Ein paar Gedanken zu Fabian Bursteins „Eroberung des Elfenbeinturms – Streitschrift für eine bessere Kultur“

Ein ehemaliger Spitzenbeamter des Unterrichtsressorts sorgte immer wieder für Lacher, wenn er in seinen Reden das System Schule mit dem System Kirche verglichen hat. Provokativ und doch zugleich resigniert verwies er gerne darauf, dass es Schule in ihrer Unreformierbarkeit leicht mit der Kirche aufnehmen könne. Den Kulturbetrieb ließ er bei der Gelegenheit unerwähnt, wohl nicht deshalb, weil dieser ihm leichter reformierbar erschienen wäre, sondern weil er in ihm keine vergleichbare Bedeutung erkennen konnte.

In den letzten 30 Jahren fand eine umfassende Umwälzung nahezu aller Lebensbereiche statt: Wirtschaft, Technologie, Arbeitsformen, Stadtentwicklung und Wohnen, Transport, Energie, Ernährung, auch Wissenschaft oder Medizin haben dramatische Umwälzungen erfahren. Ja selbst im Bereich der Schule wurde vielfach herumgedoktert, freilich ohne dabei die entscheidenden Beharrungskräfte aus der Reserve locken zu können.

Nur der Kulturbereich schien bislang von diesen grundstürzenden Transformationsprozessen weitgehend unbeeindruckt. Vor allem die großen staatlich geführten Betriebe verhalten sich bis heute so, als sei das 19. Jahrhundert noch zu keinem Ende gekommen. Ihren Akteur*innen gelingt es immer wieder, die Diskussion in der Öffentlichkeit auf ihre Bestandsinteressen zu reduzieren. Diese würden durch die aktuellen Krisenerscheinungen in besonderer Weise gefährdet. Dagegen sei es die Aufgabe von Staat und Gesellschaft, einen abgesicherten Fortbestand gegen Konkurrenz der Freizeitindustrie und damit verbundenem Publikumsschwund, Erhöhung der Betriebskosten, Sinken der Mittelzufuhr zu verteidigen. Die Beiträge zur nachhaltigen Veränderung der Betriebsstrukturen, in der Absicht, den aktuellen gesellschaftspolitischen Herausforderungen eine neue kulturpolitische Agenda entgegenzusetzen, bleiben hingegen marginal.

Die Liste derer, die mit ihren Rammböcken die Tür zur Festung Kulturbetrieb öffnen wollten, ist lang

Gegen diese, nicht erst seit gestern grassierende Präpotenz struktureller Unveränderbarkeit gab es immer wieder großes Aufbegehren: So in den 1970er Jahren, wo sich vielfältige Gegen- und Subkultur-Bewegungen auf die Suche nach Alternativen gemacht haben. In ihrer schroffen Oppositionshaltung wandten sie sich gegen einen erstarrten Hochkulturbetrieb, in der Hoffnung, damit das Feld der Kultur auf alle Lebensbereiche möglichst aller Menschen auszweiten zu können. Die Antwort des Systems war Abwehr, Abwertung und in der Folge eine zumindest partielle Integration mit den Mitteln einer ausdifferenzierten Förderpraxis. Mit dem Ergebnis, dass die meisten alternativen Initiativen über den Weg ihrer „Professionalisierung“ ihren Frieden mit dem Betrieb geschlossen haben, in dem sie sich der Handlungs- und Verwertungslogik der ehedem bekämpften Leitbetriebe unterwarfen.

Auch theoretisch gab es manches Anrennen. Der französische Komponist und Dirigent Pierre Boulez wollte schon in den 1970er Jahren die Opernhäuser in die Luft gesprengt sehen. Zu Beginn der 2010er Jahre platzte den vier Insidern Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz der Kragen und sie ließen den großen „Kulturinfarkt“ konstatieren. Der Sturm der Entrüstung im kulturellen Establishment über die Verräter war groß. Um bald danach wieder den Mantel des Schweigens drüber zu legen. Geändert hat sich wenig, auch nicht, als die Autoren zehn Jahre später ihren Befund in Grundzügen wiederholt haben.

In Österreich kann man länger zurückschauen: Bereits 1991 verfasste Werner Pleschberger, ein geschasster Mitarbeiter der Wiener Kulturstadträtin Ursula Pasterk nach seinem Ausscheiden aus seinem Amt ein Pamphlet mit dem Titel „Vorsicht Politiker!“. Darin schrieb er sich – ziemlich ressentimentgeladen – all seine kulturpolitischen Frustrationen von der Seele. Auch in diesem Fall waren die Reaktionen selbst in der Fachöffentlichkeit – gelinde gesagt – sehr überschaubar. Und manche kulturpolitischen Provokationen habe ich durch die Jahre auf meinem Blog selbst lanciert, in der Hoffnung, produktive Kontroversen in Gang setzen zu können.

Von Bewahrer*innen, Zweifler*innen und Erneuer*innen

In diesen Tagen findet sich der Kulturbetrieb inmitten einer wachsenden Unsicherheit. Fast täglich dringen neue Hiobsbotschaften an die Öffentlichkeit, die allesamt von einem zunehmend beunruhigenden Spannungsverhältnis zeugen: Da sind auf der einen Seite die defensiven Systembewahrer*innen, die nicht müde werden zu behaupten, der einzig mögliche Weg führe zurück in eine bessere Vergangenheit, auch wenn diese so nie existiert hat.

Gleichzeitig verstetigt sich selbst beim letzten Komparsen der Eindruck, dass früher oder später würde kein Stein auf dem anderen bleiben wird. Wie aber eine neue Architektur auf den Ruinen des Kulturbetriebs aussehen könnte, darüber herrscht – von ein paar kosmetischen Operationen abgesehen – nach wie vor ängstliches Schweigen.

In diese gespannte Ruhe wirft nun einer seinen ganzen Zorn in die Arena, in der Hoffnung, damit die kreativen Potentiale zu ermutigen, ungesichertes Neuland zu betreten. Der Autor Fabian Burstein, Kenner der österreichischen Kulturpolitik und als Kulturmanager vorwiegend in Deutschland tätig, hat eine Streitschrift mit dem Titel „Eroberung des Elfenbeinturms – Streitschrift für eine bessere Kultur“ im Atelier-Verlag veröffentlicht.

Seine Intention ist klar: Jetzt oder nie, lautet seine Devise, in der Hoffnung, mit seiner vehementen Streitschrift auf einen seiner Einschätzung nach völlig kaputtem Kulturbetrieb aus einer externen Beobachterrolle noch einmal kathartisch einwirken zu können. Mit der konkreten Benennung von Machtmissbrauch, von Macho-Kultur und Gutsherrendenken samt zugehörigen Namen will er einen längst fälligen Befreiungsschlag auslösen, in der Hoffnung, damit die bislang gefesselten Kräfte der Erneuerung freizusetzen.

In seinem Furor kommt Burstein recht unsystematisch daher. Wichtige kulturpolitische Themen wie Diversität, Neokolonialismus und Kulturelles Erbe, das Verhältnis von Markt und Staat oder Kulturföderalismus stehen nicht auf seiner Agenda. Immerhin versucht er zu Beginn, seinen eigenen Kulturbegriff zu spezifizieren und endet doch rasch bei der geltenden UNESCO-Definition zu landen, wonach „alles Kultur“ wäre.

Im weiteren Verlauf seiner Auslassungen findet er dann zu einer überlegenswerten und wohl auch handlungsleitenden Kultur-Definition. Dieser folgend handle es sich bei „Kultur (um einen) Rahmen, in dem wir gesellschaftlich relevante Themen mit künstlerischen Mitteln verhandeln. Dabei bekennen wir uns dazu, dass die daraus resultierenden Inhalte für alle Teile der Bevölkerung verständlich sein sollten.“

Ungeachtet dessen zielt sein Angriff nicht auf einen breiten, mehr oder weniger demokratisch gefassten Kulturbegriff, sondern auf den staatlich hoch alimentierten Kunst- und Kulturbetrieb, der sich von den dynamisch sich weiterentwickelnden Lebenswirklichkeiten von immer mehr Menschen immer weiter entfernen würde. Bursteins zentrale Forderung läuft darauf hinaus, den Kulturbetrieb, der sich nur zu gerne unter der Käseglocke gesellschaftlicher Unverantwortlichkeit verortet, in die Pflicht zu nehmen, sich die Prinzipien einer demokratisch geprägten Gesellschaft zu eigen zu machen.

Dafür ist ihm fast jedes Mittel recht, etwa wenn er behauptet, dass die „Kultur“ in der Verfassung stünde. Nein, „Kultur“ steht nicht in der Verfassung. In der Verfassung steht die Verpflichtung des Staates, einige Kultureinrichtungen wie die Bundestheater und Bundesmuseen zu betreiben. Ansonsten gilt Art. 15, wonach alle nicht explizit angeführten Angelegenheiten Ländersache wären, eine Formulierung, aus der – Bundeskunstförderungesetzt hin oder her – lange Zeit eine „Kulturhoheit der Länder“ abgeleitet haben.

Über unverständliche Phrasen, die unangreifbar machen sollen

Eine zentrale Verteidigungsstrategie des etablierten Kulturbetriebs erkennt Burstein in der Herstellung eines „hohlen Phrasen-Overkill“ der einen Gutteil der im Kulturbereich tätigen Kräfte binden würde. Damit wollen die privilegierten Akteur*innen sicherstellen, dass – entgegen jeder noch so radikalen Rhetorik – „nichts passiert“. Eine daraus resultierende „Überintellektualisierung“ des manageriellen Gehäuses habe zu einer hermetisch abgeriegelten Blase von Eingeweihten geführt, die versuchen würden, sich radikal vom großen Rest der Gesellschaft abzugrenzen. Allfällige Vermittlungsinitiativen sind ihm in diesem Zusammenhang bestenfalls Alibihandlungen.

Der Vorteil für die Blasenbewohner*innen liegt für Burstein auf der Hand: Sie bewohnen eine – im Vergleich zu anderen Ländern – üppig ausgestattete Komfortzone. Diese ermöglicht das Ausreizen beliebiger Ermessensspielräume, die nur um den Preis des Kunstbanausentums beeinsprucht werden können. Anders herum: Jede*r, der*die mit dem Künstler*innen-Ausweis wachelt, könne – weitgehend unbeeinsprucht von all denen, die sich nicht in der Lage sehen, ähnliche Diskurshöhen zu erklimmen – ohne Rechtefertigungszwang tun und lassen was er oder sie wolle. Als konkretes Beispiel nennt Burstein die Bestellung des kroatischen Kuratorinnen-Teams Nataša Ilić, Ivet Ćurlin & Sabina Sabolović für die Leitung der Kunsthalle Wien, das nach einer diskursiven Eruption in Sachen Diversität weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden ist.

Künstlerische Autonomie als Strategie der Verachtung des Publikums

Der Autor sieht darin eine radikale Form des Sich-Entziehens, darüber hinaus den Ausdruck einer überheblichen Skepsis, wenn nicht sogar Verachtung gegenüber dem Publikum. Vom Hochsitz der Ausgewähltheit können Steuerzahler*innen ebenso wie der Kulturpolitik und -verwaltung, deren Gestaltungswille ebenso wie Kontrollfunktion auf diese Weise ad absurdum geführt werden. Burstein sieht hier ein falsches, weil überkommenes Verständnis von künstlerischer Autonomie am Werk, deren Verteidigung in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in der eine Reihe von Altnazis den Kulturbetrieb bestimmt hätten, durchaus ihre Berechtigung gehabt hätten. Heute aber hätte eine zynische Haltung der Akteur*innen überhandgenommen, um niemandem verantwortlich sein zu müssen außer sich selbst: Was ausschließlich zählen würde, das sei ein selbstreferentielles künstlerisches Ich, das erst gar nicht mehr versuchen würde, Menschen außerhalb der Blase zu inspirieren, zu berühren oder zu erregen.

Auf der Grundlage dieser Analyse präsentiert Burstein eine „Bilanz des Grauens“; damit eine Auflistung einer Reihe von Skandalen, die den Kulturbetrieb in den letzten Jahren erschüttert haben, ohne dass dies zu nachhaltigen Veränderungen geführt hätte. Der Autor bringt lustvoll die ganze Ahnenreihe aus Noevers, Matts, Hartmanns oder Kuhns in Erinnerung und macht sie als Symptomträger eines dekadenten Betriebs kenntlich, dem heute bestenfalls noch abschreckende Bedeutung zukommt. Heftige Kritik erfahren auch die institutionellen Rahmenbedingungen der großen Kulturtanker samt ihrem Personal: So die Bundestheater-Holding, mehr noch die Wien-Holding, die sich ihm zufolge als unübersichtliches Firmengeflecht erwiesen hätte, in dem (wie zuletzt am Beispiel der Bestellung der Leitung des Kunsthauses) parteipolitische Loyalitäten über fachliche Expertise gestellt würden.

Das beliebte Spiel um Personen

Burstein wagt auch Einschätzungen einzelner Kulturpolitiker*innen, wobei die visionslose Pragmatikerin Andrea Mayer überraschend gut wegkommt, während sich Veronika Kaup-Hasler den Vorwurf gefallen lassen muss, sich auf die Funktion einer Veranstalterin mediokrer Projekte am Stadtrand Wiens zu beschränken. Die Ausklammerung Andrea Mayers in der kollektiven negativen Zuschreibung mag vielleicht eigene Jobambitionen (deren Scheitern Burstein ebenso freimütig wie mutig schildert) im Umfeld der Kunst- und Kultursektion des BKA begünstigen. Die fast schon demonstrative Untätigkeit, die die Kunst- und Kulturstaatssekretärin in der Behandlung des Regierungsprojektes „Kunst- und Kulturstrategie des Bundes“ an den Tag legt, könnte aber auch als Ausdruck völliger Orientierungslosigkeit interpretiert werden, um damit genau der Mut- und Perspektivenlosigkeit zu entsprechen, die Burstein innerhalb des Kulturbetriebs ortet.

Ohne Bezug zu einem politischen Projekt „zur Verbesserung der Gesellschaft“ agiert der Kulturbetrieb im luftleeren Raum

Grundsätzlicher wird der Autor, wenn es um strukturelle Fragen des Verhältnisses von Politik und Kulturbetrieb geht. Wie viele Beobachter*innen ortet er eine umfassende Entideologisierung vor allem der demokratischen politischen Kräfte. Das Ergebnis sei ein Verlust gesellschaftlicher Perspektiven in weiten Teilen der Gesellschaft. Die zunehmende Inhaltlosigkeit von Politik habe aber auch gravierende Auswirkungen auf den Kulturbetrieb selbst, dem auf diese Weise die Grundlagen für ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt (allen das Wort „Fortschritt“ ist mittlerweile anrüchig geworden) entzogen würden. Stattdessen fänden sich die Akteur*innen des Kulturbetriebs in einem luftleeren Raum wieder, der immer weniger Orientierung bietet. Die Wortführer*innen dieser Entideologisierung betrieben eine inhaltliche Entleerung jeglicher kulturpolitischer Ansprüche und begründeten dies mit ihrer Einschätzung, ein nicht unmittelbar ökonomisierbarer Anspruch von Kulturpolitik sei weitgehend irrelevant geworden, mit Kultur ließen sich heute keine Wahlen mehr gewinnen.

Dementgegen konstatiert Burstein, dass die politische Rechte als einzige gesellschaftsmächtige Kraft eine Repolitisierung vorantreiben würde, um auf Kultur als durchaus wichtigen Faktor zu setzen. Mit öffentlichen Diffamierungen wie der Plakataktion „Lieben Sie Jelinek, Scholten, Peymann, Pasterk…“ sei die FPÖ bereits 1995 zur Ansicht gelangt, dass mit Kultur sehr wohl Wahlen gewonnen werden können. Burstein outet sich bei der Gelegenheit als ein vehementer Befürworter eines (linken) Populismus. Von einem solchen erwartet er sich, Konfliktherde offensiv zu benennen und mit einem neuen, humanistisch geprägten Narrativ auszustatten.

Burstein schreckt auch nicht vor so mancher Desillusionierung zurück, etwa wenn er etwa eine „falsche Solidarität einer sinnentleerten Linken“ im Rahmen der Initiative „Je suis Charlie“ beklagt. Er sieht darin vor allem eine selbstverklärende Form des Pseudoaktivismus einer politisch darniederliegenden Kulturszene, um ihr gesellschaftliches Standing zu verbessern ohne auch nur einen Moment daran zu denken, was es „wirklich“ bedeutet, verfolgt und als Teil der Solidargemeinschaft umgebracht zu werden.

Das kulturpolitische Personal zwischen Fachexpertise und Loyalität

Für mich besonders erhellend waren Bursteins Schilderungen seiner Erfahrungen im Bereich der kulturpolitischen Praxis. Ich selbst habe Zeit meines beruflichen Werdegangs viele kulturpolitische Fachveranstaltungen besucht; manche habe ich selbst ausgerichtet (wie zuletzt “Unsere Kultur geht auf keine Kuhhaut”).

Der auffallendste Unterschied in dem Zusammensetzung (und damit in der Qualität der Auseinandersetzung) bestand für mich darin, dass ich in deutschen Settings immer wieder auf eine Vielzahl interessierter, kundiger und in der Sache beschlagener Kultpolitiker*innen getroffen bin. Die meisten von ihnen schienen auf die Gelegenheit zu warten, mit Theoretiker*innen und Praktiker*innen des Kulturbetriebs ins Gespräch zu kommen und neugierig auf ihre Haltungen und Positionen zu reagieren.

Im Vergleich dazu stellte die Anwesenheit von für die Kultur verantwortlicher Politiker*innen in Österreich immer schon die große Ausnahme dar. Auf Einladung ließen sie sich nur zu gerne entschuldigen. Zu groß die Befürchtung, von Förderwerber*innen belästigt zu werden. Und wenn dann doch welche aufkreuzten, dann beschränkten sich ihre Auftritte auf vorgefasste Redebeiträge und vermieden es tunlichst, sich auf Gespräche mit den Fachleuten einzulassen.

In seinem Pamphlet bestätigt mich Burstein in der Annahme, dass in Deutschland Kulturpolitiker*innen mittlerweile auf Grund ihrer fachlichen Qualifikation in ihre Ämter berufen werden. Als solche wissen sie, wovon sie reden und brauchen das Gespräch mit den anderen Akteur*innengruppen im Kulturbereich nicht zu scheuen.

In Österreich hingegen zählen ungebrochen nicht das Fachwissen, sondern (partei-)politische Loyalitäten als die entscheidenden Auswahl-Kriterien. Das führt dazu, dass die meisten Bestellten nicht wissen, wovon sie reden. Sie verstehen sich in erster Linie als parteipolitische Platzhalter und entscheiden nach Opportunitäten der jeweiligen Parteiführung. Als Erfüllungsgehilfen in einem streng hierarchischen Zusammenhang fürchten sie sich vor ergebnisoffenen Gesprächen mit einem fachlichen Gegenüber, umso mehr, wenn dieses nicht dieselbe politische Loyalität aufweist.

Man muss nicht so weit gehen wie Robert Menasse, der in seinem letzten Roman “Die Hauptstadt” die politische und bürokratische Befassung mit kulturpolitischen Angelegenheiten als eine Strafmaßnahme darstellt, die Bewerber*innen nur dann annehmen, wenn ihnen wirklich alle anderen Ressorts versperrt sind. Und so herrscht im Bereich der Kulturpolitik ein “Merrit Order Prinzip”, freilich nicht nach oben, sondern nach unten: Danach richtet sich der Stellenwert kulturpolitischer Positionen nicht nach dem*der am besten, sondern nach dem*der am schlechtesten Qualifizierten. Weil der*die in Ermangelung fachlicher Kenntnisse am wenigsten droht, eine eigene, sachlich begründete Haltung einzubringen und am meisten von Loyalitätsbeziehungen abhängt. Dass ein solch schwaches Standing keine gute Voraussetzung bildet, um in der Konkurrenz mit Vertreter*innen anderer, zum Teil weit mächtigerer Politikfelder zu bestehen, versteht sich fast schon von selbst.

Die Jugend wird es schon richten?

Leidenschaftlich spricht sich Burstein für einen umfassenden Neubeginn im Bereich der Kulturellen Bildung aus. Dabei ufert er freilich aus, wenn er zu einer Generalkritik der Bildungspolitik ansetzt, um sich in Themen wie PISA, Zentralmatura oder Lehrerbild zu verlieren. Was beim Leser schon zum Kurzschluss führen kann, dass die Schule – einem beliebten Klischee folgend – auch für ihn ungebrochen die zentrale gesellschaftliche Agentur sein soll, die junge Menschen auf ihre Mitwirkung am kulturellen Leben vorbereiten soll (wer kennt sie nicht, die unzähligen Sager, alles müsse in der Schule beginnen, mehr Musik- und Kunstunterricht,….). Gleichzeitig konstatiert er, dass wie im Kulturbereich auch im Bildungsbereich gerade alles den Bach hinuntergeht. Was bleibt, das ist das vehemente Plädoyer, Kulturelle Bildung (zusammen mit Digitalisierung) aus ihrer randständigen Fächerzuschreibung zu befreien und als eine Querschnittsmaterie in allen Aspekten des schulischen Unterrichts zu verhandeln.

Zum Ausdruck kommt hier auch eine große Hoffnung auf eine nachwachsende Generation, die er insbesondere im Bereich der Digitalisierung nicht als „Schutzbefohlene“, sondern als „Vorbilder“ gesehen wissen will. In dem Maße, in dem eine in die Jahre gekommene Generation (die er mit einer Pervertierung der Aufbruchsstimmung der 68er Bewegung identifiziert) sich auf die Verteidigung des Erreichten beschränken würde, setzt er auf eine „unverbrauchte Jugend“, deren Aufgabe er darin sieht, den Betrieb nochmals vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dass diese ihrerseits von klein auf den Vorgaben einer mächtigen Kulturindustrie präformiert wird, lässt er dabei unter den Tisch fallen. Immerhin weist er am Beispiel Napster punktuell nach, wie groß die Einflüsse der großen transnationalen Player auf den Kulturbetrieb und damit auch auf das kulturelle Verhalten junger Menschen sind.

Das kulturelle Verhalten junger Menschen kann Burstein sehr anschaulich schildern. Er sieht in jungen Menschen den Inbegriff an Innovation als unkalkulierbare Form von Leidenschaft. Diese gälte es, aus den Zwängen eines vornehmlich von Alten geführten Betriebs zu befreien. Dazu gehört zuallererst die Einsicht der Entscheidungsträger*innen, dass sich die Mitwirkung am kulturellen Leben mittlerweile weit mehr an den Verkehrsformen in digitalen Räumen als in traditionellen Kulturräumen orientiert.

Der Kulturbetrieb habe bislang sträflich verabsäumt, diesem Phänomen Rechnung zu tragen: So kursiere innerhalb des Betriebs nach wie vor die Einschätzung, ein virtuelles Kulturerlebnis könne nie und niemals an ein haptisches heranreichen, eine Sichtweise, die von jungen Menschen entlang ihres „digitalen Livestyles“ längst umfassend falsifiziert ist. Innerhalb der altehrwürdigen Hallen des Kulturbetriebs sei Digitalisierung bislang vor allem als ein weiteres Marketing-Tool verstanden worden. Die Idee, mit Hilfe dieser Technologie Kulturstätten zugunsten neuer dezentraler Räume neu aufzustellen, scheint bislang auf nur wenig Gegenliebe zu stoßen.

Man könnte die Erzählung, was in Bursteins Kulturwelt alles schiefläuft, noch lange fortsetzen: „Kenn ma ned, brauch ma ned, hamma schon!“ ist ihm dafür die nur allzu bekannte Metapher. Entsprechend schwer fällt es ihm, gegen Ende seiner Streitschrift noch einmal die Kurve zu kratzen, um positive Entwicklungsszenarien anzubieten.

Und wo bleibt das Positive?

Mit der Frage „Warum nicht?“ wendet er sich vor allem an all diejenigen, die in die täglichen Erfahrungen innerhalb des Betriebes den Keim des Zweifels gesät haben; sie sich aber außerstande sehen, im Rahmen der herrschenden steil hierarchisch verfassten Betriebsstrategie „Divide et Impera“ initiativ zu werden. Ihnen will er den Begriff der Solidarität als einen zentralen Kulturbegriff in Erinnerung rufen, um gemeinsam eine neue gesellschaftliche Agenda zu entwickeln und umzusetzen.

Wie so viele Ermutigungen leidet auch Bursteins Zukunftskonzept an einem gerüttelten Maß an Idealismus, wenn er zu mehr Neugierde, dazu Offenheit, Respekt aber auch Pragmatismus und Selbstwirksamkeit aufruft.

In Bursteins Beschwörungsrhetorik (die er an anderer Stelle selbst heftig kritisiert) gehört auch der Wunsch nach einer Transformation des Künstler*innen-Bildes, in dem nicht mehr ausschließlich das künstlerische Ich im Vordergrund steht, sondern das künstlerische Ich im Wechselspiel mit dem Publikum. Nun lassen sich vor allem im Bereich der universitären Ausbildung diesbezüglich bereits seit längerem eine Reihe von Pilotprojekten ausmachen. Die von den Curriculum-Entwickler*innen kommende Gegenfrage aber kann auch Burstein nicht einfach vom Tisch wegwischen, wie damit umzugehen sei, wenn sich künstlerische Tätigkeit immer durch Narzissmus auszeichnet. Und angehende Künstler*innen nicht einfach auf Knopfdruck umgepolt werden können.

Zum Unterschied zu vielen Beispielen, was im Kulturbetrieb schlecht läuft, macht Burstein den*die Leser*in mit nur wenigen konkreten Gegenmodellen vertraut. Stattdessen zeichnet er die Grundzüge einer Utopie „Applaus 2024“, die sich freilich in recht allgemeinen Forderungen wie „Kulturpolitik vom schöngeistigen Nischen- zum staatstragenden Demokratiethema“ weiterzuentwickeln, erschöpfen. Zu entscheiden, wer da was wie wann tun soll, um so etwas wie eine im Titel versprochene „bessere Kultur zu kommen“ das bleibt weitgehend den gutwilligen Rezipient*innen überlassen. Das gilt auch für eine Reihe von „Denkanstößen für einen reformierten Kulturbetrieb“, die den Abschluss der Streitschrift bilden.

Ich gebe zu, dass mich die Lektüre etwas ratlos zurücklässt. Ich kann den leisen Verdacht nicht unterdrücken, dass sich hier ein kulturpolitischer Akteur in einem Akt der Psychohygiene in einem Rundumschlag von all seinen, in den Jahren zugefügten Wunden frei zu schreiben versucht und seinen Kolleg*innen das in einem Akt der Destruktion ohne Rücksicht auf Verluste (auch nicht der eigenen) hat wissen lassen wollen.

Und was machen wir, wenn sich der Kulturbetrieb als unreformierbar erweist? – Und das immer weniger Menschen irritiert?

Geht es nach der undifferenzierten Drastik seiner Schilderungen, dann scheint die Schlussfolgerung nicht ganz weit hergeholt, dass dieser Kulturbetrieb – wie er selbst schreibt – einfach kaputt und als solcher nicht zu retten ist. Dass wir stattdessen nur zu warten brauchen, bis er in sich zusammenbricht, um ihn auf seinen Ruinen neu zu denken. Das erscheint heute umso wahrscheinlicher, als wir täglich deutlicher spüren, dass sich die ganze Welt in einer unvorhersehbaren Umbruchsphase befindet und damit das, was Burstein an Kulturbetrieblichkeit schildert, nach Jahren der Erfolgsgeschichte ein dekadentes Endstadium für einen kleinen Kreis an Tänzer*innen, die sich um ein illusorisches Goldenes Kalb drehen, eingetreten ist.

Ich denke, es hätte der Streitschrift gut getan, anhand einiger konkreter Transformationsprozesse – wie sie gerade von der Deutschen Kulturpolitischen Gesellschaft gestiftet werden – anschaulich zu machen, dass eine „andere Zukunft“ möglich ist. All diese Bemühungen verweisen immerhin darauf, dass sich – entgegen Bursteins Untergangsszenario – eine Reihe von, ja zum Teil noch sehr schwachen und isolierten Gegenbewegungen abzeichnen. Deren Initiator*innen hätten es sich verdient hätten – durchaus im Sinn der von Burstein beschworenen neuen Solidarität – gleichberechtigte Berücksichtigung zu finden.

Fabian Burstein persönlich ist sehr zu wünschen, dass es ihm nicht so geht wie allen vor ihm, die sich sehr weit aus dem Fenster gelehnt haben, um seitens des angegriffenen Kulturbetriebs in einer Mischung aus Erbostheit, Niederschweigen und Ausgrenzung wirkungslos gemacht zu werden.

Seine Provokationen sind es wert, aufgegriffen zu werden, um damit den kulturpolitischen Diskurs zu intensivieren. Sich in einem Akt der positiven Wendung zu beteiligen, auch das wäre ein Zeichen gelebter Solidarität.

Nächste Gelegenheit dazu: Am 28.September gibt es in der Wiener Hauptbücherei ein Publikumsgespräch zum Buch. Mehr dazu auf seiner Website.

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