"Virtual Cooperation" - "Sie hatten sich nie getroffen"

Im Roman "Scarlett Pimpernel" - "Die scharlachrote Blume" - aus meiner Jugend schafft es der Titelheld - ein englischer Adeliger - durch Jahre hindurch mit seiner Geheimorganisation dank Verkleidungen, Täuschungen und unter Ausnutzung aller technischen Hilfsmittel des 18. Jahrhunderts unzählige adelige Standesgenossen aus den Fängen der Jakobiner und vor den Schafotten der Französischen Revolution ausser Landes und in Sicherheit zu bringen.

Verglichen mit dem 18. Jahrhundert sind unsere technischen Möglichkeiten für solche Fälle und Organisationen um ein Vielfaches größer und erweitert um die virtuelle Ebene, um auch global zusammenzuarbeiten.

Das Potential, Umfang und Sprengkraft dieser weltweiten "Virtual Cooperation" haben etwa Julian Assange mit WikiLeaks und die gänzlich aufs Internet focussierte ohne Sprecher auskommende Bewegung und Kollektiv "Anonymous" eindrucksvoll und zur Genüge demonstriert. Auch im Geschäftsbereich haben Videokonferenzen und Whiteboard-Lösungen längst Einzug gehalten. Mein Focus soll daher auf regionale Not-for-profit Aspekte liegen mit dem Ziel, die Vorzüge aber auch Gefahren der Arbeitsweise und Organisationsform "Virtual Cooperation" aufzuzeigen.

Die gängigsten auch frei und kostenlos zugänglichen "Virtual Cooperation" Tools sind dabei für mich - so blöd es klingen mag - auch gleichzeitig die bekanntesten Social Media-Plattformen: Facebook, Google+, Xing und Whatsapp.

Facebook bietet über Gruppen gute Tools und Werkzeuge zur Organisation und Collaboration von Menschen an. Eine Gruppe - sei sie nun offen, geschlossen oder geheim - ist schnell und kostenlos gegründet und der relevante Personenkreis, seien es Vereinsmitglieder, AktivistInnen oder ProjektteilnehmerInnen, schnell hinzugefügt. Durch Postings von Fotos, Videos und Links mit Diskussionen in den Kommentaren darunter ist der Arbeits- und Entscheidungsprozess schnell in Gang gebracht. Auch wenn Dokumente und Files gemeinsam genutzt und bearbeitet werden sollen funktioniert Facebook fast wie Dropbox - einfach Dateien hochladen. Auch der bei heiklen Operationen a la "Scarlet pimpernel" angezeigte hohe Grad an Anonymität und Sicherheit kann durch Verwendung von Fake-Profilen mit anonymisierten Email-Adressen und Einloggen auf Facebook über anonymisierte IP-Adressen wie etwa via "Thor" ganz gut sichergestellt werden. Benimmt sich ein Gruppenmitblied einmal daneben oder stellt sich gar als Troll, Spion oder Maulwurf heraus kann es von den AdministratorInnen auch leicht aus der Gruppe geworfen werden. Nachteil von Facebook, Google+ und Xing: Mensch braucht einen Account und muss mit Neugier des Zuckerberg- bzw Google-Imperiums leben. Aber auch bei Google Drive und Dropbox bestehen riesige Bedenken und Unsicherheiten was Datenschutz und Sicherheit angeht. Facebook bietet über Seiten zusätzlich die Möglichkeit, die Ergebnisse der Collaboration gleich in wenigen Minuten allen aktuell 1 Mrd. Facebook-NutzerInnen zur Kenntnis zu bringen.

Noch deutlich schneller und unkomplizierter kann "Virtual Collaboration" via Whatsapp stattfinden. Weil dazu nur ein Smartphone samt Telefonnummer und Datenpaket nötig ist, aber anders als bei Facebook oder Xing keine Anmeldung und Mitgliedschaft, wird dieser Dienst von extrem vielen Jungen aber auch zunehmend Älteren und Menschen mit Abneigung gegen Datensammler wie Google, Facebook, Xing oder Dropbox genutzt. Auch hier ist bei bekannten Telefonnummern der AktivistInnen, ProjektteilnehmerInnen, MitschülerInnen oder Vereinsmitglieder schnell eine Whats-App-Gruppe eingerichtet. Postings und Threads darunter gibt es nicht, aber wie in PN-Unterhaltungen auf Facebook kann a la IM-System (Instant Messaging, Am.) diskutiert, Fotos u. Dateien ausgetauscht und gemeinsam gearbeitet und organisiert werden.

Die Probleme, die durch "Virtual Collaboration" - vor allem durch den virtuellen Charakter bedingt - auftreten, sind ebenfalls nicht gering. Menschen die sich "Nie persönlich getroffen haben" setzen Aktionen und treffen Entscheidungen, die mitunter ihr Leben und das Dritter nachhaltig beeinflussen, Etwa im Fall Wikileaks gut dokumentiert. Ohne vorangegangenen persönlichen Kontakt aber ist der Aufbau von Vertrauen einerseits erheblich erschwert und die Zerstörung des mühsam aufgebauten Vertrauens andererseits erheblich leichter möglich. Beschleunigt wird dieser Effekt noch, wenn auch UserInnen aufgenommen werden, deren Profile auf Facebook jeglicher Bezug zur Realität fehlt weil weder reale Namen, Infos, noch Fotos und Orte verwendet wurden. Erst durch mühsame Verifizierung über gemeinsame FreundInnen, vertrauensbildende Massnahmen und Aktionen kann dieses virtuelle "Daten-Irgendwas" sich als verlässliches Gruppenmitglied etablieren. Hinzu kommt dass auch virtuelle Gruppen dazu neigen, eigene Regeln, Dynamik und Corpsgeist zu entwickeln. Fehlender Face-to-Face Kontakt, zeitversetzte Kommunikation und das Tempo der Entwicklungen mit Stress, Aggression erleichtern massiv Missverständnisse, persönliche Verletzungen und Narzismen.

Damit "Virtual Collaboration" aber nicht in Grabenkämpfen, Cliquenbildung, Shitstorms bis hin zum Gruppenrauswurf oder Massenexodus aus Gruppen, gegenseitigem Entfreunden auf Facebook und sogar Zerbrechen realer Freundschaften aus Kettenreaktionen virtueller Kriege führt, sind meiner Erfahrung nach reale Treffen über kurz oder lang der einzige Weg. Diese Treffen in möglichst lockerer Atmosphäre können die Einschätzungen des Gegenüber aus der Virtuellen Welt mitunter grundsätzlich über den Haufen werfen, im Positiven wie im Negativen.

Erst durch die Kombination mit "realer Zusammenarbeit" in Ergänzung zu "Virtual Cooperation" kann das nötige Vertrauen, gegenseitige Verstehen und der Gruppenzusammenhalt nachhaltig aufgebaut, erhalten und bewahrt werden. Auch im Virtuellen gilt für mich der Sinnspruch "Wie fruchtbar ist der kleinste Kreis, wenn man ihn recht zu pflegen weiss" von J.W. Goethe, angebracht am altehrwürdigen Gebäude des früheren Konsum in Schruns, Vorarlberg.

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