Eine Frage des Zieles

Heute fahre ich mit einem späteren Zug. Ich nehme mir die Zeit für ein Frühstück, zwei Tassen Kaffee und die Tageszeitung. Beim Einstellungsgespräch hat mir die HR Abteilung von einer attraktiven Gleitzeit erzählt, deren Vorteile ich heute zum ersten Mal nutze. Heute sieht mich vor 10 Uhr niemand im Büro. Fix nicht!

Ich schlendere zum Bahnhof, denn ich hab genügend Zeit. Kein Stress. Ich male mir aus wie gemütlich die heutige Zugfahrt wird, ohne viele berufstätige Menschen, ohne laute Schüler. Am Bahnsteig treffe ich viele bekannte Gesichter, die ich vorher noch nie beim Öffi-Fahren getroffen habe. Der tägliche smalltalk bleibt mir nicht erspart und ich spreche mit einer Dame über das Wetter, die aktuelle politische Lage und dass der Junge ihrer Nichte bestimmt einmal vom rechten Weg abkommen würde. Denn die Erziehung ihrer Nichte sei zu lasch, der Bursche im Alter von 12 Jahren könne tun und lassen was er möchte. Ich äußere keine Meinung und nicke ihr lediglich zu. Als der Zug einfährt setze ich mich absichtlich ans andere Ende des Wagons.

Der Zug ist tatsächlich leerer als der den ich normalerweise immer nehme. Ich hab das Gefühl der einzige Mensch im Wagon zu sein, der einem Beruf nachgeht, alle anderen sind entweder zu jung oder zu alt. Nach einige Stationen steigt ein junges Mädchen mit ihrer Mutter ein. Sie sind sicher am Weg zum Arzt, das Mädchen sieht furchtbar aus. Hat sie eine gebrochene Nase? Die Augen sind blau unterlaufen und ihr Gesichtsausdruck verrät, dass sie Schmerzen hat. Wo sie die Verletzungen her hat, aber das kann ich die beiden unmöglich fragen. War es ein Unfall, hat sie wer geschlagen? Ich stelle mir die ganze Zeit die Frage, wie alt das Mädchen in etwa ist? Das ist schwierig, ich glaube sie sieht älter aus als sie tatsächlich ist. Wahrscheinlich ist sie zwischen 14 und 16 Jahre alt. Mitten in der Pubertät. Vielleicht hat sie die Verletzungen von ihren ersten Erfahrungen mit Alkohol und hat eine Stufe übersehen, oder so ähnlich.

Ich bekomme mit, dass Mutter und Tochter über die Verletzungen sprechen und dass sie am Weg zum Arzt sind. Besser gesagt sind sie am Weg in Krankenhaus. Ich muss einfach fragen - wie es passiert ist - sie sieht so furchtbar aus. Zu meiner Überraschung sprechen die beiden ganz offen über die gebrochene Nase, die blauen Augen und die aufgeplatzte Lippe. Sie erzählen mir, dass der Vater aus Syrien kommt. Der Mann lebt schon seit mehr 20 Jahre in Österreich und ist seit zwölf Jahren mit einer Österreicherin verheiratet. War der Vater der Täter, der die Tochter so zugerichtet hat? Ich will es gar nicht genauer wissen.

Plötzlich spricht die Tochter davon, dass es ihr Bruder war. Er ist in die Türkei geflogen und will gegen die IS kämpfen, gegen den Terror, gegen die blanke Angst, gegen das Nichts-Tun-Können. Das Mädchen, seine Schwester, hat sich ihm in den Weg gestellt. Wollte ihn am Flughafen davon abbringen in den Flieger zu steigen, abzuhauen, alles hinter sich zu lassen. Diese Ungewissheit was mit ihrem Bruder jetzt sei, mache sie fertig. Die Mutter spricht davon, dass es irgendwo auch stolz mache, dass er gegen das Böse auf der Welt kämpft, aber dass genau ihr Sohn der Held sein will - ist schwer zu akzeptieren. Ich bin nicht in der Lage auf das Gesagte zu reagieren. Die Geschichte schockiert, sie sitzt tief. Der Bruder will in den Kampf gegen den Terror ziehen, die Schwester stellt sich in den Weg und er verprügelt sie. Das ist unlogisch, er will gegen die Gewalt antreten, wendet aber selbst Gewalt gegenüber seinen Familienmitglieder an. Wie groß muss hier der Wunsch nach Frieden in Syrien sein?

Ich verabschiede mich von den beiden, wünschen ihnen viel Glück und dass sie bald was von ihrem Sohn/Bruder hören. Dass er sein Ziel erreiche und dass ich mir auch ein bisschen mehr Frieden für die Welt wünsche. Ich steige aus dem Zug aus und kann meine Gedanken nicht sortieren [...] !!

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Herbert Pollak

Herbert Pollak bewertete diesen Eintrag 14.12.2015 23:16:54

Silvia Jelincic

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Kar_Ma

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fischundfleisch

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