Die drei Likörgläser sind in jeder Hinsicht zweite Wahl. Jedes ist ein klein wenig anders als die anderen. Sie haben eine unterschiedliche Glasdicke und sind unregelmäßig geschwungen. Zwei davon sind angeschlagen.

Für mich sind sie kostbar.

Die kleinen Likörgläser, die ich 1986 gebraucht in Wien gekauft habe, sind ein weiterer geschichtsträchtiger Teil meiner #ViennaMemories-Sammlung. Benutzt habe ich sie selten: nicht jeder mag angeschlagene Gläser, und für mehr als symbolische Mengen von Flüssigkeit sind sie zu klein. Aber ihr eigenwilliger Stil und ihre Zartheit machen sie zu etwas Besonderem.

Gerade weil sie so klein sind, haben sie meine Umzüge im Lauf der Jahre auch besser überlebt als größere Teile.

Die drei Gläser sind zwar sehr empfindlich, könnten theoretisch aber auch Jahrhunderte überdauern. Es erstaunt mich immer wieder zu sehen, wie sehr maschinelles Spülen dem Geschirr schadet – als würde man die Häufigkeit, mit der man ein Teil benutzt, vertausendfachen. Ich besitze die Gläser seit 30 Jahren. Ich stelle mir gern vor, dass ich sie, wenn ich sie nach jedem Gebrauch vorsichtig mit der Hand reinige, für die Ewigkeit erhalten kann.

Oder dass sie mich wenigstens überleben werden.

Dass die Gläser aus einem einzigen Material bestehen und vor mir schon andere Besitzer hatten, erinnert mich an eine Geistergeschichte der BBC von 1972, “The Stone Tape“. Sie hat auf mich als Teenager einen so großen Eindruck gemacht, dass ich einige Szenen noch im Gedächtnis habe. In dieser Geschichte fungieren die Steine eines alten Gebäudes als Medium, in dem frühere spukhafte Ereignisse aufgezeichnet wurden. Sehenswert.

Das Konzept, dass ein Gegenstand oder Material Ereignisse absorbieren und später wiedergeben kann, erinnert mich wiederum an die Science-Fiction-Kurzgeschichte “Light of Other Days” des nordirischen Schriftstellers Bob Shaw von 1966, die in Schottland spielt. Darin führt er die Idee eines „langsamen Glases“ ein, bei dem Licht Jahre braucht, um es zu durchdringen. Im Wikipedia-Eintrag zu der Geschichte heißt es, sie „bringe die Menschen zum Weinen“. Sie beginnt mit den Worten “Das Dorf hinter uns lassend, folgten wir den schwindelerregenden Kurven der Straße hinauf in ein Land langsamen Glases.“ Ich kann Ihnen die Geschichte sehr empfehlen.

Was mögen meine drei langsamen Gläser zu erzählen haben? Standen sie einst im Regal einer bürgerlichen Familie, vielleicht als Teil eines größeren Sets? Oder hat ein Flüchtling sie in Krisenzeiten gerettet – oder verkauft? Wo befanden sie sich zum Zeitpunkt des Anschlusses oder 1955, als der Österreichische Staatsvertrag unterzeichnet wurde? Wir werden niemals wissen, wie viel von Europas turbulenter Geschichte im 20. Jahrhundert sie erlebten, bevor sie mit mir auf die Reise gingen: sie bewahren ihr Geheimnis. Für mich sind sie mit der Erinnerung an meine erste Wiener Dienstzeit von 1984-87 verbunden.

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