„Demokratien werden nicht gehasst, weil sie Religionen unterdrücken, sondern weil sie Menschen daraus befreien“

Ein paar persönliche Überlegungen anlässlich des jüngsten Attentats in Wien

Der jüngste jihadistisch inspirierte Anschlag in Wien, dem unter anderem zwei Studierende der Angewandten zum Opfer gefallen sind, bringt mich dazu, über den Einfluss der Religionen auf unser Zusammenleben nachzudenken. Dabei merke ich, wie schwer mir das fällt; es ist, als beträte ich vermintes Gelände, in dem der Glaube das Nachdenken torpediert. Also beginne ich mit einer Selbstbeobachtung:

Meine Eltern waren nicht religiös. Trotzdem haben sie mich in eine katholische Privatschule geschickt, vor allem weil dort Nachmittagsbetreuung angeboten wurde. Also wurde ich bei den Piaristen in ein Leben eingeführt, in dem der Glaube an ein höheres Wesen allgegenwärtig sein und die auf ein besseres Jenseits gerichteten Wertvorstellungen mein Leben nachhaltig bestimmen sollten. Unterstützt wurden die Patres in ihrem religiös motivierten Erziehungsauftrag von meiner bigotten Großmutter, die, vom Land kommend, ihre tägliche Lebensgestaltung an den Vorgaben der Katholischen Kirche orientierte. Kein Wunder also, dass ich als Junge unbedingt Priester werden wollte. Eine Berufswahl, die die Nonnen im Kaiser-Franz-Josef-Spital, wo ich an den Mandeln operiert wurde, in helles Entzücken versetzte.

Die Katholische Kirche war allgegenwärtig

In meiner Erinnerung war die Katholische Kirche damals allgegenwärtig, Männer lüfteten ihren Hut in der Straßenbahn, wenn diese an einer Kirche vorbeifuhr, Frauen machten das Kreuzzeichen. Punkt zwölf Uhr mittags ertönten im Radio die Kirchenglocken aus einer österreichischen Gemeinde. Katastrophen wurden als Strafe Gottes angesehen. Und Politiker, die gewählt werden wollten, reihten sich ein in die pompösen Fronleichnams-Umzüge.

Ich selbst habe es nur zum Ministranten geschafft, der am Altar lateinische Sprüche wiedergab, die ich nicht verstand. Erhalten blieb ich der Katholischen Kirche aber als Organist und Leiter eines Kirchenchores. Von der Empore herab konnte ich mich lustig machen über die „Kerzelschlucker“ unter mir und den alten Frauen, die nicht müde wurden, bei der Maiandacht in Endlosschleifen den Rosenkranz zu beten. Ich selbst wusste mich auf der „fortschrittlichen Seite“ dieser Inszenierung, wenn das gerade stattfindende Zweite Vatikanische Konzil eine grundstürzende Umwälzung innerhalb der Katholischen Kirche versprach, die sich für einen historischen Moment bereit zeigte, den universellen Machtanspruch der Amtskirche in Frage zu stellen. Während ich aber mit einem jungen Priester aus Spanien über den revolutionären Gehalt der Botschaft Jesu diskutierte, organisierte ein anderer in seiner Wohnung mit einer Reihe mittelalterlicher Frauen „Herz-Jesu-Verehrungen“, deren sexuelle Konnotationen sich nur schwer verbergen ließen.

Bei mir brauchte es noch den einen oder anderen Umweg zu fernöstlichen Heilslehren, um draufzukommen, dass ein gutes Leben ohne religiöse Anleitung möglich ist. Mehr, dass ich in mir einen Antrieb spüre, mich aus diesbezüglichen Abhängigkeiten zu befreien, und sei es, um mich mir in meiner diesseitigen Begrenztheit zuzumuten. Also mutierte ich zunehmend zu einem „Kulturkatholiken“, der einerseits den Auftrag verspürt, sich aus religiösen Fesseln zu befreien, und andererseits doch anerkennen kann, dass seine Umwelt (und damit wohl auch sein eigenes Denken und Fühlen) wesentlich geprägt ist vom Einfluss der Katholischen Kirche, in deren Namen ein überreiches kulturelles Erbe geschaffen wurde, das nicht nur die Kulturpolitik des Landes bis heute bestimmt.

Die Katholische Kirche als gesellschaftsbestimmende Kraft

Es bedurfte eines politikwissenschaftlichen Studiums, um zu erkennen, dass die Katholische Kirche nicht nur wesentlich meine Befindlichkeit geprägt hat, sondern darüber hinaus die Verfasstheit einer Gesellschaft, in die ich hineingeboren worden bin. Ein Blick in die österreichische Geschichte macht deutlich, dass ihr Einfluss über weite Strecken alles andere als friedliebend gewesen ist. Der Dreißigjährige Krieg, in dem um den Preis der Zerstörung weiter Teile Europas und seiner Bevölkerung die Reformation niedergerungen werden sollte, ist dafür nur ein Beleg. Jedenfalls verfügte damals die Katholische Kirche über jede Menge Feindbilder, die es zu vernichten galt. Dass sich der darauffolgende Siegestaumel in einer Hochkonjunktur des Baus barocker Kirchenarchitekturen niederschlagen sollte, wird im Zuge der Entkontextualisierung des Kulturelles Erbes (um das uns ja die Welt bekanntermaßen so beneidet) gerne vergessen.

In der aktuellen Diskussion um Laizität wird nur zu gerne ausgeblendet, welch großer politischer Anstrengungen es bedurfte, um den überragenden Einfluss der Katholischen Kirche auf das politische und gesellschaftliche Leben zurückzudrängen. Der Kampf um die ungeteilte staatliche Macht dauerte lange und gestaltete sich alles andere als friedlich: kirchliches Eigentum wurde enteignet (Joseph II.), kirchliche Würdenträger im Zuge der Aufhebung des Jesuitenordens ins Gefängnis gebracht. Die Kirche wusste sich auf immer neue Weise dagegen zu wehren, vor allem ihr Einfluss auf Demokratie-, Bildungs- und Familienpolitik blieb die längste Zeit unangefochten. Groß daher die politischen Versuchungen, dieses überragende Standing noch im 20. Jahrhundert zu nutzen, um autoritäre Herrschaftsformen wie den Austrofaschismus der Jahre 1933 bis 1938 zu legitimieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bedurfte es vieljähriger Verhandlungen mit dem Vatikan, um die jeweiligen Einflussfelder zwischen Staat und Kirche neu abzustecken. Das Ergebnis war das Konkordat von 1962, das der Katholischen Kirche in Österreich nach wie vor beträchtliche Privilegien etwa im Bereich der Bildungspolitik einräumt. Auf diesen Deal begründet sich eine sehr österreich-spezifische Form der Laizität. Diese weiß um den ungebrochenen Einfluss der Katholischen Kirche auf Staat und Gesellschaft, ohne dies aber noch einmal politisch zu problematisieren. Die Vorteile einer solchen informellen Grenzziehung erkannte auch Bruno Kreisky, der in den 1970er Jahren im Zusammenwirken mit dem damaligen, liberal gesinnten Wiener Kardinal König zu einem Agreement kam, das selbst durch die damals heftig aufgeflammte Abtreibungsdebatte nicht mehr verhindern werden konnte.

„Mohammedaner“ – das waren diejenigen, die den Kaffee nach Wien gebracht haben

Der Einfluss des Islam spielte in all den Jahren, mit denen ich persönliche Erinnerungen verbinde, im gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt keine Rolle. Im Unterricht beschränkte sich seine Behandlung im Wesentlichen auf die Erwähnung der beiden Türkenbelagerungen von Wien, die ich fortan vor allem mit den Wiener Kaffeehäusern verband. Der Umstand, dass sich damals bereits mehr als hunderttausend sogenannte Gastarbeiter, viele von ihnen Muslime, im Land befanden und schon gar nicht die weitgehend unbekannte Tatsache, dass dem Islam bereits 1912 eine staatliche Anerkennung gewährt wurde und er seither als ein integrativer und kaum problematisierter Teil der österreichischen Verfasstheit darstellt, änderte daran nichts.

Im Vergleich zu Österreich haben sich andere Länder, allen voran Frankreich zu einer wesentlich strikteren Trennung von Staat und Kirche entschlossen. Während in Österreich allerorten weiterhin christliche Symbole Schulen und andere öffentliche Einrichtungen prägen (und in immer neuen Wellen diskutiert wird, wie viel Islam in Gestalt von Bekleidungsvorschriften dort sichtbar sein darf), untersagt seit 1905 die französische Gesetzgebung jegliche Sichtbarkeit religiöser Symbole in staatlichen Einrichtungen. Dieser Sieg des Staates über die Kirche wurde damals nicht nur in Frankreich gefeiert; rasch fand dieses Modell „a la francaise“ Nachahmung in anderen Ländern, z.B. ausgerechnet in der Türkei, wo, Mustapha Kemal 1924 auch gewaltsame Mittel einsetzte, um mit einer autoritär durchgesetzten Form der Laizität die Bevölkerung aus Jahrhunderte lang andauernder religiöser Indoktrination zu befreien.

Es gibt sie, die Kräfte, die Europa islamisieren wollen – ebenso wie es solche gab, die den Orient christianisieren wollten

Mein Eindruck ist, dass die historische Errungenschaft einer mehr oder weniger strikten Trennung von Kirche und Staat heute in vielfacher Weise gefährdet bzw. relativiert wird. Aus gegebenem Anlass richtet sich zurzeit alles Interesse auf eine fundamentalistische Interpretation einer die Öffentlichkeit dominierenden Strömung des Islam, der mit der Einführung der Scharia säkulare Herrschaftsformen zu überwinden trachtet. Zu ihrer Durchsetzung wird ein neuer Kreuzzug, diesmal in die andere Richtung entfacht, um Europa zu erobern. In dieser schleichenden globalen Neuverteilung von Macht und Einfluss gerät nur zu leicht aus dem Blick, dass auch im Rahmen der christlichen Religionen ein neuer Fundamentalismus an Boden gewinnt. Diesbezügliche Neuevangelisierungsprogramme haben bereits mit Johannes Paul II. begonnen. Seine Adepten Groer und Kren haben wesentlich zum Erstarken des Konservativismus in Österreich beigetragen. Wohin das führen kann, lässt sich zurzeit in Polen und Ungarn studieren. Aber auch die orthodoxen Kirchen bilden ein wesentliches Fundament bei der Implementierung autoritärer Herrschaftsformen etwa in Russland. Und wohl auch der hohe Anteil an Anhänger*innen von neuevangelikalen Kirchen, die als Waffennarren unverbrüchlich zu Trump stehen und darüber hinaus in ganz Lateinamerika zunehmend an Boden gewinnen, machen den nachhaltigen Einfluss christlicher Kirchen auf staatliche Herrschaftsformen deutlich.

Diese Indizien für eine Erneuerung eines umfassenden Machtanspruches der christlichen Kirchen in der westlichen Welt vorausgeschickt, zeigt sich der Einfluss des Islam in der arabischen Welt noch einmal von einer ganz anderen Seite. Ganz offensichtlich ist es in diesen Ländern nicht gelungen, eine klare Trennung zwischen Religion und Staat vorzunehmen bzw. werden wir Zeugen von Entwicklungen, in denen – wie in der Türkei - laizistische Errungenschaften wieder rückgängig gemacht werden, um so eine möglichste Gleichsetzung von religiösen und politischen Zielen herzustellen. Dazu gehört auch die Konstruktion eines Außenfeindes, der als „Ungläubiger“ die eigenen Wertvorstellungen nicht zu teilen vermag (Diese generalisierende Aussage darf freilich nicht vergessen machen, dass es in islamischen Ländern Menschen gibt, die sich in einer Weise für religiös unbeeinflusste Formen von Demokratie und die Menschenrechte einsetzen, von denen ich mir mehr im demokratiemüden Europa wünschen würde).

Ist der Islam von seiner Natur her aggressiver und expansiver als das Christentum?

Auf der Basis dieser Erfahrungen kommen wir um die Kernfrage nach einem möglichen unterschiedlichen Charakter der Weltreligionen nicht herum. Geschulte Sozialanthropolog*innen samt ihrem als neue Monstranz vorgetragenen Toleranzpatent (Zur Erinnerung: Der Satz „Tolerant auf Dauer bedeutet Niedertracht“ stammt von Goethe) mögen mir an dieser Stelle einen, wenn auch aufgeklärten Eurozentrismus vorwerfen. Als unbedingter Verfechter universeller Menschenrechte komme ich trotzdem um die Tatsache nicht herum, dass es gelungen ist -– als Ergebnis Jahrhunderte langer Machtkämpfe – die christlichen Kirchen zumindest halbwegs demokratiekompatibel zu machen (und das obwohl sich die Katholische Kirche nach innen ungebrochen als eine von Gott gegebene Hierarchie präsentiert). Damit gelang es, als Ergebnis einer unendlichen Geschichte politischer Kämpfe ihr einen verträglichen Platz innerhalb liberal-demokratischer Verfassungen zuzuweisen und ihr einen unmittelbaren politischen Machtanspruch zu verwehren.

Ähnliches lässt sich über den Islam nicht sagen, mag er auch noch so viele unterschiedliche Strömungen verfallen. Stattdessen konstatieren selbst Islamwissenschaftler*innen wie Ebrahim Afsah im Islam strukturell ein expansives und aggressives Wesenselement. Dieses würde es unmöglich machen, auch in mittlerer Frist zu einer europäischen Lesart diese von weltlichen Machtansprüchen durchtränkten Weltreligion in liberal-demokratische Verfassungen dauerhaft zu integrieren. Darauf beruhende Hoffnungen enden spätestens dort, wo islamisch dominierte Länder ganz weit unten in den Rankings demokratischer Staaten zu finden sind. Die in weiten Teilen der arabischen Welt tobenden Machtkämpfe zwischen verschiedenen, einander, etwa zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien, heftig befehdenden Strömungen (die große Ähnlichkeiten mit der Auseinandersetzung konkurrierender christlicher Strömungen im Dreißigjährigen Krieg haben) tragen wenig zur Hoffnung bei, er ließe sich problemlos in die säkularen Gesellschaften Europas integrieren.

Interpretationen wie diese tragen sicher dazu, sich vor einer wachsenden „Islamisierung“ durch Zuwanderung zu fürchten, wie sie etwa der französische Autor Michel Houllebecq in seinem Roman „Unterwerfung“ bereits 2015 auf den Punkt zu bringen versucht hat. Aufgeheizt durch die aktuellen Attentate, deren Autoren sich gerne auf einen IS-Bezug und damit auf den Anspruch der Gründung eines Kalifat in Europa berufen, nehmen die Warnungen zu, Europa befände sich in einem erneuerten „Kulturkampf“, bei dem das liberal-demokratische Modell zunehmend unter Druck geraten würde und – ohne es zu merken – an seinen eigenen Toleranzansprüchen zugrunde zu gehen drohe. Den europäischen Gesellschaften wird unterstellt, sie seien nach einer historisch langen Friedenszeit von mehr als 70 Jahren Ende gar nicht mehr in der Lage, ihre Feinde zu erkennen und noch weniger, sie mit hinreichenden Mitteln zu bekämpfen.

In der aktuellen Auseinandersetzung, wie mit dem Islam zu verfahren sei, zeigt sich ein spezifisches europäisches Widerspruchsverhältnis, in dem die ehrausragenden Errungenschaften aufgeklärter Gesellschaften in selbstbeschädigende Schwächen umzukippen drohen. Gemeint ist dabei das Vermögen zu Selbstreflexion, Selbstkritik und damit verbundener Toleranz (Qualitäten, die immer auch die Entwicklung der christlichen Kirchen – und wohl auch einzelner Strömungen des Islam – mitbestimmt, wenn schon nicht entscheidend dominieren haben lassen): Kein Wunder, dass mit der Verschärfung politischer Konflikte in und rund um den Nahen Osten europäische Stimmen laut werden, die auf die koloniale Vergangenheit, auf Staatsterror und bis heute grassierenden Rassismus hinweisen, um damit besondere Rücksichtnahme gegenüber Menschen aus anderen Kulturen inklusive deren religiöser Ausrichtung einfordern. Die Frage, ob deren kulturelles Selbstverständnis Rassismus, Misogynie und Willkürherrschaft billigt, braucht gar nicht mehr gestellt werden (das erscheint mir umso bedenklicher, da eine solche Form des verbeliebigenden Multikulturalismus all diejenigen ausgrenzt, die sich außerhalb des kulturellen Mainstreams religiös fundierter autoritärer Regime leidenschaftlich für demokratische Werte einsetzen und in einem identitätsfixierten Europa keine Bündnispartner finden).

Seine Entsprechung findet diese pervertierte Toleranzanforderung in einem Opferdiskurs in weiten Teilen der islamischen Welt (und damit wohl auch in den islamisch geprägten Teilen der europäischen Gesellschaften), die sich von westlichen Werten – wirklich oder vorgeblich – angegriffen fühlen, selbst dann noch, wenn einzelne von ihnen gewaltsam als Täter gegen diese auftreten. Äußerungen wie die des früheren Malaysischen Ministerpräsidenten, wonach im aktuellen Bilderstreit mit Frankreich „Ungläubige den Tod verdienen würden“ bleiben in dieser Form der postkolonialen Selbstgeißelung ebenso außen vor wie die Tatsache, dass islamische Länder nicht nur vom Westen kolonisiert wurden, sondern – wie die Türkei – über Jahrhunderte selbst als Kolonisatoren aufgetreten sind.

Wenn die Errungenschaft der Laizität zu einer Unterdrückungsstrategie gegenüber Gläubigen umdefiniert wird

Verschärft von der aktuellen Attentatswelle erleben wir einen zunehmenden Prinzipienstreit: Auf der einen Seite die unbedingten Verteidiger einer rigiden Trennung von Religion und Staat, wie das zuletzt der französische Philosoph Pascal Bruckner zum Ausdruck gebracht hat. Und da sind zum anderen diejenigen, die angesichts der sich verschiebenden Kräfteverhältnisse vor zu viel Laizität warnen, die in den aktuellen, zunehmend multikulturell verfassten Gesellschaften in Europa latente Konflikte nur weiter verschärfen würden.

Das jüngste Attentat eines albanisch stämmigen, in Österreich geborenen Attentäters, der sich zum IS bekannte, hat alle Aufmerksamkeit auf die Gewaltsamkeit eines „politischen Islam“. Die geplanten Verschärfungen bei der Terrorbekämpfung, die die österreichische Bundesregierung anlassbezogen in Aussicht gestellt hat, geht von einer hinreichenden Trennschärfe zwischen einem „politischen“ und einem friedfertigen, weil „unpolitischen“ Islam aus. Der Umstand, dass jede Form der Religionsausübung der permanenten Versuchung politischer Instrumentalisierung unterliegt, bleibt dabei unberücksichtigt.

Ein Blick auf die Geschichte des Terrors könnte uns rasch eines Besseren belehren. Sie zeigt, dass Terrorismus eine stetig neu aufflammende Begleiterscheinung europäischer Entwicklung darstellt. Beginnend mit dem „Befreiungsausschuss Südtirol“ haben sowohl linke wie auch rechte Kräfte immer wieder versucht, ihre Interessen mit gewaltsamen Mitteln durchzusetzen. Islamisten reihen sich hier ein in eine Geschichte des Terrors, der die europäischen Gesellschaften immer wieder erschüttert hat. Die Wirkungen aber scheinen in einer historischen Phase, in der religiöse Lehren samt den zugehörigen Irrationalismen aus allen gesellschaftlichen Poren wieder zurückkehren, größer als die noch so große Aufregung um IRA, ETA, RAF, NSU und vieler anderer radikalisierter Gruppierungen. Auch viele von ihnen waren religiös motiviert und verfügten als solche über ganz unterschiedliche Rückendeckung in der Bevölkerung.

Neben den unmittelbar vom Anschlag Betroffenen gehören heute die, sich zum Islam bekennenden Gemeinschaften zu den besonders Leidtragenden. Viele Muslime, die ihren Glauben mit einem säkulares Verständnis des demokratischen Zusammenlebens verbinden können (und wollen), fürchten in diesen Tagen ganz besonders um ihre Integrität, wenn sie als potentielle Sympathisant*innen islamistischer Attentäter denunziert werden und ihr Glaube ungeachtet seiner politischen Instrumentalisierung zur alleinigen Ursache der jüngsten Attentate herhalten muss. Die bosnisch stämmige Journalistin Melisa Erkurt tut in diesen Tagen das Ihre, um den Blick auf die Leidtragenden zu richten.

„Wir lassen uns nicht auseinander dividieren“ – Und doch zeigen sich die demokratischen Errungenschaften zuallererst in der Fähigkeit, Gegensätze auszutragen

Mit Hilfe der Klammer eines vermeintlichen Zurufs eines Wieners an den Attentäter: „Schleich Dich, Du Oarschloch“ wollten Wiener*innen dem Ziel des Attentäter, die Gesellschaft zu spalten, etwas entgegensetzen: „Wir lassen uns nicht auseinander dividieren“ lautet seither die Losung, die für die Fortsetzung des friedlichen Zusammenlebens aller hier wohnenden Menschen ungeachtet ihrer religiösen Zugehörigkeit eintritt. Da formiert sich ein affirmatives „Wir“ anhand der Figur des Anderen, der als Attentäter jegliche Zugehörigkeit verwirkt hat (dem zufolge selbst ein Begräbnis verweigert wird.

So verständlich dieser Wunsch ist, angesichts eines gefährlichen Außenfeinds in Gestalt des IS-Terrors noch einmal enger zusammen zu rücken, so wenig kommen wir um den Umstand herum, dass Demokratie Vielfalt bedingt. Bei allem Bedürfnis für eine gefühlsbetonte Verbrüderung im Zeichen des Schreckens beharrt der österreichische Literaturwissenschaftler Christian Müller-Funk auf den Fortbestand einer Konfliktkultur als unabdingbare Voraussetzung jeder Form des demokratischen Zusammenlebens. Eine solche –so Müller-Funk –impliziere auch den unnachsichtigen Streit mit allen demokratiefeindlichen Kräften innerhalb der eigenen Reihen, die versuchen würden, sich den geltenden Formen der Trennung von Religion und Staat zu verweigern bzw. die universell geltenden Menschenrechte zur Disposition zu stellen.

Tausche Verachtung gegen Überheblichkeit

Mit einer solchen Forderung richtet er sich freilich nicht nur an Muslime, sondern an alle Mitglieder einer Gesellschaft, die sich informell auf eine unheilige Rollenverteilung verständigt hat: Auf der einen Seite die autochthonen und mehrheitlich christlich sozialisierten Mehrheiten und auf der anderen Seite verarmte, aus widrigen Umständen stammende Zuwander*innen, die mehrheitlich dem islamischen Glauben anhängen. Auf einer solchen schiefen Ebene ist nichts so leicht wie sich auf klischeehafte Zuschreibungen zu einigen, bei denen die Verachtung gegenüber den ärmlichen Lebensumständen der einen auf die Überheblichkeit ebendieser gegenüber den Ungläubigen trifft. Ideologische Strateg*innen aller Zeiten wussten nur zu gut, wie sich daraus Kulturkämpfe entfachen lassen.

Karikaturen als Lackmustest demokratischer Standards

Den Anlassfall der jüngsten Attentate in Frankreich und zuletzt auch in Wien bildete die Veröffentlichung von blasphemischen Zeichnungen. Charlie Hebdo ließ es sich auch nach den verheerenden nicht nehmen, nach der Enthauptung eines Lehrers, der mit seinen Schüler*innen auf einer Diskussion zum Verhältnis von Religions- und Kunstfreiheit bestanden hatte mit einer Karikatur des Heuchlers Erdogan die Grenzen der Kunstfreiheit auszureizen. Erdogan hatte zuletzt die laizistische Verfassung Frankreichs in Frage gestellt, Präsident Macron als Verteidiger dieser zum „Geistesgestörten“ erklärt und seine „Glaubensbrüder“ zum Widerstand aufgerufen.

Und so werden wir Zeuge eines Widerspruchsverhältnisses innerhalb demokratischer Verfassungen, die die Freiheit der Kunst der Freiheit der Religionsausübung gegenüberstellt. In Österreich wurde dieser Gegensatz zuletzt im Rahmen der Verabschiedung des Artikels zur Freiheit der Kunst in der Bundesverfassung 1982 breiter diskutiert. Davor kam es immer wieder zu Zensurmaßnahmen, mit dem Argument, inkriminierte Kunstwerke erfüllten den Tatbestand der Blasphemie und seien daher staatlicherseits zu unterbinden. Wortführer waren in der Regel Vertreter der katholischen Kirche, die in ausgewählten Kunstwerken eine Verhöhnung religiöser Lehren zu erkennen glaubten. Österreich konnte sich damals nicht auf ein mit der freien Religionsausübung vergleichbares Grundrecht zugunsten einer ungehinderten „Kunstausübung“ verständigen; das ist der Grund, warum nach wie vor Gerichte angerufen werden können, um in diesem Konkurrenzverhältnis zu entscheiden. Der Grundwert jeder Religionen, über sie auch spotten zu dürfen, fand jedenfalls in Österreich nach anhaltendem konservativ-katholischen Widerstand keine Entsprechung in der Bundesverfassung.

Mit den jüngsten Attentaten zeigt sich nochmals die potentielle Gefährlichkeit künstlerischen Tuns, zumal wenn sich dieses gegen den geschlossenen Kosmos von Streng-Gläubigen richtet, die jede Form der Kritik als einen Angriff auf ihrer Religion interpretieren. Dagegen aufzustehen erfordert Mut, wie das zuletzt die Biber-Redakteurin Nada El-Azar mit ihrem Beitrag „All das, wegen einer Zeichnung?“ versucht hat.

Sie hat uns alle daran erinnert, dass Kunst eine Art von Lackmustest zur Qualität demokratischer Umgangsformen darstellt, die von keiner religiösen Lehre in Zweifel gezogen werden können. Sie stellt sicher, dass die einen ihren Glauben ungehindert leben können (soweit sie damit nicht direkt Einfluss nehmen auf politische Entscheidungen) und die anderen ebenso ungehindert Kritik daran üben können, ohne als Rassist*innen beschimpft, physisch angegriffen oder von linken Multikulturalist*innen, die Islamische Fundamentalisten als die neuen „ Schutzbefohlenen“ auserkoren haben, ins rechte Eck gestellt zu werden.

Für mich bleibt es eine entscheidende Erfahrung, in eine Gesellschaft hineingeboren worden zu sein, in der Meinungs- und Religionsfreiheit ohne Wenn und Aber zu einer zentralen Errungenschaft einer säkularen, aufgeklärten Gesellschaft werden konnte. Diese gab mir die Chance, im Verlauf eines durchaus verschlungenen Emanzipationsprozesses „aus selbstverschuldeter Unmündigkeit herauszutreten“ und zu versuchen, ein halbwegs selbstverantwortetes Leben jenseits religiöser Allmachts-Vorstellungen zu führen. Dabei macht es mir die katholische Kirche (nicht zuletzt mit ihren vielfältigen Einflüssen auf den Schul- und Kulturbetrieb) bis heute nicht leicht. Aber ich und mit mir viele andere haben die Erfahrung gemacht: Es geht!

Jetzt, so scheint mir, geht das Theater wieder von vorne los. Die Religionen drängen zurück, schleichend, die Verhältnisse oft gewaltlos, manchmal gewaltsam zurückdrehend. Abgehandelt wird dieser Konflikt zurzeit vor allem am Beispiel eines Islam, dessen Gläubige wenig Erfahrung haben mit der Trennung von Religion und Staat und daher besonders anfällig erscheinen für alle Formen des Totalitarismus, um in der Regel an den Folgen mehr zu leiden als die, gegen die sie antreten (dass uns über Jahre nahezu täglich Meldungen aus arabischen Ländern über Attentate mit jeweils dutzenden Toten erreichen, tangiert mittlerweile in Europa scheinbar niemanden und ist zu einer Randnotiz verkommen).

Umso wichtiger erscheint mir Pascal Bruckners Botschaft, wonach die zweifache Aufgabe der Laizität darin besteht, einerseits Religionen als Ausdruck der persönlichen Lebensweise zu schützen und andererseits Menschen vor den Religionen zu schützen.

Das gilt für alle Religionen. Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen zu politischen Wirkkraft des Islam zu glauben, andere monotheistischen Religionen wie das Christentum und das Judentum wären auf alle Zeiten vor politischen Instrumentalisierungsversuchen gefeit, könnte sich schon rasch als allzu naiv herausstellen.

Michael Wimmer schreibt regelmäßig Blogs zu relevanten Themen im und rund um den Kulturbereich.

Anhand persönlicher Erfahrungen widmet er sich tagesaktuellen Geschehnissen sowie Grundsatzfragen in Kultur, Bildung und Politik.

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