diese Optionen bestanden, ist keine Unterstellung, sondern eine legitime Frage.

Dass diese Frage derzeit reflexhaft abgewehrt wird, offenbart ein größeres Problem:

Wir verwechseln Solidarität mit Einsatzkräften zunehmend mit Kritikverbot.

Dabei schadet genau das am Ende auch der Polizei.

Ein Rechtsstaat schützt seine Institutionen nicht, indem er sie von Kontrolle freistellt, sondern indem er sie überprüfbar hält. Transparenz ist kein Misstrauensvotum, sondern Voraussetzung von Vertrauen.

Und noch etwas wird auffällig:

Die Perspektive des Getöteten verschwindet fast vollständig.

Es wird gefragt, wie es den Polizisten jetzt geht – kaum jemand fragt, wie es dazu kommen konnte, dass ein psychisch offenbar hochbelasteter Mensch in einer Klinik so eskaliert, dass am Ende Schüsse fallen. Das verweist auch auf Defizite im Umgang mit psychischen Krisen, in der Klinik wie im Zusammenspiel mit Sicherheitsbehörden.

Ein Mensch ist tot.

Das ist kein Betriebsunfall, kein Randdetail, kein „tragischer, aber notwendiger Ausgang“.

Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur erlaubt – sie ist zwingend.

Wer sie verbietet, verabschiedet sich leise von einem zentralen Grundsatz des Rechtsstaats:

Dass staatliche Gewalt erklärungs- und begründungspflichtig bleibt.

Myriams-Photos/pixabay https://pixabay.com/photos/hands-open-candle-candlelight-1926414/

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