Vergangenheit und Zukunft aus hoch aufgeladenen Begriffs im Kontext des Essays von Wolfgang Ullrich „Die Kunst nach dem Ende der Autonomie“

Der Dirigent Teodor Currentzis hat zuletzt für Aufregung gesorgt, die vordergründig nichts mit seinen künstlerischen Tätigkeiten zu tun hat. Die mediale Aufmerksamkeit bezog sich vor allem auf seine Weigerung, im aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine Stellung zu beziehen. Die Wiener Stadtzeitung Falter bezeichnete ihn zuletzt als einen „genialen Wendehals“, der versuchen würde, seine privilegierte Stellung in Putins Russland zu verschleiern, in der Hoffnung, damit in Europa den Starkult um seine Person weiter ausbauen zu können. Schon im Sommer musste deshalb der Intendant der Salzburger Festspiele Markus Hinterhäuser ausrücken, um seinen Stargast zu verteidigen. Jetzt soll sein neues, transnational zusammengesetztes Ensemble „Utopia“ mithelfen, ihn gegenüber zivilgesellschaftlichen Erwartungen seiner politischen Einordnung unangreifbar zu machen bzw. ihn als Künstler über allen gesellschaftlichen Konfliktlinien dahinschweben zu lassen.

Meine Vermutung ist, dass noch vor kurzer Zeit eine mit solcher Vehemenz öffentlich ausgetragene Kontroverse um den gesellschafts-politischen Kontext, in dem Kunst stattfindet, nur wenige kunstaffine Menschen hinter dem Ofen hervorgeholt hätte. Aber ganz offensichtlich sind wir in eine neue Phase der Sensibilität eingetreten. Sie ist u.a. das Ergebnis eines wachsenden Interesses an Fragen von Post-Kolonialismus, Diversität oder Rassismus bzw. der Durchsetzung unteilbarer Menschenrechte auch im Kunstbetrieb, der allen Menschen, damit auch Künstler*innen, denen als potentielle Role Models besondere Bedeutung zukommt, Haltung zu beziehen. Sie sollen sich nicht länger als einzige hinter einem Verteidigungswall aus Kunstautonomie verstecken dürfen, hinter dem alle Arten von Fehlentwicklungen unsanktioniert wuchern dürfen. Das müssen auch Currentzis, seine Förderer (für die russische VTB-Bank ist kurzfristig Servus-TV und die Stiftung Mateschitz eingesprungen) und die ihn engagierenden Kulturmanager*innen (die sich aus verständlichen Gründen nur ungern eine ihrer zur Zeit fettesten Cash-Cows schlecht machen lassen wollen), wenn auch noch weitgehend planlos zur Kenntnis nehmen.

Das Konzept der autonomen Kunst als überkommene Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft?

Zum Ausdruck kommt damit eine zunehmende Ratlosigkeit, wie mit politisch vereinnahmten (bzw. sich politisch vereinnahmen haben lassenden) Künstler*innen umzugehen ist. Umso überfälliger, nochmals über das Konzept der künstlerischen Autonomie nachzudenken. Da trifft es sich, dass der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich jüngst einen Essay „Die Kunst nach dem Ende der Autonomie“ herausgebracht hat. Darin versucht er die kategoriale Differenz zwischen Kunst und Gesellschaft, mit der Künstler*innen ihrer herausragenden Stellung auf immer neue Weise begründet haben, sowohl in Richtung Markt als auch in Richtung Politik einzuebnen und so die Kunst einem neuen Koordinatensystem zu überantworten. Geht es nach Ullrich, soviel kann vorausgeschickt werden, ist diese ideologische Trennung von den Realitäten des Kunstbetriebs längst überholt worden; die Einbettung jeglichen künstlerischen Tuns in seinen (gesellschafts-)politischen Kontext mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden.

Autonomie der Kunst gegenüber dem Staat – Autonomie der Kunst durch den Staat

Bevor auf seine Überlegungen im Detail eingegangen werden kann, bedarf es einer kurzen Vorgeschichte, die bei Ullrich weitgehend unerwähnt bleibt. Immerhin stellt die Autonomie der Künste ein zentrales kulturpolitisches Kampffeld dar, in dem ganz unterschiedliche Akteur*innengruppen ihre Interessen verteidigen. Grob vereinfachend gilt es, zumindest zwischen vertikalen und horizontalen Dimensionen der Kunstautonomie zu unterscheiden. Während erstere auf das Verhältnis zwischen Künstler*innen und der Staatsgewalt verweist, bezieht sich zweitere auf die Wechselverhältnisse, denen sich künstlerische Produktion, darüber hinaus ihre Rezeption und Vermittlung seitens anderer gesellschaftlicher Bereiche ausgesetzt weiß.

Ausgeklammert bleibt bei Ullrich, dass die politischen Eliten die längste Zeit für sich das Monopol beansprucht haben, die Grenzen künstlerische Tätigkeit zu bestimmen. Als solche hatten sie ein Interesse daran, Kunst zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruches zu nutzen. Darüber hinaus traten sie als kleine wohlhabende und gebildete soziale Gruppe als kundiger Auftraggeber auf, die in das Geschäft mit dem Künstler detaillierte inhaltliche Vorstellungen einbrachte (siehe dazu etwa Michael Baxandall: „Die Wirklichkeit der Bilder“ oder Martin Warnke: Hofkünstler: Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers).

Diese Dominanzvorstellungen änderten sich nicht grundsätzlich mit dem Aufkommen der Moderne. Sehr wohl aber stiegen mit der „Entzauberung der Welt“ die Ansprüche, im Rahmen der bestehenden Verfassung das Leben so selbständig wie möglich zu gestalten, damit die Grenzen zwischen Freiheit und Abhängigkeit neu zu ziehen. Und doch (oder gerade deswegen) hörten die Mächtigen nicht auf, Kritik – und sei es noch von so prominenten Künstler*innen – zu unterbinden. Dazu gehörte auch die herrschende Sittenlehre, die den Untertanen auferlegt war und die durch künstlerische Hervorbringungen nicht in Frage gestellt werden sollte. In der Regel sorgte ein umfassendes Zensursystem dafür, dass sich die wachsenden Autonomieansprüche an den rigiden staatlichen Vorgaben brechen mussten bzw. nur durch allerlei Tricks umgangen werden konnten.

Diese Beschränkungen sollten mit dem Ende feudaler Herrschaftsansprüche an ihr Ende kommen. Sie taten es aber nicht, zu groß die anhaltende Versuchung der Regierenden, sich ihre Kritiker*innen aus Kunst und Wissenschaft auch weiterhin vom Leib zu halten. Ganz besonders galt das für die autoritären Herrschaftsformen des 20. Jahrhunderts, die das künstlerische Schaffen zur eigenen Legitimation und Selbstüberhöhung zu instrumentalisieren versucht haben. Aber auch demokratisch verfasste Gesellschaften haben Künstler*innen immer wieder Grenzen gesetzt, wenn es darum ging, „gute“ von „schlechter“ Kunst zu unterscheiden. So war das Österreichische Parlament noch in den 1970er Jahren mit einer Reihe von Zensurdebatten konfrontiert, die erst mit der Verabschiedung das Staatsgrundgesetzes der „Freiheit der Kunst“ 1982 ihr Ende finden sollte. Erst mit dieser Entscheidung sollte der Staat als inhaltlich einflussnehmende Instanz abtreten.

Mit der Beschlussfassung staatliche garantierter Autonomie aber sollte die Diskussion noch lange nicht an ihr Ende kommen. Ganz im Gegenteil verlagerte sich die Diskussion von der vertikalen auf die horizontale Ebene. Bereits im Zuge der Beschlussfassung der „Freiheit der Kunst“ im Verfassungsrang verwies die damals regierende Sozialdemokratie darauf, dass künstlerische Autonomie nicht einfach als gegeben erachtet werden könne, sobald der Staat aufhöre, seinen Einfluss gelten zu machen.

Die Autonomieansprüche der Kunst und die Verwertungsinteressen der Marktwirtschaft

Es gälte zu berücksichtigen, dass einerseits eine Reihe möglicherweise konfligierender Staatsziele wie die Freiheit der Religionsausübung, Verbot der Wiederbetätigung, Gleichstellung der Geschlechter aber auch die Unversehrtheit von Mensch und Tier kunstautonome Ansprüche zumindest beschränken würden. Gravierender aber – so die linke Argumentation von damals – würden sich Beschränkungen durch herrschende Wertvorstellungen erweisen. Als zentrale Gefahr wurden damals die Wirkungen einer kapitalistisch verfassten Marktwirtschaft gesehen, die jeden Autonomieanspruch ad absurdum führen, weil sich auch die Kunst dem Spiel von Angebot und Nachfrage unterwerfen würde. Entsprechend groß die Forderungen nach einem besonderen Schutz, nun nicht mehr gegen, sondern durch den Staat, dem der Auftrag zufiele, mit Hilfe von Fördermaßnahmen nicht vordergründig verwertungsorientierte „Möglichkeitsräume“ zu schaffen, um so künstlerische Autonomieansprüche nicht nur zu garantieren, sondern auch materiell zu gewährleisten.

Das Ergebnis war die Beschlussfassung des Bundeskunstförderungsgesetzes 1988, in dem sich der Staat verpflichtete, im Rahmen eines zunehmend ausdifferenzierten Förderwesens einen autonomen Status der Kunst ungeachtet des sozialen Kontextes ihrer Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptionsverhältnisse zu gewährleisten. In der Rückschau kam es so innerhalb weniger Jahre zu einer völligen Kehrtwende des Verhältnisses zwischen Kunstbetrieb und Staat: Befürchtete man noch kurz davor den Staat als gewichtigen Einflussnehmer aufs künstlerische Geschehen, so mutierte er jetzt zum Garanten von künstlerischer Autonomie. Diese sollte nicht mehr nur vor staatlichen Übergriffen geschützt, sondern durch die Bereitstellung einer Schutzglocke vor allen Anfeindungen anderer gesellschaftlicher Akteursgruppen abgeschirmt werden. Um so der Kunst einen Sonderstatus zu verleihen, der die Künstler*innen – siehe Currentzis – aus allen gesellschaftlichen Konfliktlagen (ungeachtet ihrer persönlichen Wertvorstellungen) heraushalten sollte.

Und jetzt das: In diesen Tagen präsentiert sich eine der wegweisenden internationalen Kunstmessen, die Art Basel in Paris als eine große Vermählung von Kunst und kommerziellen Luxusmarken. Als hätte es die kategoriale Trennung von Kunst und Kommerz nie gegeben, wird uns hier ein weitgehendes Ineinanderfließen von Kunstbetrieb und Modeindustrie vorgeführt, die traditionelle Vorstellungen eines autonomen Kunstanspruchs in ihr schieres Gegenteil verkehrt.

Dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt, zeigt Wolfgang Ullrich in seinem Essay. Bereits in der Exposition erzählt er anhand von fünf Beispielen von neuen Allianzen zwischen den Ambitionen einzelner prominenter Künstler*innen und den Vorgaben von Markenartikel-Herstellern. Statt in Opposition zueinander zu stehen, würden sie sich beim Schaffen öffentlicher Aufmerksamkeit (und damit ökonomischer Wirkung) auf ideale Weise ergänzen und stützen. Fast schon euphorisch beschreibt er die Herstellung Sneakers von Takashi Murakamis und Faith Ringgold, deren Hervorbringungen die ehedem kategorialen Grenzen spielerisch überschreiten, indem sie von einer Fangemeinde ebenso begehrt wie im Museum gefeiert werden, um damit den Begriff der Kunst völlig neu zu kontextualisieren.

Diese Form der Verflüssigung bislang ehern erscheinender Autonomieansprüche verweist fürs Erste auf einen universellen Sieg eines Konsumismus als eine alle und alles beherrschende Kommunikationsform, der keinerlei Sonderstellung ausgewählter Produktions- und Rezeptionsformen, und sei es der Kunst mehr duldet. Es bedarf wenig Phantasie, daraus zu schließen, dass eine daraus resultierende Ein- und Unterordnung auch der Kunst in das marktwirtschaftliche Regime gravierende Auswirkungen auf ihren autonomen Status hat.

Die Kunst als ein Medium, das es darauf anlegt, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen

Ullrich sieht im Übergang von bürgerlichen zu massenkonsumistischen Gesellschaften postautonome Artefakte auftauchen, deren Charakter sich grundsätzlich von früheren unterscheiden würde: Während autonome Kunst sich dem unmittelbaren Besitzstreben zu entziehen suchte, um – im Prinzip von allen gleichermaßen – an besonderen , als neutral definierten Orten der Vergemeinschaft mit „interesselosem Wohlgefallen“ rezipiert zu werden, so sei postautonome Kunst auf Besitz angelegt. Sie erweise sich als Ausdruck einer demonstrativen Individualisierung. Ohne sie zu besitzen, gehörte man nicht zur erwählten Community.

Auf diese Weise erfülle Kunst ihren Zweck nicht mehr in ihrer Rezeption (wofür das bürgerliche Zeitalter den Menschen eine Menge an Vorleistungen des Kundigwerdens abverlangt hat), sondern in ihrem Besitz. Ihre Bestimmung erfülle sich nicht mehr in den Erwartungen sozialer Distinktionsgewinne. Sie begründe sich vielmehr in der Erfüllung von Funktionen wie Seelentröster, Talisman oder eben Markenprodukt, das konkret benutzt werden will. Ullrich spricht von einer aktivistisch-konsumistischen Kunst, die nicht mehr in extraterritorialen Orten verhandelt werden wolle, sondern Platz findet im Alltagsleben der sie Besitzenden. Als solche ist sie nicht mehr auf ihre Aura als Einzelstück verwiesen, sondern existiert in vielen Varianten und Versionen, die jeweils andere Eigenschaften und Nutzungsmöglichkeiten beschreiben.

Eine solche Funktionszuschreibung hat Auswirkungen auf Form und Inhalt: Haben es „autonome Künstler*innen“ noch drauf angelegt, in ihrer neuen, staatlich garantierten Freiheit Kritik an den herrschenden Verhältnissen zu üben bzw. am Einzelfall die Finger in die Wunden gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu geben, um so eingefahrene Sichtweisen zu provozieren, so treten wir jetzt in eine Phase des künstlerischen Schaffens ein, in der Freundliches und Niedliches (und damit Marktgängiges und Leichtverkäufliches) der Vorzug gegeben wird gegenüber schwer Verständlichem, Provokantem, Erhabenem oder gar Ekligem. Das bedeutet aber auch, dass eine solche Kunst – als Ausdruck der komplexen Geschichte europäischer Moderne – nicht mehr auf ihren tiefen hermeneutisch zu erfassenden Sinn befragt werden will, sondern als ein leicht handhabbares Konsumgut neben vielen anderen und damit als ein Bestandteil eines spektakelhaften Hier und Jetzt verstanden werden will.

Für eine vertiefende Unterscheidung zwischen autonomen und postautonomen Kunstansprüchen verweist Ullrich auf Milena Burzywodas Initiative „artistunderground“.

Die Autonomie der Kunst als ein historischer Sonderfall – Mit einem Anfang. Und einem Ende?

In einem, die Geschichte nachzeichnenden Kapitel versucht Ullrich, seine Neubestimmung von Kunst auch historisch abzuleiten. Darin war für ihn Kunst immer ein Medium der Abgrenzung. In seiner religiösen Nutzung in vormoderner Zeitz diente sie vor allem dazu, das Heilige und Transzendente von den Niedrigkeiten des Profanen zu unterscheiden. Mit der Durchsetzung säkularer Weltbilder wandelte sich das Bedürfnis, sich nicht nur mehr von einem Herrschsaft legitimierenden Jenseits sondern auch sich von Vergangenem anzugrenzen, und damit die Charakteristika der Vorgängergeneration zu überwinden. Es galt – jedes Mal aufs Neue – sich von bestehenden Zwängen zu befreien, um so ästhetisches Neuland zu betreten.

Am Ende galt als ultimativer Ausweis von Kunst das, „was nicht als Kunst gilt“. Daraus resultierende Autonomieansprüche sollten auf Freiheiten verweisen, die für sich beanspruchten, bestehende Vorstellungen von Kunst hinter sich zu lassen: Kunst sollte irritieren, sie sollte verfremden, sie durfte sich nicht anbiedern und sollte einen unverständlichen (enigmatischen) Rest enthalten. Dieses Verfahren aber musste früher oder später zu ihrer Selbstüberwindung führen.

Autonome Künstler*innen, die ihre Bewertungsmaßstäbe gleich mitliefern

Das Dilemma zeigte sich spätestens dort, wo der Umgang mit den derart begründetem Kunstschaffen eine Qualitätseinschätzung verunmöglicht. In dem Maße, in dem Künstler*innen für sich beansprucht haben, Neuland zu betreten, verweigerten sie sich objektivierbaren Kriterien, die Auskunft hätten geben können darüber, worin ihre spezifisch ästhetischen und darüber hinaus ihr gesellschaftlichen Wirkungen liegen. Also lief ihre Bewertung auf simple Machtansprüche derer hinaus, die an den Hebeln des Kunstbetriebs sitzen, ohne dass die Grundlagen ihrer Entscheidungsfindung einem auf Affirmation getrimmten Publikum noch hätte hinreichend vermittelt werden können.

Zum Ausdruck kam hier nicht nur der Anspruch eines*einer autonomen Künstlers*in, der*die für sich beanspruchte, seine*ihre historischen Vorgänger*innen zu überwinden, sondern auch der Wille, seine*ihre Hervorbringungen in Ermangelung jeglicher Vergleichsmöglichkeit auch selbst bewerten zu können. Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich bei einer solchen Idealisierung “autonomer Künstler*innenschaft“ um eine historische Ausnahme handelt. Die Ambition, das eigene künstlerisches Schaffen und seine Beurteilung ohne jede Einflussnahme äußerer Umstände in eins zu setzen steht im Widerspruch zur demokratischen Verfasstheit moderner Gesellschaften, die auf öffentlich argumentativer Rechtfertigung gesellschaftlichen Handelns beruht. Und so müssen auch Künstler*innen zur Kenntnis nehmen, dass ein unreflektierter Anspruch autonomer Kunst der Kraft der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realitäten nicht standzuhalten vermag.

Künstlerische Avantgarden intervenieren in die Gesellschaft

Die Stilisierung von Künstler*innen als extraterrestrische Ausnahmefiguren, deren Qualität sich darin erweisen würde, sich jeglicher Bezugnahme auf jeweils herrschende gesellschaftliche Kontexte zu verweigern, blieb freilich nicht unbeeinsprucht. So war es ein Grundanliegen der künstlerischen Avantgarden des 20.Jahrhunderts, ihr Tun auf Praktiken und Regeln kunstferner Bereiche zu beziehen. Als Beispiele dafür kann die Fluxus-Bewegung ebenso zählen wie die Initiativen rund um „Relational Aesthetis“. Sie alle müssen sich freilich den Vorwurf gefallen lassen, wenig Interesse an gleichberechtigten Kooperationen mit Vertreter*innen „kunstfremder“ Politikfelder gehabt zu haben. Stattdessen zielten sie darauf ab, diesen ihren eigenen ästhetischen Stempel aufdrücken zu wollen.

Die Konsequenzen der Globalisierung sind in ihrer Tragweite für den Kunstbetrieb noch weitgehend unreflektiert (das Desaster rund um die documenta fifteen und ihrem hilflosen Umgang mit Versatzstücken spezifisch europäischer Geschichte) hat eindrücklich davon erzählt, wieviel dafür noch zu leisten ist). Als zentrale Repräsentation europäischer Aufklärung (und damit bürgerlichen Individualismus) steht „autonome Kunst“ heute mehr denn je unter dem Verdacht der Aufrechterhaltung westlich postkolonialer Herrschaftsformen. Im Kontext der Neuaushandlung bestehender Machtverhältnisse verweist Ullrich auf die Rückkehr der Kunst- und Wunderkammern im Rahmen internationaler Versteigerungen, in denen Skelette von Dinosauriern scheinbar absichtslos neben Markenartikel wie Ferrari gleichberechtigt neben Hervorbringungen eines Picasso und Basquiat gestellt werden. Kunst mutiert dort zu einem Markenartikel wie jeder andere, dessen spezifischer kunsthistorischer Kontext weitgehend irrelevant bleibt, jedenfalls für zahlungskräftige Nichteuropäer*innen solange belanglos erscheinen kann, als sich eine Bezugnahme zu einem „patriarchalen Kolonialismus“ vermeiden lässt (Der anonyme Kauf des Leonardo da Vinci zugeschriebenen Kunstwerkes „Creator mundi“ durch ein Mitglied der saudischen Herrscherfamilie scheint in diesen Zusammenhang besonders symptomatisch).

Geht es nach Ullrich, dann zwingt die gegenwärtige Neupositionierung von Kunst auch dem, seinen Bestand sichernden Personal, etwa den Kurator*innen, neue Zugänge auf. In dem Maß, in dem immer weniger Menschen in die „ontologischen Tiefen“ der Kunst vordringen wollen, liegen die Chancen in der Kontextualisierung von Kunst, damit in der Herstellung der vielfältigen Bezüge, die eine weltzugewandte Kunstproduktion (und ihre Rezeption) auszeichnet. Paradigmatisch konnte man das bereits im Rahmen der Documenta 14 erleben, deren Auswahlkriterien wesentlich stärker politisch als genuin künstlerisch gerichtet waren. Umso mehr sollte das für ihre Nachfolgeausgabe documenta fifteen gelten, die aus nichteuropäischer Sicht eine Neubestimmung dessen erlauben sollte, was Kunst in einem globalen Kontext jenseits traditioneller Vorstellungen ihrer Autonomie heute noch zu bewirken vermag.

Die massenhafte Nutzung der Sozialen Medien (auch von Künstler*innen) führen jeden einseitig gerichteten Autonomieanspruch ad absurdum – Die Rezipient*innen werden immer wichtiger

Vieles spricht für die Vermutung, dass auch in der aktuellen Phase der gesellschaftlichen Transformation die technologische Entwicklung letztendlich über den Fortbestand eines autonomen Status der Kunst entscheiden wird. Schon jetzt lässt sich unschwer absehen, dass die sogenannten Sozialen Medien neue Modi der Kommunikation durchsetzen, die gravierende Auswirkungen auch im Umgang mit künstlerischen Phänomenen haben. Angelegt auf rasche Interaktion verleihen sie der Kunst den Charakter einer Botschaft, der sich in der Bereitschaft der Zuwendung erfüllt. Damit aber werden die Rezipient*innen immer wichtiger. Als die eigentlichen Triebkräfte einer technologisch getriebenen Emanzipation bleiben ihnen autonome Kunstansprüche so lange fremd, als sich nicht auf aktivistischer Projekte angewandt werden können, die – entgegen grassierender Individualisierung und Isolierung – Gemeinschaften zu starken Überzeugungen bringen und inspirierend für ihren Gestaltungswillen werden. Um derart einen neuen Kunstbegriff zu konstituieren, der daran gemessen wird, wie gut es sich als Auslöser für ökonomisches, soziales und politisches Engagement eignet.

In den zwei abschließenden Kapiteln widmet sich Ullrich dem Misslingen und dem Erfolg post-autonomer Formen von Kunst. Wie viele vor ihm verweist er auf den Initiator einer Kunst, die sich selbst in Frage stellt, damit auf Marcel Duchamp, der bereits vor mehr als hundert Jahren die bislang herrschende Kunstgeschichte in Frage gestellt hat: Als einem stilbildenden Störenfried gelang es ihm mit seinem Readymade „Fountain“ bereits 1917, alle bislang vorherrschenden Selbstverständnisse des Kunstbetriebs in Frage zu stellen. Mit ihm war der Künstler geboren, der nicht mehr weiß, „was er tut und warum er es tut“. Und sich damit – wenn auch unbewusst – völlig der Interpretation seiner Umgebung überantwortet.

Mit seinem zum Artefakt transformierten Pissoir verwies Duchamp auf einen kategorialen Unterschied zwischen künstlerischer Absicht und ihrer Verwirklichung, den nur mehr der*die Betrachter*in zu überwinden vermag. Ihm*ihr ist es als neues Subjekt des Kunstbetriebs auferlegt, das Werk zu entschlüsseln. Ihm*ihr kommt die Aufgabe zu, die Verbindung zur äußeren Welt herzustellen und der künstlerischen Hervorbringung die Bedeutung zu verleihen, die potentiell in ihr steckt. Entgegen allen autonomen Ansprüchen leisten seither er*sie den entscheidenden Beitrag zum „schöpferischen Akt“ von Kunst, der das zu explizieren vermag, was bereits im Werk (versteckt) steckt.

Autonomie als Versuch des Machterhalts

Unter Verdacht gerät damit nicht nur die Autorschaft des Künstlers*der Künstlerin, sondern auch ein Werkbegriff, der sich zunehmend als eine Form der Ausbeutung und Enteignung der Rezipient*innen erweist. Wenn sich in den traditionellen Settings der Wahrnehmung autonomer Kunst die Rezipient*innen devot und nicht eigenmächtig verhalten sollten, dann liegt darin eine überkommene Machtasymmetrie, die den Ansprüchen einer Vielfaltsgesellschaft immer weniger entspricht.

Auf diese Weise richtet sich die Aufwertung der Rezipient*innen gegen die bestehenden Beharrungskräfte zur Aufrechterhaltung eines Rechts des Stärkeren, mit dem ein exzessiver Individualismus einzelner Künstler*innen den Fährnissen zunehmender Interessenskonflikte entzogen werden soll. Um so gegen alle Evidenz Kunst nochmals als einen Freiraum zu konstituieren, in dem einige wenige Begünstigte liberaler Demokratien ihre Freiheiten in exzessiver Form auszuleben vermögen, und sei es an Orten, an denen es undemokratisch zugeht und wo haltlos diskriminiert werden darf.

Vieles spricht also dafür, dass der Anspruch der Autonomie der Kunst nach mehr als hundert Jahren avantgardistischer Versuche, Kunst und Leben aufeinander zu beziehen, zu einem nicht mehr legitimierbaren Machtanspruch verkommen ist, deren Vertreter*innen für sich beanspruchen, die Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufrechterhalten und – zum eigenen Vorteil – um fast jeden Preis verteidigen zu müssen.

Entlang einer sehr selektiven Auswahl verweist Ullrich am Ende seiner Überlegungen auf künstlerische Aneignungsstrategien, die bislang ausgeschlossene Mitglieder sozialer Gruppen ins Zentrum des künstlerischen Interesses rücken, ohne deren Qualitätsansprüche im Detail zu untersuchen. Dazu gehören durchaus traditionelle Kunstwerke wie das von Kerry James Marshall „Past Times“, mit dem klischeehaft abwertende Fremdzuschreibungen als Quelle selbstbewusster Ansprüche aufgewertet werden sollen. Auch die Versuche von Beyoncé & Jay-Z, im Rahmen ihrer Performance von Apeshit von The Carters den Louvre von seiner traditionellen Zuschreibung zu befreien um so eine neue Verknüpfung von High und Pop zu ermöglichen, dürfen da nicht fehlen.

Die vielfältigen Versuche hingegen, der Kunst – jenseits autonomer Ansprüche – als Beitrag zu politischem Aktivismus neue Relevanz zu verleihen, bleiben weitgehend ausgeklammert. Im von Ullrich skizzierten postautonomen Zeitalter siegt der Hang zur Unterwerfung unter das Marktgeschehen gegenüber aktuellen Versuchen, der Kunst im Zuge der neuen politischen Kämpfe noch einmal besondere Relevanz zu verleihen. Und macht vergessen, welch ungehobenen (wenn auch nicht unproblematischen) Potentiale in der Einbeziehung von Kunst in der Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Zusammenlebens liegen, weit über die engen Grenzen eines autonom verfassten Kunstbetriebs hinaus.

Spätestens mit diesen Versuchen spüren wir, dass das emanzipatorische Potential, das einst im Anspruch der Autonomie der Künste gelegen sein mag, an sein (vorläufiges) Ende geraten ist. In seinem Essay “Die Kunst ist frei? – Eine Streitschrift für Kunstautonomie“ hat zuletzt der israelische Historiker Moshe Zuckermann ein Vermittlungsangebot gemacht, wonach die Selbständigkeit der Kunst immer im Verhältnis zu dem stünde, was außerhalb von ihr liegt. Damit versucht er außer Streit zu stellen, dass jedes „Außerhalb“ immer auch das „Innerhalb“ jeglichen künstlerischen Tuns beeinflusst. Und wir also, wenn wir über die Zukunft der Kunst reden, um den Kontext nicht herumkommen, in dem Kunst stattfindet.

Nicht nur Teodor Currentzis und Co täte es gut, dieses unhintergehbare Beziehungsverhältnis stärker als bisher in ihre Selbstdarstellung zu integrieren.

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berridraun

berridraun bewertete diesen Eintrag 02.11.2022 10:57:48

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